Table.Briefing: Europe

Alternativen zu russischem Gas + Produkthaftung und KI + Rohstoffversorgung

  • Gaskrise: Die Suche nach Import-Alternativen
  • Neue EU-Vorschriften für Produkthaftung geplant
  • EU-Staaten wollen unabhängiger werden bei Rohstoffen
  • Sustainable Aviation Fuels: EU-Länder fordern ehrgeizigere Ziele
  • Bundesregierung lässt Verkauf von Siltronic scheitern
  • BSI vergibt erstes IT-Sicherheitskennzeichen
  • Jean-Bernard Lévy im Portrait
Liebe Leserin, lieber Leser,

Tag der Entscheidung: Heute will die Europäische Kommission ihren delegierten Rechtsakt zur Ergänzung der Taxonomie vorstellen und darin Kernenergie und Erdgas unter bestimmten Bedingungen als nachhaltige Übergangslösungen einstufen. Ob die Behörde ihren umstrittenen Entwurf noch einmal nachbearbeitet hat, ist offen. Grundlegende Veränderungen hatte Finanzkommissarin Mairead McGuinness jedoch ausgeschlossen. Dennoch pochten vier EU-Staaten kurz vor der endgültigen Entscheidung noch einmal auf Nachbesserungen: Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande forderten am Dienstag in einem gemeinsamen Brief an die Kommission, Erdgas dürfe nicht als “grün” eingestuft werden.

Rund fünf Monate nach ihrer Fertigstellung ist die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 noch nicht in Betrieb. Die Bundesnetzagentur hatte die Zertifizierung des Milliarden-Projekts ausgesetzt, bis die Betreibergesellschaft die EU-Vorgaben zur Entflechtung zwischen Netzbetrieb und Erdgashandel umsetzt. Zwar hat die Nord Stream 2 AG die Auflage mit der Gründung einer deutschen Tochterfirma vergangene Woche formal erfüllt. Dennoch seien weitere Prüfungen notwendig, teilte die BNetzA mit.

Dabei wird immer fraglicher, ob die Pipeline, die russisches Gas über die Ostsee nach Deutschland transportieren soll, jemals in Betrieb gehen wird. Schließlich ist das Infrastruktur-Projekt Bestandteil möglicher Sanktionen des Westens gegen Russland im Ukraine-Konflikt. Bei einem Besuch in Kiew sicherte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, der Ukraine gestern Unterstützung zu. Die Prüfung einer Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 durch die EU liege auf Eis und Brüssel werde alles tun, um zu verhindern, dass der Kreml die Lieferung von Erdgas “als Waffe” einsetze.

Dennoch wird ein möglicher Totalausfall russischer Gaslieferungen in Europa als ernstzunehmende Bedrohung wahrgenommen. Das Worst-Case-Szenario verdeutlicht einmal mehr die Energie-Importabhängigkeit der EU. Während sich die Kommission um Alternativen bemüht, läuft auch in Deutschland die Diskussion an: Sollte man unabhängiger werden von russischem Gas? Das Problem: Die Alternativen sind rar – und haben selbst große Nachteile. Wir haben bei Politik, Industrie und Wissenschaft nachgefragt.

Bietet die über 30 Jahre alte Produkthaftungsrichtlinie aus dem Jahr 1985 im Zeitalter intelligenter und KI-basierter Produkte und Dienstleistungen noch genügend Rechtssicherheit und Verbraucherschutz? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Während Verbrauchervertreter für eine Überarbeitung der Rechtsvorschriften sind, lehnt die Industrie den Vorstoß der EU-Kommission ab. Um mögliche Regelungslücken zu schließen, will die Behörde offenbar sogar zweigleisig fahren. Zum einen soll die bestehende Produkthaftungsrichtlinie überarbeitet werden. Zusätzlich wird über einen eigenen neuen Haftungsrechtsrahmen für künstliche Intelligenz diskutiert. Welche Aspekte dabei besonders umstritten sind, hat Eugenie Ankowitsch analysiert.

