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Erscheinungsdatum: 01. Mai 2025

Für eine starke Demokratieforschung in Europa

Timon Gremmels
Demokratie bedeutet mehr als Wahlen, bürgerschaftliches Engagement und politische Reden – demokratischer Austausch findet tagtäglich in unserem Alltag statt. Doch unsere Demokratie gerät immer stärker unter Druck. Jetzt sei der Moment, um zu handeln, meint Timon Gremmels. Die Europäische Kommission habe die einzigartige Chance, Demokratieforschung mit voller Kraft zu fördern – und damit Europas Zukunft und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.

Demokratien stehen weltweit unter immensem Druck. Das Vertrauen in staatliches Handeln, in politische Akteure, in staatliche Institutionen, in Regierungen und Parlamente schwindet vielerorts, auch in der EU. Der politische Diskurs im Netz geht zunehmend einher mit einer Verrohung der Sprache, die den politischen Gegner grenzenlos diffamiert und angreift. Das bekommt auch die EU zu spüren. Die Staatengemeinschaft ist zum Hassobjekt der Demokratiefeinde geworden. So werden Verschwörungstheorien bewusst lanciert und sind Teil des täglichen Angriffs – auf Mandatsträgerinnen und -träger, auf unsere Demokratie, auf den Kern unserer Werte.

Die Europäische Union muss sich wehren. Sie muss legislativ tätig werden, wie es die Leitlinien der Kommissionspräsidentin bereits vorsehen. Sie muss aber auch im Bereich der Forschungs- und Innovationspolitik aktiv und wehrhaft reagieren und die Festigung der Demokratie zu einer absoluten Priorität erklären. Ein starkes Wissensfundament mit gefestigten Analysen zu gegenwärtigen Erosionsprozessen könnte der Stärkung der Demokratie insgesamt dienen.

Wichtige Forschungsfragen sind : Warum und durch welche externen Einflüsse erodiert Vertrauen in staatliche Institutionen, Regierungen, Parlamente? Welche Faktoren – europaweit und international – führen zur Polarisierung von Gesellschaften? Und welche Erkenntnisse können wir über die Entstehung um sich greifender Verschwörungstheorien und Fake News gewinnen, um die bedrohlichen Erosionsprozesse zu kontern?

Hochschulen, Forschungsverbünde und Forschungsinstitute in ganz Europa verfügen dazu über breite Kompetenzen. Es gilt, sie zu bündeln und auszubauen. In Hessen haben wir das Programm „Stärkung der Demokratieforschung Hessen“ aufgelegt, mit dem wir in den nächsten Jahren Demokratieforschung mit hohem Transferpotenzial fördern, um die Demokratie resilient zu machen gegen Polarisierung, Populismus und Extremismus. Wir fördern einen großen interdisziplinären Forschungsverbund mit hohem Transferpotenzial, sondern auch regionale Wissensnetzwerke, die sich der kooperativen Demokratieforschung widmen.

Die EU könnte diesen hochrelevanten Forschungsbereich auf internationaler Ebene mit großer Kraft vorantreiben und damit die Bearbeitung zukunftsweisender Fragestellungen fördern, etwa zum Zusammenhang von KI und Demokratie. Die EU könnte nationale und regionale Forschungsprojekte zusammenführen und Demokratieforschung europäisch ausrichten und über die Grenzen hinweg vernetzen.

Dazu muss das neue EU-Rahmenprogramm zur Forschungsförderung „FP10“ mit einem starken Budget für die Demokratieforschung ausgestattet werden. Dieses Programm wird aktuell neu konzipiert. Die Zeit drängt daher. Die kommenden Wochen werden für die neue Forschungspolitik entscheidend sein – und das für ganze sieben Jahre. Das jetzige Programm Horizont Europa läuft bereits 2027 aus. Die Brüsseler Gesetzesmaschinerie ist informell schon angelaufen, da die Kommission ihren Entwurf für das Nachfolgeprogramm „FP10“ bis Juli vorlegen muss.

