am vergangenen Dienstag durchbrechen ukrainische Einheiten erstmals bei Balaklija die russischen Verteidigungslinien, am Wochenende erobern sie in rasendem Tempo weite Teile der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine. Die russischen Streitkräfte ziehen sich unsortiert aus wichtigen Logistik-Knotenpunkten wie Isjum zurück, hinterlassen dabei massenhaft Kriegsmaterial. Moskau antwortet mit Raketenangriffen auf die Strom- und Wasserversorgung.
Der Krieg hat eine erstaunliche Wendung genommen. Ein Sieg der Ukraine erscheint auf einmal möglich. Die Frage: Wie reagiert Wladimir Putin – und wie der Westen? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte sogleich weitere schwere Waffen, vor allem Kampfpanzer werden aus Sicht Kiews gebraucht, auch deutsche. Kanzler Olaf Scholz hatte bislang betont, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen. Nun muss er wohl bald die Frage beantworten, ob eine Niederlage Moskaus das Ziel ist.
Putin hat immer noch genügend Möglichkeiten zur weiteren Eskalation des Konflikts. Dazu zählt das AKW Saporischschja, das am Wochenende aus Sicherheitsgründen heruntergefahren wurde. Und dazu zählen die verbliebenen Energielieferungen. Noch ist das Druckmittel so stark, dass die EU-Staaten vor einem Preisdeckel auf russische Gasimporte zurückschrecken. Manuel Berkel bringt Sie nach dem Energieministerrat auf den neuesten Stand.
Die Energiekrise wird auch im Zentrum stehen, wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch zur Lage der EU spricht. Welche Impulse sonst noch von der SOTEU zu erwarten sind, erfahren Sie in meiner Analyse. Mein Kollege Markus Grabitz und ich werden am Donnerstag zudem bei einem Table.Live-Talk sortieren, welche Themen im Herbst auf der EU-Agenda stehen. Diskutieren Sie gerne mit – anmelden können Sie sich hier.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die neue Woche!
Ihre vorläufige Niederlage verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Samstag mit vier Aufzählungszeichen – den Themen für die Kollegiumssitzung am Dienstag in Straßburg: smartem Energiesparen, finanziellen Beiträgen des Energiesektors für Haushalte und Unternehmen, Liquiditätshilfen für Versorger und eine raschere Umsetzung von REPowerEU – wozu auch der schnellere Ausbau erneuerbarer Energien zählt.
Welches Thema aus ihrem Fünf-Punkte-Plan fehlte, twitterte von der Leyen ebenfalls: “Bei den Gaspreisen arbeiten wir weiter an Antworten, die an einen globalen Markt angepasst sind. Das Ziel: niedrigere Preise in Europa bei gleichzeitiger Gewährleistung der Versorgungssicherheit.” Damit räumt die Kommissionspräsidentin ein, vorerst mit ihrem politischen Vorstoß gescheitert zu sein.
Noch am Mittwoch hatte von der Leyen überraschend einen Preisdeckel auf russische Gasimporte vorgeschlagen, um die Manipulationsmöglichkeiten Russlands bei den Gaspreisen zu beenden. Eine solche Obergrenze könne sehr schnell kommen, drohte die EU-Chefin in Richtung Moskau – woraufhin Präsident Wladimir Putin umgehend einen Lieferstopp ankündigte.
Mit dem Aufschub für den Gaspreisdeckel folgt von der Leyen den Bedenken vieler EU-Staaten. Ungarn, Österreich und die Slowakei hatten sich beim Rat der Energieminister am Freitag klar gegen einen solchen Schritt gegenüber Russland ausgesprochen. Auch die tschechische Präsidentschaft wollte von der Leyen nicht folgen und das Thema klein halten. Einige Staaten seien aktuell noch abhängig von russischem Gas und hätten nach eigenen Angaben Schwierigkeiten, alternative Lieferwege zu finden, sagte Energiekommissarin Kadri Simson nach dem Treffen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich Freitagnachmittag ebenfalls dafür ausgesprochen, die Pläne hintanzustellen. “Bei der Frage, was auf dem Gasmarkt geschieht, gibt es noch sehr viele sehr unterschiedliche Vorschläge. Es wäre viel zu früh, jetzt zu sagen: Das und das werden wir tun”, sagte er nach einem Treffen mit Ratspräsident Charles Michel in Berlin.
Scholz verwies auf die Rücksicht der EU-Partner, als sich Deutschland im Frühjahr gegen ein Gasembargo ausgesprochen hatte. Was der Kanzler nicht aussprach: Wie viel Gas mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten im Winter erhalten, hängt auch davon ab, wie viel Energie die deutsche Industrie in den nächsten Monaten einspart. Und von der Bereitschaft der Nachbarn, für Gaslieferungen in einer Mangellage Entschädigungen zu zahlen. Daran scheiterten derzeit Solidaritätsabkommen mit Polen und einer Reihe weiterer Staaten, heißt es in einem aktuellen Bericht des Wirtschaftsministeriums an den Bundestag.
Auch einem Preisdeckel auf sämtliche Gasimporte – etwa aus Norwegen, den USA oder LNG-Lieferungen aus aller Welt – erteilte Scholz zunächst eine Absage. Gefordert hatte dies etwa Belgien. “Wir sollten nicht den letzten Schritt vor dem ersten machen”, sagte der SPD-Politiker dazu. Welche Art von Preislimits beim Gas machbar sind, solle für Deutschland zunächst eine Expertengruppe klären. Die hatte der Koalitionsausschuss mit dem dritten Entlastungspaket angekündigt.
Vom Rat erhielt die Kommission dennoch den Arbeitsauftrag, eine generelle Deckelung zu prüfen. Für Pipeline-Lieferungen von Partnerstaaten setzt von der Leyen eigentlich auf Verhandlungen und einen schnelleren Start der gemeinsamen Beschaffungsplattform.
Beim Flüssiggas ist die Lage deutlich heikler. “Ein genereller Preisdeckel einschließlich der LNG-Importe könnte ein Risiko für die Versorgung darstellen“, warnte Simson. Dafür habe die EU zu wenig Marktmacht. Bei einem zu niedrigen Einkaufspreis europäischer Versorger könnte also wieder mehr Flüssiggas nach Asien verschifft werden.
Nach dem Willen von Scholz sollen zunächst die Vorschläge der Kommission zum Strommarkt diskutiert werden. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte in Brüssel sogar ein zeitliches Limit genannt. Sollte die EU die Abschöpfung hoher Gewinne auf dem Strommarkt nicht schon bis Ende des Jahres realisieren, werde Deutschland die Verbraucher mit einer eigenen Abgabe entlasten.
Dieses Szenario dürfte auch erklären, warum sich ein kleiner Staat wie Litauen gegen die Ratsmehrheit stellt, die den Kommissionsplan für das Abschöpfen von Übergewinnen im Stromhandel eigentlich unterstützt. Dies sei für sein Land eine rote Linie, sagte Energieminister Dainius Kreivys.
Das Abschöpfen von Gewinnen über einer Erlösobergrenze beeinträchtige nicht nur den Terminmarkt für Strom, er zerstöre auch das Level Playing Field auf dem EU-Binnenmarkt. Unternehmen in unterschiedlichen EU-Ländern würden auch unterschiedliche Subventionen erhalten, sagte Kreivys wohl mit Blick auf die Verteilung der Übergewinne.
Je nachdem, welche Art von Kraftwerken unterschiedliche EU-Staaten haben, würden auch die Einnahmen aus der Abschöpfung unterschiedlich hoch ausfallen. Polen mit seinem hohen Anteil an ebenfalls teurer Elektrizität aus Steinkohle fordert daher Eingriffe in den Emissionshandel, um die Strompreise zu drücken. “Die Ausgabe zusätzlicher Emissionsberechtigungen aus der Marktstabilitätsreserve könnte ein Teil der Lösung sein”, fasste der tschechische Minister Jozef Síkela die Diskussion zusammen.
Noch offen ist, ob es in den Mitgliedstaaten eine Mehrheit für verbindliche Stromsparziele geben wird – Polen und Spanien etwa setzen auf Freiwilligkeit. Síkela erwartet eine ähnliche Lösung wie bei dem im Juli beschlossenen Gassparplan – zunächst also freiwillige Vorgaben, die nach einem definierten Mechanismus verbindlich werden. Das Gasvorbild lässt allerdings keinen großen Druck erwarten. Die Niederlande hatten zwar vergangene Woche dafür plädiert, den nächsten Schritt zu gehen. Doch noch gebe es nicht erforderliche Zahl von fünf Mitgliedstaaten für das verpflichtende Gassparziel, berichtete ein ranghoher EU-Diplomat einen Tag vor dem Gipfel.