Ihr
Timo Landenberger
Bild von Timo  Landenberger

Analyse

Gas-Importe: Teurer Weg aus der Abhängigkeit

Vor allem günstig sollte das Erdgas sein, und nicht allzu klimaschädlich. Das Argument der Versorgungssicherheit hatte bislang, kein allzu großes Gewicht – jedenfalls nicht in Deutschland. Schließlich sei auf Russland, den mit Abstand wichtigsten Gas-Lieferanten, immer Verlass gewesen, so das gängige Argument – selbst in den Hochzeiten des Kalten Krieges.

Die Gefahr eines heißen Krieges in der Ukraine hat jedoch ein Umdenken eingeleitet (Europe.Table berichtete). Die EU-Kommission bemüht sich derzeit, auch auf Drängen der USA, Alternativen zu Gazprom und Co. aufzutun. In Brüssel wie in Washington wird die Gefahr ernst genommen, dass Moskau westliche Sanktionen mit einer Drosselung oder gar einem Stopp der Gaslieferungen nach Europa beantworten könnte. US-Präsident Joe Biden und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatten am Freitag erklärt, sich gemeinsam für eine “kontinuierliche, ausreichende und rechtzeitige Versorgung der EU mit Erdgas” einzusetzen.

Ein Mandat der Mitgliedstaaten hat die Kommission für Verhandlungen mit potenziellen Energielieferanten jedoch nicht. Für diplomatische Initiativen in einem Bereich, der für die ganze EU wichtig sei, sei das aber auch nicht nötig, erklärte Kommissionssprecher Eric Mamer in Brüssel. Man diskutiere schon länger mit internationalen Partnern Wege, um die Energieversorgung zu diversifizieren.

Mit Norwegen und mit Katar stehe Brüssel daher in Kontakt. Diesen Freitag reist Energiekommissarin Kadri Simson zudem nach Aserbaidschan und am Montag mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zum EU-USA-Energierat nach Washington. Ein Gespräch Simsons mit dem katarischen Energieminister am Dienstag brachte aber wenig Fortschritte: Die von der EU benötigte Gasmenge könne von niemandem einseitig ersetzt werden, ohne die Versorgung anderer Regionen in der Welt zu beeinträchtigen, sagte Saad Sherida Al-Kaabi. “Die Energiesicherheit Europas erfordert eine gemeinsame Anstrengung vieler Parteien.”

Beschleunigter Abschied von Gas aus Russland?

Was derzeit noch Vorsorge für den Ernstfall ist, könnte aber einen beschleunigten Abschied von Gas aus Russland einleiten. Über den Green Deal will Europa seine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern langfristig ohnehin reduzieren. “Angesichts der Spannungen im Verhältnis zu Russland drängt sich die Frage auf, ob wir diesen Prozess deutlich beschleunigen und auch bereit sind, dafür höhere Energiekosten zu akzeptieren”, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, zu Europe.Table. Die Diskussion müsse nun auch innerhalb der Bundesregierung geführt werden.

Im Ziel sind sich viele einig: “Wir sollten dahin kommen, dass Russland seine Energielieferungen nicht länger als Druckmittel gegen uns einsetzen kann”, sagt Schmid. Bislang importiert die EU laut EU-Kommission rund 40 Prozent ihres Gases aus Russland, in Deutschland liegt der Anteil noch höher (Europe.Table berichtete). Ein Lieferstopp wäre daher nur schwierig auszugleichen. Doch allein die bewusste öffentliche Kommunikation mit potenziellen weiteren Energiepartnern sei geopolitisch bereits sinnvoll, sagt der österreichische EU-Abgeordnete Andreas Schieder (S&D). “Wenn in diesem Kontext gegenüber Russland klare Alternativen aufgezeigt werden, dann ist das auch eine logische Konsequenz der bewussten Provokationspolitik Russlands.”