Die EU hat jetzt die immense Chance, ihre Demokratieförderpolitik aufzuwerten und dabei sogar weltweite Standards zu setzen: Neben den 27 EU-Mitgliedstaaten könnten sich Forschungseinrichtungen aus rund 20 assoziierten Staaten und vielen weiteren Partnerländern beteiligen, von denen viele mit ähnlichen Angriffen auf ihre liberalen Demokratien und ihre politischen Systeme zu kämpfen haben. Denn Horizont Europa ist weltoffen ausgerichtet. Wer sich im hochselektiven Rahmenprogramm beteiligen kann, bezieht weltweit hoch angesehene Grants, etwa des ERC, und spielt in der ersten Forschungsliga mit.

Die Demokratieforschung auf EU-Ebene muss zur Marke werden. Die geförderten Projekte müssen sichtbar sein und ausstrahlen. Zwar hat die EU unter dem jetzigen Förderrahmenprogramm Horizont Europa bereits relevante Demokratiethemen aufgegriffen und eine Vernetzung von Forschenden ermöglicht, etwa mit der Plattform „Nets4Dem“ und einem Arbeitsprogramm für 2025, das sich in ein breites Themenspektrum vortastet. Doch die Kommission muss der Demokratieforschung dringend neuen Schwung, eine noch internationalere Ausrichtung und ein deutlich ambitionierteres Budget verleihen. Das Gegenteil ist zurzeit Praxis: Zuletzt hat die Kommission im Demokratiekapitel der zweiten Fördersäule von Horizont Europa, „Cluster 2“, trotz der aktuellen multiplen Krisen den Rotstift angesetzt – für das Arbeitsprogramm 2025 sollen nach jetzigen Planungen mehrere Millionen Euro gekürzt und Projekte verschoben werden. Das ist eindeutig der falsche Weg.

Die EU muss im neuen Förderrahmen „FP10“ die Demokratieforschung als Priorität setzten. Und das nicht nach dem Muster der bereits vorhandenen „Mission Areas“ mit komplexen und bürokratischen Governance-Strukturen. Viel besser wäre ein theorie- und praxisorientierter EU-Innovationsauftrag, der Vernetzung ermöglicht und in verschiedenen Bereichen und Clustern interdisziplinär Fördercalls anbietet. Die von der EU geförderten Europäischen Hochschulallianzen können hier gewiss interessante Impulse setzen, auch für die praxisnahe Forschung: So ging im Jahr 2023 unter hessischer Federführung mit ‚EUPeace‘ (European University for Peace, Justice, and Inclusive Societies) eine Europäische Hochschulallianz an den Start – Demokratieforschung und -förderung vor Ort und gemeinsam, mit Partnern über die EU-Grenzen hinaus, mit Einrichtungen auch aus Bosnien-Herzegowina, Kosovo und der Türkei.

Zur Stärkung der Demokratie braucht es anwendungsorientierte Erkenntnisse und Empfehlungen, die europaweit direkt der Politikberatung dienen. Bürgerinnen und Bürgern sollten dabei einbezogen werden. Zum Beispiel in Demokratie-Reallaboren, in denen wie im Testlabor erforscht wird, wie wir unsere Demokratien festigen können, etwa durch neue Formen politischer Partizipation und generationenübergreifender Projekte, auf allen Stufen der Innovationskette.

Die Kommission darf die einmalige Gelegenheit, die Weichen jetzt richtigzustellen, nicht verstreichen lassen. Gerade, weil sie ihr Mandat den Themen Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit gewidmet hat. Eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit kann nur mit demokratisch gefestigten Gesellschaften und Institutionen gelingen. Um eine Zukunft zu haben, braucht Europa starke Demokratien. Ich bin überzeugt: Starke Demokratieforschung kann hierzu einen großen Beitrag leisten.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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