In dieser Woche will die Kommission konkrete Gesetzentwürfe vorlegen. Síkela versprach einen raschen Beschluss im Rat. Falls nötig werde es noch im September ein weiteres Treffen der Energieminister geben. EU-Diplomaten rechnen jedenfalls mit einer Einigung vor der Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs am 7. Oktober in Prag.
Außerhalb der EU-Blase ist das Kürzel SOTEU kaum jemandem ein Begriff. Innerhalb des Brüsseler Dunstkreises aber wird die Rede zur Lage der (Europäischen) Union durchaus mit Spannung beachtet, setzt sie doch die Agenda für das politische Jahr. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereitet ihre Rede im Straßburger Europaparlament daher sorgfältig vor – seit Monaten sammeln ihre Mitarbeiter Ideen und Material ein, in den Generaldirektionen und auch bei externen Experten.
Der Inhalt der Rede selbst wird streng vertraulich behandelt, bis von der Leyen am Mittwochmorgen um 9 Uhr vor das Plenum tritt. Einiges zeichnet sich aber doch ab.
Energie: Die Strom- und Gaspreiskrise dominiert die politische Agenda, auch von der Leyen kommt um das Thema nicht herum. Viel Neues wird sie am Mittwoch aber wohl nicht mehr zu verkünden haben: Die konkreten Vorschläge für die Notfallmaßnahmen werden bereits am Vortag im College beschlossen und kaum unter Verschluss bleiben. Von der Leyen dürfte daher einen Ausblick geben, welche Maßnahmen mittelfristig für den Energiebinnenmarkt geplant sind und an den Zusammenhalt der EU-Staaten in der Krise appellieren.
Bei ihrem Treffen mit den Fraktionsvorsitzenden am Donnerstag prägte EVP-Chef Manfred Weber dafür den Begriff des “Winters der Solidarität”. Die Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Abgeordneten, Angelika Niebler, fordert zudem, angesichts der enorm hohen Energiepreise alle Gesetzesvorhaben “nochmal auf den Prüfstand zu stellen”, die weiteren Belastungen für Unternehmen bedeuten. Schwer vorstellbar aber, dass sich von der Leyen darauf einlässt und etwa EU-Lieferkettengesetz oder die überarbeitete Industrieemissionsrichtlinie zurückzieht.
Ukraine: Beim Termin mit von der Leyen forderte der Vorsitzende der liberalen Renew-Gruppe, dem Kreml- Narrativ entschieden entgegenzutreten, wonach die Sanktionen den Europäern mehr schadeten als Russland. Angesichts der gesellschaftlichen Spannungen gehe es darum, “die Wahrheit neu zu verankern”, sagte Stéphane Séjourné laut Teilnehmern. Auch von der Leyen dürfte in ihrer Rede betonen, dass die Sanktionen gegen die russische Wirtschaft wirken. Angesichts der jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine sieht sie sich zudem bestätigt in ihrer Unterstützung für Präsident Wolodymyr Selenskyj. Applaus ist ihr gewiss: Im Europaparlament wird diskutiert, dem Präsidenten und seinem Volk den diesjährigen Sacharow-Preis zu verleihen.
EU-Reform: Von der Leyen hatte in ihrer Rede zum Abschluss der Zukunftskonferenz im Mai zugesagt, im September konkrete Initiativen zur Umsetzung der Reformvorschläge der Bürger vorzulegen. Nun muss sie dies einlösen. Die Europaparlamentarier erhoffen sich Unterstützung der Kommissionspräsidentin für ihr Anliegen, einen Verfassungskonvent einzuberufen, und werden ganz genau darauf achten, was von der Leyen zur Stärkung des Parlamentes sagt, insbesondere einem eigenen Initiativrecht. Der Chef der CDU-Abgeordneten, Daniel Caspary, kritisiert die Mitgliedstaaten hart dafür, die nötigen EU-Reformen zu verweigern – er spricht von einem “Vollversagen”.
Wirtschaft: Die Kommissionspräsidentin dürfte die Pläne vorstellen, wie der Binnenmarkt krisenfester werden soll. Deren Inhalt ist schon nach außen gedrungen – die Kommission will im Notfall die Mitgliedstaaten etwa anweisen können, welche sensiblen Produkte bevorratet werden sollen. Daneben dürfte von der Leyen die Ideen der Behörde für eine Reform der Fiskalregeln skizzieren. Der konkrete Vorschlag ist für die zweite Oktoberhälfte vorgesehen, wie ihr Stellvertreter Valdis Dombrovskis ankündigte (siehe News in dieser Ausgabe).
Heute Abend kommt das Präsidium des Europaparlaments in Straßburg zusammen, um einen neuen Generalsekretär zu wählen. Die besten Chancen, Nachfolger von Klaus Welle zu werden, hat der Italiener Alessandro Chiocchetti (53), bislang Kabinettschef von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.
Klaus Welle zieht sich im Alter von 58 Jahren zurück. 13 Jahre lang stand er an der Spitze des Beamtenapparates mit mehr als 8100 Stellen. Welle hat im Ringen der EU-Institutionen untereinander um Einfluss viel erreicht für das Parlament. So hat der Westfale mit CDU-Parteibuch auch das Spitzenkandidaten-Prinzip entwickelt. Welle ziehe es nun in die Lehre, ist zu hören.
Vier Kandidaten treten heute Abend bei der geheimen Wahl durch die 14 Vize-Präsidenten und Metsola an. Die Sitzung wurde extra um eine halbe Stunde auf 18 Uhr vorgezogen. Das deutet darauf hin, dass es spät werden könnte, bis der neue Generalsekretär feststeht.
Neben Chiocchetti bewerben sich drei Generaldirektoren aus der EU-Parlamentsverwaltung um den Spitzenposten: die Polin Agnieszka Walter-Drop, die für die Konferenzdienstleistungen (DG LINC) zuständig ist, die Finnin Leena Maria Linnus, für die Immobilien des Parlamentes (DG INLO) zuständig, sowie der Spanier Jaume Duch Guillot, der die Kommunikationsabteilung (DG COMM) leitet.
Die Bewerbung eines fünften Kandidaten wurde nicht zugelassen. Die namentlich nicht bekannte Person, die auch nicht aus der Beamtenschaft des Parlamentes kam, habe nicht die Bedingungen der Ausschreibung erfüllte, heißt es in Parlamentskreisen. Als Favorit gilt Chiocchetti. Dieser steht als Direktor in der Verwaltungshierarchie zwar unter den drei anderen Bewerbern, dennoch dürfte er gewählt werden.
Im Präsidium hat er am meisten Unterstützer: Die Stimmen von Christdemokraten (EVP), Liberalen (Renew), Konservativen (ECR) und Linken gelten ihm als sicher, von den Sozialdemokraten (S&D) hört man, sie wollten noch bis zur letzten Minute etwas für sich herausholen. Man wolle noch “Geländegewinne erzielen”, sei aber zu einem “konditionierten OK” bereit. Die S&D-Vertreter fordern etwa, die Amtszeit zu begrenzen. Darauf dürfte sich die EVP aber nicht einlassen. Für seine Wahl braucht Chiocchetti die Stimmen der Sozialdemokraten vermutlich nicht.
Manfred Weber (CSU), Fraktions- und Parteichef der EVP, verteidigt das Verfahren gegen die Kritik, es handele sich um einen Hinterzimmer-Deal: “Früher gab es immer nur einen Kandidaten, diesmal hat das Präsidium in geheimer Wahl die Auswahl zwischen vier hochkompetenten Kandidaten, das gab es noch nie.” Ein Mitglied des Präsidiums sagte zu Europe.Table: “Diesmal ist so wenig Hinterzimmer wie noch nie”.
Der wissenschaftliche Dienst des Parlaments habe bestätigt, dass eine Beförderung Chiocchettis vom Direktoren-Niveau auf den Posten des Generalsekretärs zulässig sei, hört man in Brüssel. Metsola habe zudem klargestellt, dass sie Chiocchetti nicht gekannt habe, bevor er sich für den Posten ihrer Büroleitung beworben habe. Damit sei der Vorwurf abwegig, sie habe den Italiener nur zum Kabinettschef gemacht, um ihm den Weg an die Spitze des Parlaments zu ebnen.
Zu dem Deal, den vier, womöglich auch fünf Parteienfamilien unterstützen, gehört nicht nur der Posten an der Spitze der Verwaltung, der mit monatlich 19.958 Euro dotiert ist. Die kleineren Parteien haben die Zusage, ihnen nahestehende Beamte ebenfalls auf hochrangige Jobs in der Verwaltung zu bringen, wenn diese die nötigen Kompetenzen haben.
Die EVP ist etwa bereit, das Recht an die Konservativen abzutreten, den Generaldirektor für den wissenschaftlichen Dienst zu ernennen. Auch die Liberalen bekommen den Zugriff auf einen Generaldirektorenposten. Es soll zudem eine 13. Generaldirektion in der Verwaltung geschaffen werden, an deren Spitze eine Politikerin mit Stallgeruch der Linken rücken soll. Es seien in den vergangenen Wochen Bewerbungsgespräche für die Posten an der Spitze der Generaldirektionen geführt worden, heißt es. Wie die Statuten es verlangen, seien auch “Shortlists” erstellt worden.