Pläne für LNG-Terminals in Deutschland

Wie das Ziel allerdings tatsächlich erreicht werden kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. SPD-Politiker Schmid verweist auf die Überlegungen in der Bundesregierung, eine strategische Gasreserve anzulegen (Europe.Table berichtete). Denn: Deutschlands Gasspeicher sind ungewöhnlich leer, nach Daten von Gas Infrastructure Europe lag der Füllstand am 30. Januar nur noch bei knapp 37 Prozent. Um künftig besser gewappnet zu sein, schließt Schmid auch eine staatliche Lösung für die Reserven nicht aus.

Die US-Regierung drängt die Europäer wiederum, verstärkt auf Flüssigerdgas aus den Vereinigten Staaten oder Katar zu setzen. 28 LNG-Terminals existieren bereits in der EU, neue werden gebaut: So kündigte Griechenland jüngst an, in Alexandroupolis einen zweiten Terminal zu bauen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt inzwischen Pläne, “einen oder mehrere” LNG-Terminals in Deutschland zu bauen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag sagte. 

Entsprechende Vorhaben gibt es schon länger, aber sie waren in Deutschland nicht mit Nachdruck verfolgt worden. Ein Grund: “Es ist kein Geheimnis, dass diese Terminals reine Türöffner für Fracking-Gas aus den USA sind”, sagt der CDU-Energiepolitiker Markus Pieper. Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer warnt daher, die EU in eine Alternativ-Sackgasse” zu steuern.  

Bütikofer fordert vielmehr ein Aus für Ostsee-Pipeline Nord Stream 2: “Solange Erdgas Teil in unserem Energiemix ist, sollten wir darauf drängen, dass Russland beim Gasexport in die EU von der Ukraine abhängig bleibt”. Das schaffe mehr Sicherheit für die Ukraine und verhindere die “Fehlinvestition in neue fossile Infrastruktur”. 

Hohe LNG-Preise gefährden Industrie

Nina Scheer, die energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, verweist zudem auf die hohen Kosten von Flüssigerdgas: “Die Frage nach weiteren LNG-Mengen sollte nicht ohne Beachtung preislicher Auswirkungen beantwortet werden.” Überdies sei Russland seinen Lieferverpflichtungen bislang immer gerecht geworden.

Ähnlich argumentiert die Industrie. Erdgas sei derzeit der wichtigste Energieträger in der Chemieindustrie und zugleich ein wichtiger Rohstoff in der Produktion, sagte ein Sprecher des Branchenverbandes VCI. Aufgrund der aktuell hohen Gaspreise sei bereits die Ammoniakproduktion an mehreren Standorten gedrosselt worden. Hohe Gaspreise hätten negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, so der VCI. “Teureres LNG würde diese Effekte noch verstärken.” 

E.ON-Chef Leonhard Birnbaum verweist zudem auf die begrenzte Verfügbarkeit von Flüssigerdgas. Ein großer LNG-Tanker könne in etwa soviel Gas transportieren wie Nord Stream 1 an einem Tag. Nord Stream 2 sei daher schwer zu ersetzen. Dies gelte insbesondere, wenn Deutschland mehr auf Gas setze, um die Kohlekraftwerke zu ersetzen. “Dann sollten wir nicht darüber nachdenken, wie wir das ohne russisches Gas machen.” 

Ohne Gas aus Russland werde Energieversorgung “sehr schwierig”

Ganz ohne Gas-Importe aus Russland werde die Energieversorgung “sehr schwierig und vor allem sehr teuer”, sagt auch Christian Egenhofer, Wissenschaftler beim Centre for European Policy Studies (CEPS). Denn diese hänge dann fast vollständig von der globalen Marktordnung ab. “Wenn in Asien die Wirtschaft brummt, dann steigen dort die Gaspreise und Europa muss sie toppen, um die Lieferungen nicht zu verlieren.”