Paketlösungen sind bei hochrangigen Personalentscheidungen in den EU-Institutionen üblich. Nur mit der Unterstützung mehrerer Parteienfamilien kommen die notwendigen Mehrheiten zustande. Zweifelsohne führen die personellen Deals aber dazu, dass der Verwaltungsapparat an der Spitze immer größer wird. Auch die Grünen waren dem Vernehmen nach in die Gespräche eingebunden. Aus Kreisen der Fraktion wurde Kritik daran geübt, dass man nichts für die eigenen Leute herausgeholt habe.
Am Rande des informellen Finanzministertreffens in Prag verkündeten Bundesfinanzminister Christian Lindner und seine Kollegen und Kolleginnen aus Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden ihren Ansatz: “Da die Inflation die Finanzkraft der Bürger hart trifft, müssen Unternehmen ihren fairen Anteil an den Kosten an der Last der Minderung der Auswirkungen der globalen Energiekrise tragen” heißt es in einem gemeinsamen Statement der G5-Finanzminister. Alle fünf wollen notfalls national koordiniert die Mindeststeuern einführen.
Es ist nicht zuletzt die Kassenlage, die Lindner, Bruno Le Maire und die anderen zum Voranpreschen zwingt. “Wir wollen für unsere Bevölkerungen und unsere Wirtschaft die Steuern nicht immer weiter erhöhen”, sagte Christian Lindner. “Damit wir dennoch handlungsfähig bleiben, müssen auch internationale Großunternehmen ihren fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.”
Für einige Staaten kommt das Problem hinzu, dass ihnen sonst eingeplante Einnahmen wegbrechen könnten. Die Einigung auf eine globale Mindeststeuer nach OECD-Modell sieht auch vor, dass geplante oder bereits eingeführte Digitalsteuern ab 2023 ausgesetzt werden.
Die beiden Säulen des OECD-Modells, so wie in Folge auch von der EU-Kommission vorgeschlagen, verändern für Unternehmen und Teilunternehmen mit einem Vorsteuerumsatz von über 750 Millionen den Ort der Steuerbarkeit. Auch lokale Tochterunternehmen sollen dann auf Basis einer Mindestbesteuerung von 15 Prozent an ihrem Tätigkeitsort ihr Scherflein entrichten (eine genauere Erläuterung finden Sie hier).
Derzeit scheitert die EU-weite Einführung vor allem an Ungarn. Viktor Orbáns Wirtschaftswunderland erhebt bisher gerade einmal 9 Prozent als Unternehmenssteuersatz. Ursprünglich hatte die Regierung dem OECD-Rahmen zugestimmt, doch seit Juni 2022 stellen sich die Ungarn quer. Viele Beobachter gehen davon aus, dass es dabei weniger um die Steuern als solche geht als um eine Machtprobe im Streit um die Rechtsstaatsdefizite.
Doch auch in Irland gibt es nach wie vor offene Fragen der Ausgestaltung. Die US-Interpretation der einst gefeierten Einigung auf eine globale Mindestbesteuerung sorgt ebenfalls weiter für Diskussionen.
Sollten die anderen EU-Staaten die OECD-Regelungen konsequent einführen, hätte Ungarn davon wenig Vorteile: Die OECD-Regelungen der zweiten Säule umfassen auch eine sogenannte Top-Up-Tax: Wird in einem Land Steuerdumping betrieben und dadurch insgesamt die 15-Prozent-Marke effektiv unterschritten, können andere Länder zusätzliche Steuern erheben, bis die Marke erreicht ist. Die Gruppe der fünf erhöht jetzt jedenfalls massiv den Druck. “Wir haben eine Vereinbarung und müssen vorwärtskommen”, sagte die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag.
Im Bundesfinanzministerium wird bereits an konkreten Umsetzungsvorschriften entsprechend des OECD-Rahmens gearbeitet. Deutschland stehe bereit, die globale Mindestbesteuerung auch im nationalen Recht einzuführen, betonte Lindner.
Ein BMF-Sprecher erklärte auf Anfrage, die Verabschiedung der EU-Richtlinie habe “oberste Priorität“. Doch Berlin will für den Worst Case vorbereitet sein: Das Ministerium habe bereits mit den Arbeiten zur Erstellung von deutschen Umsetzungsvorschriften auf Basis der OECD-Standards begonnen und treibe diese mit Nachdruck voran, sagte der Sprecher. Mit oder ohne EU, die Mindeststeuer soll also kommen.
Für die EU-Kommission würden national eingeführte Mindeststeuern hingegen ein ganz anderes Problem mit sich bringen: Damit würden sich alle Hoffnung zerschlagen, dass wenigstens ein Teil davon zur Refinanzierung der aufgenommenen Kredite des Wiederaufbaufonds ohne nationale Umwege in die europäische Kasse fließt.
Die EU-Kommission will in der zweiten Oktoberhälfte ihre Reformvorschläge zu den Haushaltsregeln der Europäischen Union vorlegen. Diese dürften individuelle Wege zur Schuldenreduzierung der Mitgliedstaaten enthalten, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis am Samstag nach einem Treffen der EU-Finanzminister in Prag.
Das Hauptziel der Regeln sei weiterhin, die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung zu gewährleisten. “Das erfordert fiskalische Anpassungen, Reformen und Investitionen”, sagte Dombrovskis und deutete damit an, dass staatlichen Investitionen im Zuge der Reform mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde. “Diese drei Elemente sollten alle miteinander kombiniert werden, um eine realistische, schrittweise und nachhaltige Reduzierung der öffentlichen Schuldenquoten zu erreichen”, sagte er.
Die EU-Vorschriften besagen, dass die öffentliche Verschuldung unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und das öffentliche Defizit unter 3 Prozent des BIP liegen muss. Die Verschuldung in Griechenland liegt derzeit aber bei rund 185 Prozent und in Italien bei rund 150 Prozent. Auf der anderen Seite hat Estland einen Schuldenstand von nur 18,1 Prozent des BIP, Luxemburg von 24,4 Prozent und Litauen von 44,3 Prozent
“Angesichts der unterschiedlichen Verschuldungsniveaus in den Mitgliedstaaten kann es keine Einheitslösung geben”, sagte Dombrovskis. “Es kann einen größeren Spielraum für die Mitgliedstaaten geben, aber innerhalb eines gemeinsamen Regelwerks“, sagte er. Dies würde eine Abkehr von der derzeitigen Regel bedeuten, wonach alle Länder ihre Schulden jedes Jahr um ein Zwanzigstel des Wertes oberhalb von 60 Prozent des BIP abbauen müssen – eine Anforderung, die für die hoch verschuldeten Länder viel zu ehrgeizig ist.
Mit Blick auf Deutschland und einige nördliche EU-Länder werde die Kommission eine stärkere Durchsetzung der Regeln vorschlagen, sagte Dombrovskis. Die bisherige Praxis habe gezeigt, dass die Einhaltung der Regeln für einige Länder keine Priorität habe.
Die Kommission werde auch vorschlagen, die Regeln zu vereinfachen, indem sie sich auf einen einzigen beobachtbaren Indikator konzentriere, wie etwa die Ausgabenregel, sagte Dombrovskis. Dieser erlaubt es den Regierungen, die Ausgaben jedes Jahr um die Rate des Potenzialwachstums zu erhöhen. Wenn die Wirtschaft schneller wächst als das Potenzial und überhitzt, tragen die niedrigeren Ausgaben dazu bei, sie abzukühlen. Wenn die Wirtschaft unter ihrem Potenzial wächst, helfen die höheren Staatsausgaben, den Rückstand aufzuholen.
Laut Bundesfinanzminister Christian Lindner zeichnet sich bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bislang kein Konsens ab. “Die Vorstellungen über konkrete Reformen gehen noch auseinander”, sagte er. Deutschland sei bereit, kurzfristig die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen in den Regeln zu erleichtern, wenn dafür langfristig ein verlässlicher Pfad zur Schuldenverringerung eingeschlagen werde. Die Regeln sollen mittelfristig konsequenter durchgesetzt werden. Andere Länder wie Italien und Frankreich wollen noch mehr Flexibilität, um etwa Investitionen im Kampf gegen den Klimawandel von den Schuldenregeln auszunehmen. rtr/dpa/tho
Die EU-Kommission wird am Dienstag ihren lang erwarteten Gesetzesvorschlag vorlegen, um gegen Produkte aus Zwangsarbeit vorzugehen. Das Gesetz könnte den Druck auf EU-Unternehmen in Regionen wie Xinjiang erheblich erhöhen.
In ihrer Rede zur Lage der EU im vergangenen September hatte von der Leyen ein Vorgehen gegen Produkte angekündigt, die mit Zwangsarbeit hergestellt wurden. Was von den Plänen der Kommission für den Gesetzesvorschlag bereits bekannt ist: Die Brüsseler Behörde plant kein reines Importverbot, sondern ein Vermarktungsverbot. Mit diesem sogenannten Binnenmarktinstrument sollen Produkte aus dem Verkehr gezogen werden können. Die Beweislast wird nicht bei den Unternehmen, sondern bei den Behörden liegen.
Das EU-Parlament hatte fast geschlossen ein volles Einfuhrverbot gefordert, angelehnt an das US-Vorbild. Bei den EU-Abgeordneten hält sich die Erwartung an den Kommissionsvorschlag deshalb in Grenzen: “So sehr ich die Initiative der Kommission begrüße – es ist bedauerlich, dass sich die Kommission nicht dem Modell des Europäischen Parlaments angeschlossen hat”, sagte die Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini. “Entscheidend ist nun für die anstehenden Verhandlungen, dass der neue Mechanismus die Waren auch wirklich effektiv stoppt. Außerdem darf die Hürde der Beweislast für die Anschuldigung der Zwangsarbeit nicht zu hoch sein”, so Cavazzini.
Der Vorschlag der EU-Kommission wird ersten Einschätzungen zufolge auch keinen Mechanismus für Wiedergutmachung enthalten. Dieser war ebenfalls vom EU-Parlament gefordert worden, damit Opfer von Zwangsarbeit eine Entschädigung auch von EU-Firmen einfordern können. Peking wird die Gesetzesvorlage – und den für Oktober erwarteten Vorschlag für ein Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang – genau beobachten. Wang Hongjian, Wirtschaftsgesandter an die EU, warnte vergangene Woche erneut vor zunehmenden Protektionismus. “Grüne Zusammenarbeit kann nicht in einem Vakuum gefördert werden”, sagte Wang bezüglich Kooperation im Klimaschutz. ari
Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sind bei der Parlamentswahl in Schweden laut Prognosen klar stärkste Kraft geworden. Die Partei erhielt nach Angaben des Rundfunksenders SVT am Sonntag etwa 29,3 Prozent der Stimmen. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten kamen demnach auf etwa 20,5 Prozent. Damit sind sie auf dem Weg zu einem Rekordergebnis und werden wohl erstmals zweitstärkste politische Kraft im Reichstag in Stockholm. Die Moderaten von Ulf Kristersson lagen den Angaben zufolge bei 18,8 Prozent. Das wäre ihr schlechtestes Ergebnis seit 2002.
Unklar blieb zunächst, welches politische Lager am Ende die Mehrheit der Mandate auf seiner Seite haben wird: Anderssons Seite lag mit 49,8 Prozent knapp vor dem konservativ-rechten Block von Kristersson einschließlich der Schwedendemokraten mit 49,2 Prozent. Der Sender TV4 sah Anderssons Lager etwas deutlicher vorne.
Umfragen hatten die beiden Lager schon vor dem Wahltag nahezu gleichauf gesehen. Bei der Parlamentswahl vor vier Jahren wichen die ersten Prognosen teils um mehrere Prozentpunkte vom finalen Wahlergebnis ab – die Moderaten konnten die Schwedendemokraten am Ende doch noch überholen. dpa
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hatte im Mai seine Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft vorgestellt (Europe.Table berichtete), nun nimmt das Konzept Form an: Ein erstes Treffen werde am Rande des informellen Europäischen Rates in Prag am 7. Oktober stattfinden, kündigte Ratspräsident Charles Michel bei seinem Berlin-Besuch am Freitag an. Dies sei eine Gelegenheit für die EU-Staat- und Regierungschefs, “sich intensiv mit Ländern auszutauschen, die auf dem europäischen Kontinent beheimatet sind und eine gemeinsame Position zu einigen Themen vertreten”.
Die politische Plattform werde künftig ein- bis zweimal pro Jahr auf Ebene der Staats- und Regierungschefs tagen, sagte Michel, und solle dazu dienen, den Dialog sowie das gegenseitige Verständnis zu fördern. Emmanuel Macron hatte die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) vorgeschlagen, um etwa die Länder auf dem Westbalkan oder die Ukraine enger an die EU zu binden. Dadurch wollen die Europäer verhindern, dass die Staaten während des sehr langwierigen Beitrittsprozesses unter zu starken Einfluss anderer Mächte geraten, etwa Russlands, Chinas oder der Türkei. Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt die Idee, betonte zuletzt aber, die EPG dürfe keine Alternative zum EU-Beitritt sein. tho
Kürzlich war Jana Puglierin beim Podcast Brussels Sprouts zu Gast und tat, was sie häufig tut: einem nicht-deutschen Publikum erklären, was eigentlich mit den Deutschen los ist.
Es ging um den Besuch des Bundeskanzlers in Prag und die Rolle Deutschlands in der EU seit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine. Dass Olaf Scholz die tschechische Hauptstadt gewählt hat für seine europapolitische Grundsatzrede, hält Puglierin für einen gekonnten Versuch, verlorenes Vertrauen in Ost- und Mitteleuropa zurückzugewinnen. Sechs Monate nach der angekündigten Zeitenwende ist der Tenor in vielen osteuropäischen Ländern, dass Deutschland nicht geliefert hat. “Berlin wurde den Erwartungen, die in es gesetzt wurde, nicht gerecht”, erklärt die Politikwissenschaftlerin in dem US-amerikanischen Podcast.
Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, ist seit Ausbruch des Krieges ein sehr gefragter Interview-Gast. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit Außen-, Sicherheits– und Verteidigungspolitik. “Das sind keine Nischenthemen für die Hinterzimmer, sondern sie geht alle etwas an”, sagt sie. Um dafür ein Bewusstsein zu wecken, nimmt die 44-Jährige die Einladungen zu Talkshows, Radiointerviews, Podiumsdiskussionen und Podcasts wahr. Dort versucht sie zu erklären, warum sich Deutschland nicht wegducken kann, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.
“Ich habe mir lange anhören müssen, wo denn die Bedrohung sei”, sagt Puglierin. Sie ist eine derjenigen, die schon seit langem fordert, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben erhöht und eine schlagkräftige Armee braucht. Die Annahme, dass das Phänomen des Krieges Europa für immer verlassen hat, fand sie schon immer “ahistorisch”. “Dass meine Elterngeneration keinen Krieg erlebt hat, halte ich für einen glücklichen Zufall.”
Der Konflikt mit Russland kann nicht ausgesessen werden, ist sie überzeugt. “Wir müssen es schaffen, die Einheit des Westens zu erhalten, einen Umgang mit Desinformation zu finden und gleichzeitig einen heißen Konflikt mit Russland vermeiden”, fordert sie. Beeindrucken lasse sich Putin jedoch nur durch militärische Stärke, weshalb es im ureigensten Sicherheitsinteresse Deutschlands und der EU sei, wehrfähig zu sein.
Damit macht sie sich nicht nur Freunde – wie auch andere Analysten und Expertinnen, die für Aufrüstung plädieren. Nach einem Talkshow-Auftritt landen häufig Nachrichten in ihrem Mailpostfach, in denen Menschen unter ihrem Klarnamen teilweise seitenlange Beleidigungen oder Beschimpfungen loslassen. Mit ihrer Freundin Claudia Major, Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), scherzt sie auf Twitter, irgendwann mal einen Poetry Slam mit den schlimmsten Zuschriften zu veranstalten.
Die Thinktankerin reist häufig und nimmt in ganz Europa und den USA an Veranstaltungen teil. “Ein großer Teil meiner Aufgabe ist, im Ausland zu erklären, wie die Stimmung und die politische Debatte in Deutschland sind.” Andererseits ist es ihr wichtig, immer wieder die deutsche Brille abzustreifen und mit anderen Sichtweisen konfrontiert zu werden.
Die gesamteuropäische Perspektive einzunehmen, um den größten strategischen Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu begegnen, ist auch das Ziel des ECFR. Der Thinktank unterhält sieben Büros in verschiedenen europäischen Hauptstädten und vernetzt Entscheidungsträger, Aktivisten und Multiplikatoren miteinander.
“Deutschland als Akteur in Europa bleibt eine zentrale Frage, weil wir so reich und groß sind und alle auf uns schauen”, sagt Puglierin. Das positive Gefühl von 1989, als Europa plötzlich zusammenwuchs, leite sie auch heute noch an in ihrer Arbeit. Mehr denn je ist sie davon überzeugt, dass die EU zum Erfolg verdammt ist. “Ich wünsche mir, dass die EU aus dieser Erfahrung, dass ein Krieg möglich ist, sich darauf besinnt, was man an ihr hat.” Ulrike Christl
am vergangenen Dienstag durchbrechen ukrainische Einheiten erstmals bei Balaklija die russischen Verteidigungslinien, am Wochenende erobern sie in rasendem Tempo weite Teile der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine. Die russischen Streitkräfte ziehen sich unsortiert aus wichtigen Logistik-Knotenpunkten wie Isjum zurück, hinterlassen dabei massenhaft Kriegsmaterial. Moskau antwortet mit Raketenangriffen auf die Strom- und Wasserversorgung.
Der Krieg hat eine erstaunliche Wendung genommen. Ein Sieg der Ukraine erscheint auf einmal möglich. Die Frage: Wie reagiert Wladimir Putin – und wie der Westen? Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte sogleich weitere schwere Waffen, vor allem Kampfpanzer werden aus Sicht Kiews gebraucht, auch deutsche. Kanzler Olaf Scholz hatte bislang betont, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen. Nun muss er wohl bald die Frage beantworten, ob eine Niederlage Moskaus das Ziel ist.
Putin hat immer noch genügend Möglichkeiten zur weiteren Eskalation des Konflikts. Dazu zählt das AKW Saporischschja, das am Wochenende aus Sicherheitsgründen heruntergefahren wurde. Und dazu zählen die verbliebenen Energielieferungen. Noch ist das Druckmittel so stark, dass die EU-Staaten vor einem Preisdeckel auf russische Gasimporte zurückschrecken. Manuel Berkel bringt Sie nach dem Energieministerrat auf den neuesten Stand.
Die Energiekrise wird auch im Zentrum stehen, wenn Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch zur Lage der EU spricht. Welche Impulse sonst noch von der SOTEU zu erwarten sind, erfahren Sie in meiner Analyse. Mein Kollege Markus Grabitz und ich werden am Donnerstag zudem bei einem Table.Live-Talk sortieren, welche Themen im Herbst auf der EU-Agenda stehen. Diskutieren Sie gerne mit – anmelden können Sie sich hier.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die neue Woche!
Ihre vorläufige Niederlage verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Samstag mit vier Aufzählungszeichen – den Themen für die Kollegiumssitzung am Dienstag in Straßburg: smartem Energiesparen, finanziellen Beiträgen des Energiesektors für Haushalte und Unternehmen, Liquiditätshilfen für Versorger und eine raschere Umsetzung von REPowerEU – wozu auch der schnellere Ausbau erneuerbarer Energien zählt.
Welches Thema aus ihrem Fünf-Punkte-Plan fehlte, twitterte von der Leyen ebenfalls: “Bei den Gaspreisen arbeiten wir weiter an Antworten, die an einen globalen Markt angepasst sind. Das Ziel: niedrigere Preise in Europa bei gleichzeitiger Gewährleistung der Versorgungssicherheit.” Damit räumt die Kommissionspräsidentin ein, vorerst mit ihrem politischen Vorstoß gescheitert zu sein.
Noch am Mittwoch hatte von der Leyen überraschend einen Preisdeckel auf russische Gasimporte vorgeschlagen, um die Manipulationsmöglichkeiten Russlands bei den Gaspreisen zu beenden. Eine solche Obergrenze könne sehr schnell kommen, drohte die EU-Chefin in Richtung Moskau – woraufhin Präsident Wladimir Putin umgehend einen Lieferstopp ankündigte.
Mit dem Aufschub für den Gaspreisdeckel folgt von der Leyen den Bedenken vieler EU-Staaten. Ungarn, Österreich und die Slowakei hatten sich beim Rat der Energieminister am Freitag klar gegen einen solchen Schritt gegenüber Russland ausgesprochen. Auch die tschechische Präsidentschaft wollte von der Leyen nicht folgen und das Thema klein halten. Einige Staaten seien aktuell noch abhängig von russischem Gas und hätten nach eigenen Angaben Schwierigkeiten, alternative Lieferwege zu finden, sagte Energiekommissarin Kadri Simson nach dem Treffen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich Freitagnachmittag ebenfalls dafür ausgesprochen, die Pläne hintanzustellen. “Bei der Frage, was auf dem Gasmarkt geschieht, gibt es noch sehr viele sehr unterschiedliche Vorschläge. Es wäre viel zu früh, jetzt zu sagen: Das und das werden wir tun”, sagte er nach einem Treffen mit Ratspräsident Charles Michel in Berlin.
Scholz verwies auf die Rücksicht der EU-Partner, als sich Deutschland im Frühjahr gegen ein Gasembargo ausgesprochen hatte. Was der Kanzler nicht aussprach: Wie viel Gas mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten im Winter erhalten, hängt auch davon ab, wie viel Energie die deutsche Industrie in den nächsten Monaten einspart. Und von der Bereitschaft der Nachbarn, für Gaslieferungen in einer Mangellage Entschädigungen zu zahlen. Daran scheiterten derzeit Solidaritätsabkommen mit Polen und einer Reihe weiterer Staaten, heißt es in einem aktuellen Bericht des Wirtschaftsministeriums an den Bundestag.
Auch einem Preisdeckel auf sämtliche Gasimporte – etwa aus Norwegen, den USA oder LNG-Lieferungen aus aller Welt – erteilte Scholz zunächst eine Absage. Gefordert hatte dies etwa Belgien. “Wir sollten nicht den letzten Schritt vor dem ersten machen”, sagte der SPD-Politiker dazu. Welche Art von Preislimits beim Gas machbar sind, solle für Deutschland zunächst eine Expertengruppe klären. Die hatte der Koalitionsausschuss mit dem dritten Entlastungspaket angekündigt.
Vom Rat erhielt die Kommission dennoch den Arbeitsauftrag, eine generelle Deckelung zu prüfen. Für Pipeline-Lieferungen von Partnerstaaten setzt von der Leyen eigentlich auf Verhandlungen und einen schnelleren Start der gemeinsamen Beschaffungsplattform.
Beim Flüssiggas ist die Lage deutlich heikler. “Ein genereller Preisdeckel einschließlich der LNG-Importe könnte ein Risiko für die Versorgung darstellen“, warnte Simson. Dafür habe die EU zu wenig Marktmacht. Bei einem zu niedrigen Einkaufspreis europäischer Versorger könnte also wieder mehr Flüssiggas nach Asien verschifft werden.
Nach dem Willen von Scholz sollen zunächst die Vorschläge der Kommission zum Strommarkt diskutiert werden. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte in Brüssel sogar ein zeitliches Limit genannt. Sollte die EU die Abschöpfung hoher Gewinne auf dem Strommarkt nicht schon bis Ende des Jahres realisieren, werde Deutschland die Verbraucher mit einer eigenen Abgabe entlasten.
Dieses Szenario dürfte auch erklären, warum sich ein kleiner Staat wie Litauen gegen die Ratsmehrheit stellt, die den Kommissionsplan für das Abschöpfen von Übergewinnen im Stromhandel eigentlich unterstützt. Dies sei für sein Land eine rote Linie, sagte Energieminister Dainius Kreivys.
Das Abschöpfen von Gewinnen über einer Erlösobergrenze beeinträchtige nicht nur den Terminmarkt für Strom, er zerstöre auch das Level Playing Field auf dem EU-Binnenmarkt. Unternehmen in unterschiedlichen EU-Ländern würden auch unterschiedliche Subventionen erhalten, sagte Kreivys wohl mit Blick auf die Verteilung der Übergewinne.
Je nachdem, welche Art von Kraftwerken unterschiedliche EU-Staaten haben, würden auch die Einnahmen aus der Abschöpfung unterschiedlich hoch ausfallen. Polen mit seinem hohen Anteil an ebenfalls teurer Elektrizität aus Steinkohle fordert daher Eingriffe in den Emissionshandel, um die Strompreise zu drücken. “Die Ausgabe zusätzlicher Emissionsberechtigungen aus der Marktstabilitätsreserve könnte ein Teil der Lösung sein”, fasste der tschechische Minister Jozef Síkela die Diskussion zusammen.
Noch offen ist, ob es in den Mitgliedstaaten eine Mehrheit für verbindliche Stromsparziele geben wird – Polen und Spanien etwa setzen auf Freiwilligkeit. Síkela erwartet eine ähnliche Lösung wie bei dem im Juli beschlossenen Gassparplan – zunächst also freiwillige Vorgaben, die nach einem definierten Mechanismus verbindlich werden. Das Gasvorbild lässt allerdings keinen großen Druck erwarten. Die Niederlande hatten zwar vergangene Woche dafür plädiert, den nächsten Schritt zu gehen. Doch noch gebe es nicht erforderliche Zahl von fünf Mitgliedstaaten für das verpflichtende Gassparziel, berichtete ein ranghoher EU-Diplomat einen Tag vor dem Gipfel.
In dieser Woche will die Kommission konkrete Gesetzentwürfe vorlegen. Síkela versprach einen raschen Beschluss im Rat. Falls nötig werde es noch im September ein weiteres Treffen der Energieminister geben. EU-Diplomaten rechnen jedenfalls mit einer Einigung vor der Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs am 7. Oktober in Prag.
Außerhalb der EU-Blase ist das Kürzel SOTEU kaum jemandem ein Begriff. Innerhalb des Brüsseler Dunstkreises aber wird die Rede zur Lage der (Europäischen) Union durchaus mit Spannung beachtet, setzt sie doch die Agenda für das politische Jahr. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereitet ihre Rede im Straßburger Europaparlament daher sorgfältig vor – seit Monaten sammeln ihre Mitarbeiter Ideen und Material ein, in den Generaldirektionen und auch bei externen Experten.
Der Inhalt der Rede selbst wird streng vertraulich behandelt, bis von der Leyen am Mittwochmorgen um 9 Uhr vor das Plenum tritt. Einiges zeichnet sich aber doch ab.
Energie: Die Strom- und Gaspreiskrise dominiert die politische Agenda, auch von der Leyen kommt um das Thema nicht herum. Viel Neues wird sie am Mittwoch aber wohl nicht mehr zu verkünden haben: Die konkreten Vorschläge für die Notfallmaßnahmen werden bereits am Vortag im College beschlossen und kaum unter Verschluss bleiben. Von der Leyen dürfte daher einen Ausblick geben, welche Maßnahmen mittelfristig für den Energiebinnenmarkt geplant sind und an den Zusammenhalt der EU-Staaten in der Krise appellieren.
Bei ihrem Treffen mit den Fraktionsvorsitzenden am Donnerstag prägte EVP-Chef Manfred Weber dafür den Begriff des “Winters der Solidarität”. Die Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Abgeordneten, Angelika Niebler, fordert zudem, angesichts der enorm hohen Energiepreise alle Gesetzesvorhaben “nochmal auf den Prüfstand zu stellen”, die weiteren Belastungen für Unternehmen bedeuten. Schwer vorstellbar aber, dass sich von der Leyen darauf einlässt und etwa EU-Lieferkettengesetz oder die überarbeitete Industrieemissionsrichtlinie zurückzieht.
Ukraine: Beim Termin mit von der Leyen forderte der Vorsitzende der liberalen Renew-Gruppe, dem Kreml- Narrativ entschieden entgegenzutreten, wonach die Sanktionen den Europäern mehr schadeten als Russland. Angesichts der gesellschaftlichen Spannungen gehe es darum, “die Wahrheit neu zu verankern”, sagte Stéphane Séjourné laut Teilnehmern. Auch von der Leyen dürfte in ihrer Rede betonen, dass die Sanktionen gegen die russische Wirtschaft wirken. Angesichts der jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine sieht sie sich zudem bestätigt in ihrer Unterstützung für Präsident Wolodymyr Selenskyj. Applaus ist ihr gewiss: Im Europaparlament wird diskutiert, dem Präsidenten und seinem Volk den diesjährigen Sacharow-Preis zu verleihen.
EU-Reform: Von der Leyen hatte in ihrer Rede zum Abschluss der Zukunftskonferenz im Mai zugesagt, im September konkrete Initiativen zur Umsetzung der Reformvorschläge der Bürger vorzulegen. Nun muss sie dies einlösen. Die Europaparlamentarier erhoffen sich Unterstützung der Kommissionspräsidentin für ihr Anliegen, einen Verfassungskonvent einzuberufen, und werden ganz genau darauf achten, was von der Leyen zur Stärkung des Parlamentes sagt, insbesondere einem eigenen Initiativrecht. Der Chef der CDU-Abgeordneten, Daniel Caspary, kritisiert die Mitgliedstaaten hart dafür, die nötigen EU-Reformen zu verweigern – er spricht von einem “Vollversagen”.
Wirtschaft: Die Kommissionspräsidentin dürfte die Pläne vorstellen, wie der Binnenmarkt krisenfester werden soll. Deren Inhalt ist schon nach außen gedrungen – die Kommission will im Notfall die Mitgliedstaaten etwa anweisen können, welche sensiblen Produkte bevorratet werden sollen. Daneben dürfte von der Leyen die Ideen der Behörde für eine Reform der Fiskalregeln skizzieren. Der konkrete Vorschlag ist für die zweite Oktoberhälfte vorgesehen, wie ihr Stellvertreter Valdis Dombrovskis ankündigte (siehe News in dieser Ausgabe).
Heute Abend kommt das Präsidium des Europaparlaments in Straßburg zusammen, um einen neuen Generalsekretär zu wählen. Die besten Chancen, Nachfolger von Klaus Welle zu werden, hat der Italiener Alessandro Chiocchetti (53), bislang Kabinettschef von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.
Klaus Welle zieht sich im Alter von 58 Jahren zurück. 13 Jahre lang stand er an der Spitze des Beamtenapparates mit mehr als 8100 Stellen. Welle hat im Ringen der EU-Institutionen untereinander um Einfluss viel erreicht für das Parlament. So hat der Westfale mit CDU-Parteibuch auch das Spitzenkandidaten-Prinzip entwickelt. Welle ziehe es nun in die Lehre, ist zu hören.
Vier Kandidaten treten heute Abend bei der geheimen Wahl durch die 14 Vize-Präsidenten und Metsola an. Die Sitzung wurde extra um eine halbe Stunde auf 18 Uhr vorgezogen. Das deutet darauf hin, dass es spät werden könnte, bis der neue Generalsekretär feststeht.
Neben Chiocchetti bewerben sich drei Generaldirektoren aus der EU-Parlamentsverwaltung um den Spitzenposten: die Polin Agnieszka Walter-Drop, die für die Konferenzdienstleistungen (DG LINC) zuständig ist, die Finnin Leena Maria Linnus, für die Immobilien des Parlamentes (DG INLO) zuständig, sowie der Spanier Jaume Duch Guillot, der die Kommunikationsabteilung (DG COMM) leitet.
Die Bewerbung eines fünften Kandidaten wurde nicht zugelassen. Die namentlich nicht bekannte Person, die auch nicht aus der Beamtenschaft des Parlamentes kam, habe nicht die Bedingungen der Ausschreibung erfüllte, heißt es in Parlamentskreisen. Als Favorit gilt Chiocchetti. Dieser steht als Direktor in der Verwaltungshierarchie zwar unter den drei anderen Bewerbern, dennoch dürfte er gewählt werden.
Im Präsidium hat er am meisten Unterstützer: Die Stimmen von Christdemokraten (EVP), Liberalen (Renew), Konservativen (ECR) und Linken gelten ihm als sicher, von den Sozialdemokraten (S&D) hört man, sie wollten noch bis zur letzten Minute etwas für sich herausholen. Man wolle noch “Geländegewinne erzielen”, sei aber zu einem “konditionierten OK” bereit. Die S&D-Vertreter fordern etwa, die Amtszeit zu begrenzen. Darauf dürfte sich die EVP aber nicht einlassen. Für seine Wahl braucht Chiocchetti die Stimmen der Sozialdemokraten vermutlich nicht.
Manfred Weber (CSU), Fraktions- und Parteichef der EVP, verteidigt das Verfahren gegen die Kritik, es handele sich um einen Hinterzimmer-Deal: “Früher gab es immer nur einen Kandidaten, diesmal hat das Präsidium in geheimer Wahl die Auswahl zwischen vier hochkompetenten Kandidaten, das gab es noch nie.” Ein Mitglied des Präsidiums sagte zu Europe.Table: “Diesmal ist so wenig Hinterzimmer wie noch nie”.
Der wissenschaftliche Dienst des Parlaments habe bestätigt, dass eine Beförderung Chiocchettis vom Direktoren-Niveau auf den Posten des Generalsekretärs zulässig sei, hört man in Brüssel. Metsola habe zudem klargestellt, dass sie Chiocchetti nicht gekannt habe, bevor er sich für den Posten ihrer Büroleitung beworben habe. Damit sei der Vorwurf abwegig, sie habe den Italiener nur zum Kabinettschef gemacht, um ihm den Weg an die Spitze des Parlaments zu ebnen.
Zu dem Deal, den vier, womöglich auch fünf Parteienfamilien unterstützen, gehört nicht nur der Posten an der Spitze der Verwaltung, der mit monatlich 19.958 Euro dotiert ist. Die kleineren Parteien haben die Zusage, ihnen nahestehende Beamte ebenfalls auf hochrangige Jobs in der Verwaltung zu bringen, wenn diese die nötigen Kompetenzen haben.
Die EVP ist etwa bereit, das Recht an die Konservativen abzutreten, den Generaldirektor für den wissenschaftlichen Dienst zu ernennen. Auch die Liberalen bekommen den Zugriff auf einen Generaldirektorenposten. Es soll zudem eine 13. Generaldirektion in der Verwaltung geschaffen werden, an deren Spitze eine Politikerin mit Stallgeruch der Linken rücken soll. Es seien in den vergangenen Wochen Bewerbungsgespräche für die Posten an der Spitze der Generaldirektionen geführt worden, heißt es. Wie die Statuten es verlangen, seien auch “Shortlists” erstellt worden.
Paketlösungen sind bei hochrangigen Personalentscheidungen in den EU-Institutionen üblich. Nur mit der Unterstützung mehrerer Parteienfamilien kommen die notwendigen Mehrheiten zustande. Zweifelsohne führen die personellen Deals aber dazu, dass der Verwaltungsapparat an der Spitze immer größer wird. Auch die Grünen waren dem Vernehmen nach in die Gespräche eingebunden. Aus Kreisen der Fraktion wurde Kritik daran geübt, dass man nichts für die eigenen Leute herausgeholt habe.
Am Rande des informellen Finanzministertreffens in Prag verkündeten Bundesfinanzminister Christian Lindner und seine Kollegen und Kolleginnen aus Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden ihren Ansatz: “Da die Inflation die Finanzkraft der Bürger hart trifft, müssen Unternehmen ihren fairen Anteil an den Kosten an der Last der Minderung der Auswirkungen der globalen Energiekrise tragen” heißt es in einem gemeinsamen Statement der G5-Finanzminister. Alle fünf wollen notfalls national koordiniert die Mindeststeuern einführen.
Es ist nicht zuletzt die Kassenlage, die Lindner, Bruno Le Maire und die anderen zum Voranpreschen zwingt. “Wir wollen für unsere Bevölkerungen und unsere Wirtschaft die Steuern nicht immer weiter erhöhen”, sagte Christian Lindner. “Damit wir dennoch handlungsfähig bleiben, müssen auch internationale Großunternehmen ihren fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten.”
Für einige Staaten kommt das Problem hinzu, dass ihnen sonst eingeplante Einnahmen wegbrechen könnten. Die Einigung auf eine globale Mindeststeuer nach OECD-Modell sieht auch vor, dass geplante oder bereits eingeführte Digitalsteuern ab 2023 ausgesetzt werden.
Die beiden Säulen des OECD-Modells, so wie in Folge auch von der EU-Kommission vorgeschlagen, verändern für Unternehmen und Teilunternehmen mit einem Vorsteuerumsatz von über 750 Millionen den Ort der Steuerbarkeit. Auch lokale Tochterunternehmen sollen dann auf Basis einer Mindestbesteuerung von 15 Prozent an ihrem Tätigkeitsort ihr Scherflein entrichten (eine genauere Erläuterung finden Sie hier).
Derzeit scheitert die EU-weite Einführung vor allem an Ungarn. Viktor Orbáns Wirtschaftswunderland erhebt bisher gerade einmal 9 Prozent als Unternehmenssteuersatz. Ursprünglich hatte die Regierung dem OECD-Rahmen zugestimmt, doch seit Juni 2022 stellen sich die Ungarn quer. Viele Beobachter gehen davon aus, dass es dabei weniger um die Steuern als solche geht als um eine Machtprobe im Streit um die Rechtsstaatsdefizite.
Doch auch in Irland gibt es nach wie vor offene Fragen der Ausgestaltung. Die US-Interpretation der einst gefeierten Einigung auf eine globale Mindestbesteuerung sorgt ebenfalls weiter für Diskussionen.
Sollten die anderen EU-Staaten die OECD-Regelungen konsequent einführen, hätte Ungarn davon wenig Vorteile: Die OECD-Regelungen der zweiten Säule umfassen auch eine sogenannte Top-Up-Tax: Wird in einem Land Steuerdumping betrieben und dadurch insgesamt die 15-Prozent-Marke effektiv unterschritten, können andere Länder zusätzliche Steuern erheben, bis die Marke erreicht ist. Die Gruppe der fünf erhöht jetzt jedenfalls massiv den Druck. “Wir haben eine Vereinbarung und müssen vorwärtskommen”, sagte die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag.
Im Bundesfinanzministerium wird bereits an konkreten Umsetzungsvorschriften entsprechend des OECD-Rahmens gearbeitet. Deutschland stehe bereit, die globale Mindestbesteuerung auch im nationalen Recht einzuführen, betonte Lindner.
Ein BMF-Sprecher erklärte auf Anfrage, die Verabschiedung der EU-Richtlinie habe “oberste Priorität“. Doch Berlin will für den Worst Case vorbereitet sein: Das Ministerium habe bereits mit den Arbeiten zur Erstellung von deutschen Umsetzungsvorschriften auf Basis der OECD-Standards begonnen und treibe diese mit Nachdruck voran, sagte der Sprecher. Mit oder ohne EU, die Mindeststeuer soll also kommen.
Für die EU-Kommission würden national eingeführte Mindeststeuern hingegen ein ganz anderes Problem mit sich bringen: Damit würden sich alle Hoffnung zerschlagen, dass wenigstens ein Teil davon zur Refinanzierung der aufgenommenen Kredite des Wiederaufbaufonds ohne nationale Umwege in die europäische Kasse fließt.
Die EU-Kommission will in der zweiten Oktoberhälfte ihre Reformvorschläge zu den Haushaltsregeln der Europäischen Union vorlegen. Diese dürften individuelle Wege zur Schuldenreduzierung der Mitgliedstaaten enthalten, sagte Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis am Samstag nach einem Treffen der EU-Finanzminister in Prag.
Das Hauptziel der Regeln sei weiterhin, die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung zu gewährleisten. “Das erfordert fiskalische Anpassungen, Reformen und Investitionen”, sagte Dombrovskis und deutete damit an, dass staatlichen Investitionen im Zuge der Reform mehr Aufmerksamkeit geschenkt werde. “Diese drei Elemente sollten alle miteinander kombiniert werden, um eine realistische, schrittweise und nachhaltige Reduzierung der öffentlichen Schuldenquoten zu erreichen”, sagte er.
Die EU-Vorschriften besagen, dass die öffentliche Verschuldung unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und das öffentliche Defizit unter 3 Prozent des BIP liegen muss. Die Verschuldung in Griechenland liegt derzeit aber bei rund 185 Prozent und in Italien bei rund 150 Prozent. Auf der anderen Seite hat Estland einen Schuldenstand von nur 18,1 Prozent des BIP, Luxemburg von 24,4 Prozent und Litauen von 44,3 Prozent
“Angesichts der unterschiedlichen Verschuldungsniveaus in den Mitgliedstaaten kann es keine Einheitslösung geben”, sagte Dombrovskis. “Es kann einen größeren Spielraum für die Mitgliedstaaten geben, aber innerhalb eines gemeinsamen Regelwerks“, sagte er. Dies würde eine Abkehr von der derzeitigen Regel bedeuten, wonach alle Länder ihre Schulden jedes Jahr um ein Zwanzigstel des Wertes oberhalb von 60 Prozent des BIP abbauen müssen – eine Anforderung, die für die hoch verschuldeten Länder viel zu ehrgeizig ist.
Mit Blick auf Deutschland und einige nördliche EU-Länder werde die Kommission eine stärkere Durchsetzung der Regeln vorschlagen, sagte Dombrovskis. Die bisherige Praxis habe gezeigt, dass die Einhaltung der Regeln für einige Länder keine Priorität habe.
Die Kommission werde auch vorschlagen, die Regeln zu vereinfachen, indem sie sich auf einen einzigen beobachtbaren Indikator konzentriere, wie etwa die Ausgabenregel, sagte Dombrovskis. Dieser erlaubt es den Regierungen, die Ausgaben jedes Jahr um die Rate des Potenzialwachstums zu erhöhen. Wenn die Wirtschaft schneller wächst als das Potenzial und überhitzt, tragen die niedrigeren Ausgaben dazu bei, sie abzukühlen. Wenn die Wirtschaft unter ihrem Potenzial wächst, helfen die höheren Staatsausgaben, den Rückstand aufzuholen.
Laut Bundesfinanzminister Christian Lindner zeichnet sich bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bislang kein Konsens ab. “Die Vorstellungen über konkrete Reformen gehen noch auseinander”, sagte er. Deutschland sei bereit, kurzfristig die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen in den Regeln zu erleichtern, wenn dafür langfristig ein verlässlicher Pfad zur Schuldenverringerung eingeschlagen werde. Die Regeln sollen mittelfristig konsequenter durchgesetzt werden. Andere Länder wie Italien und Frankreich wollen noch mehr Flexibilität, um etwa Investitionen im Kampf gegen den Klimawandel von den Schuldenregeln auszunehmen. rtr/dpa/tho
Die EU-Kommission wird am Dienstag ihren lang erwarteten Gesetzesvorschlag vorlegen, um gegen Produkte aus Zwangsarbeit vorzugehen. Das Gesetz könnte den Druck auf EU-Unternehmen in Regionen wie Xinjiang erheblich erhöhen.
In ihrer Rede zur Lage der EU im vergangenen September hatte von der Leyen ein Vorgehen gegen Produkte angekündigt, die mit Zwangsarbeit hergestellt wurden. Was von den Plänen der Kommission für den Gesetzesvorschlag bereits bekannt ist: Die Brüsseler Behörde plant kein reines Importverbot, sondern ein Vermarktungsverbot. Mit diesem sogenannten Binnenmarktinstrument sollen Produkte aus dem Verkehr gezogen werden können. Die Beweislast wird nicht bei den Unternehmen, sondern bei den Behörden liegen.
Das EU-Parlament hatte fast geschlossen ein volles Einfuhrverbot gefordert, angelehnt an das US-Vorbild. Bei den EU-Abgeordneten hält sich die Erwartung an den Kommissionsvorschlag deshalb in Grenzen: “So sehr ich die Initiative der Kommission begrüße – es ist bedauerlich, dass sich die Kommission nicht dem Modell des Europäischen Parlaments angeschlossen hat”, sagte die Grünen-Abgeordnete Anna Cavazzini. “Entscheidend ist nun für die anstehenden Verhandlungen, dass der neue Mechanismus die Waren auch wirklich effektiv stoppt. Außerdem darf die Hürde der Beweislast für die Anschuldigung der Zwangsarbeit nicht zu hoch sein”, so Cavazzini.
Der Vorschlag der EU-Kommission wird ersten Einschätzungen zufolge auch keinen Mechanismus für Wiedergutmachung enthalten. Dieser war ebenfalls vom EU-Parlament gefordert worden, damit Opfer von Zwangsarbeit eine Entschädigung auch von EU-Firmen einfordern können. Peking wird die Gesetzesvorlage – und den für Oktober erwarteten Vorschlag für ein Instrument gegen wirtschaftlichen Zwang – genau beobachten. Wang Hongjian, Wirtschaftsgesandter an die EU, warnte vergangene Woche erneut vor zunehmenden Protektionismus. “Grüne Zusammenarbeit kann nicht in einem Vakuum gefördert werden”, sagte Wang bezüglich Kooperation im Klimaschutz. ari
Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sind bei der Parlamentswahl in Schweden laut Prognosen klar stärkste Kraft geworden. Die Partei erhielt nach Angaben des Rundfunksenders SVT am Sonntag etwa 29,3 Prozent der Stimmen. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten kamen demnach auf etwa 20,5 Prozent. Damit sind sie auf dem Weg zu einem Rekordergebnis und werden wohl erstmals zweitstärkste politische Kraft im Reichstag in Stockholm. Die Moderaten von Ulf Kristersson lagen den Angaben zufolge bei 18,8 Prozent. Das wäre ihr schlechtestes Ergebnis seit 2002.
Unklar blieb zunächst, welches politische Lager am Ende die Mehrheit der Mandate auf seiner Seite haben wird: Anderssons Seite lag mit 49,8 Prozent knapp vor dem konservativ-rechten Block von Kristersson einschließlich der Schwedendemokraten mit 49,2 Prozent. Der Sender TV4 sah Anderssons Lager etwas deutlicher vorne.
Umfragen hatten die beiden Lager schon vor dem Wahltag nahezu gleichauf gesehen. Bei der Parlamentswahl vor vier Jahren wichen die ersten Prognosen teils um mehrere Prozentpunkte vom finalen Wahlergebnis ab – die Moderaten konnten die Schwedendemokraten am Ende doch noch überholen. dpa
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hatte im Mai seine Idee einer Europäischen Politischen Gemeinschaft vorgestellt (Europe.Table berichtete), nun nimmt das Konzept Form an: Ein erstes Treffen werde am Rande des informellen Europäischen Rates in Prag am 7. Oktober stattfinden, kündigte Ratspräsident Charles Michel bei seinem Berlin-Besuch am Freitag an. Dies sei eine Gelegenheit für die EU-Staat- und Regierungschefs, “sich intensiv mit Ländern auszutauschen, die auf dem europäischen Kontinent beheimatet sind und eine gemeinsame Position zu einigen Themen vertreten”.
Die politische Plattform werde künftig ein- bis zweimal pro Jahr auf Ebene der Staats- und Regierungschefs tagen, sagte Michel, und solle dazu dienen, den Dialog sowie das gegenseitige Verständnis zu fördern. Emmanuel Macron hatte die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) vorgeschlagen, um etwa die Länder auf dem Westbalkan oder die Ukraine enger an die EU zu binden. Dadurch wollen die Europäer verhindern, dass die Staaten während des sehr langwierigen Beitrittsprozesses unter zu starken Einfluss anderer Mächte geraten, etwa Russlands, Chinas oder der Türkei. Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt die Idee, betonte zuletzt aber, die EPG dürfe keine Alternative zum EU-Beitritt sein. tho
Kürzlich war Jana Puglierin beim Podcast Brussels Sprouts zu Gast und tat, was sie häufig tut: einem nicht-deutschen Publikum erklären, was eigentlich mit den Deutschen los ist.
Es ging um den Besuch des Bundeskanzlers in Prag und die Rolle Deutschlands in der EU seit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine. Dass Olaf Scholz die tschechische Hauptstadt gewählt hat für seine europapolitische Grundsatzrede, hält Puglierin für einen gekonnten Versuch, verlorenes Vertrauen in Ost- und Mitteleuropa zurückzugewinnen. Sechs Monate nach der angekündigten Zeitenwende ist der Tenor in vielen osteuropäischen Ländern, dass Deutschland nicht geliefert hat. “Berlin wurde den Erwartungen, die in es gesetzt wurde, nicht gerecht”, erklärt die Politikwissenschaftlerin in dem US-amerikanischen Podcast.
Puglierin, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations, ist seit Ausbruch des Krieges ein sehr gefragter Interview-Gast. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit Außen-, Sicherheits– und Verteidigungspolitik. “Das sind keine Nischenthemen für die Hinterzimmer, sondern sie geht alle etwas an”, sagt sie. Um dafür ein Bewusstsein zu wecken, nimmt die 44-Jährige die Einladungen zu Talkshows, Radiointerviews, Podiumsdiskussionen und Podcasts wahr. Dort versucht sie zu erklären, warum sich Deutschland nicht wegducken kann, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht.
“Ich habe mir lange anhören müssen, wo denn die Bedrohung sei”, sagt Puglierin. Sie ist eine derjenigen, die schon seit langem fordert, dass Deutschland seine Verteidigungsausgaben erhöht und eine schlagkräftige Armee braucht. Die Annahme, dass das Phänomen des Krieges Europa für immer verlassen hat, fand sie schon immer “ahistorisch”. “Dass meine Elterngeneration keinen Krieg erlebt hat, halte ich für einen glücklichen Zufall.”
Der Konflikt mit Russland kann nicht ausgesessen werden, ist sie überzeugt. “Wir müssen es schaffen, die Einheit des Westens zu erhalten, einen Umgang mit Desinformation zu finden und gleichzeitig einen heißen Konflikt mit Russland vermeiden”, fordert sie. Beeindrucken lasse sich Putin jedoch nur durch militärische Stärke, weshalb es im ureigensten Sicherheitsinteresse Deutschlands und der EU sei, wehrfähig zu sein.
Damit macht sie sich nicht nur Freunde – wie auch andere Analysten und Expertinnen, die für Aufrüstung plädieren. Nach einem Talkshow-Auftritt landen häufig Nachrichten in ihrem Mailpostfach, in denen Menschen unter ihrem Klarnamen teilweise seitenlange Beleidigungen oder Beschimpfungen loslassen. Mit ihrer Freundin Claudia Major, Sicherheitsexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), scherzt sie auf Twitter, irgendwann mal einen Poetry Slam mit den schlimmsten Zuschriften zu veranstalten.
Die Thinktankerin reist häufig und nimmt in ganz Europa und den USA an Veranstaltungen teil. “Ein großer Teil meiner Aufgabe ist, im Ausland zu erklären, wie die Stimmung und die politische Debatte in Deutschland sind.” Andererseits ist es ihr wichtig, immer wieder die deutsche Brille abzustreifen und mit anderen Sichtweisen konfrontiert zu werden.
Die gesamteuropäische Perspektive einzunehmen, um den größten strategischen Herausforderungen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu begegnen, ist auch das Ziel des ECFR. Der Thinktank unterhält sieben Büros in verschiedenen europäischen Hauptstädten und vernetzt Entscheidungsträger, Aktivisten und Multiplikatoren miteinander.
“Deutschland als Akteur in Europa bleibt eine zentrale Frage, weil wir so reich und groß sind und alle auf uns schauen”, sagt Puglierin. Das positive Gefühl von 1989, als Europa plötzlich zusammenwuchs, leite sie auch heute noch an in ihrer Arbeit. Mehr denn je ist sie davon überzeugt, dass die EU zum Erfolg verdammt ist. “Ich wünsche mir, dass die EU aus dieser Erfahrung, dass ein Krieg möglich ist, sich darauf besinnt, was man an ihr hat.” Ulrike Christl