Hohe Gaspreise würden wiederum dazu führen, dass für die Stromerzeugung wieder mehr Kohle verbrannt werde. Und energieintensive Industriezweige, die bei ihren Herstellungsprozessen auf den Einsatz von Erdgas angewiesen seien, müssten ihre Produktion drosseln oder einstellen.   

Bestehende Infrastruktur reicht nicht

Laut Jacopo Pepe, Energieexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, sei außerdem fraglich, ob die benötigten Gas-Volumina über die bestehenden LNG-Terminals und Infrastrukturen überhaupt abgewickelt werden könnten. “Wir haben in der EU etwa 110 Milliarden Kubikmeter an Kapazitäten frei. Wenn russische Lieferung ganz ausfallen sollten, würden noch etwa 30 bis 40 Milliarden Kubikmeter fehlen.” 

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der Brüsseler Thinktank Bruegel. Einer Studie zufolge beliefen sich die russischen Erdgasexporte in die EU im Jahr 2021 auf 1.550 TWh über Pipelines und rund 120 TWh über LNG-Tanker. Dies bedeutet, dass rund 1.700 TWh ersetzt werden müssten, sollte Russland seine Erdgasexporte nach Europa vollständig einstellen. Die bestehenden Terminals könnten aber nur rund 1.100 TWh zusätzlicher LNG-Einfuhren in die EU bewältigen, heißt es in dem Dokument. 

Daneben stünde bei einer entsprechenden Umstellung auch das EU-Gasnetz vor einer Herausforderung, schreiben die Autoren. Schließlich sei dieses darauf ausgelegt, Importe von Osten Richtung Westen zu den Verbrauchern zu bringen. Technisch sei das aber auch andersherum machbar, so Energieexperte Pepe. “Das Flüssiggas wird in den Hafen-Terminals verdampft und ins Gasnetz eingespeist. Gegebenenfalls müsste bei manchen Pipelines die Fließrichtung geändert werden.” Aber auch das sei nichts Neues. Schließlich exportiere Deutschland derzeit Gas aus Russland entgegen der üblichen Richtung in die Ukraine. 

Und auch die Umweltbedenken hinsichtlich der Förderung von Fracking Gas müssten ins Verhältnis gesetzt werden: “Bei den Pipelines hat man Leckagen. Bei LNG hat man sowohl Emissionen beim Transport als auch erhebliche Umweltschäden beim Fracking”, sagt Pepe. Umweltpolitisch sei das sprichwörtlich die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Till Hoppe, Timo Landenberger, Stephan Israel und Lukas Scheid

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    Produkthaftung und KI: Kommission arbeitet an neuen Vorschriften

    Die Produkthaftungsrichtlinie gilt für alle beweglichen Produkte unabhängig von der von ihnen verwendeten Technologie, und daher eigentlich auch für Künstliche Intelligenz-gesteuerte Produkte. Sie soll Schutz auf einer Ebene bieten, die von der nationalen verschuldensabhängigen Haftung allein nicht abgedeckt ist. Mit ihr wird ein System der verschuldensunabhängigen Haftung des Herstellers.

    Eine Evaluierung im Auftrag der EU-Kommission ergab jedoch, dass es aufgrund ihrer veralteten Konzepte und Begrifflichkeiten schwierig war, die Richtlinie auf Produkte in der digitalen Wirtschaft und der Kreislaufwirtschaft anzuwenden. Außerdem sei es für die Verbraucher kompliziert, eine Entschädigung zu erhalten. Insbesondere wenn es darum geht, nachzuweisen, dass komplexe Produkte fehlerhaft waren und den Schaden verursachten. Ob immaterielle Gegenstände wie digitale Inhalte, Software, Algorithmen und Daten unter die Richtlinie fallen, vor allem wenn sie getrennt von einem materiellen Produkt bereitgestellt werden, sei ebenfalls nicht klar.

    Revision der Produkthaftungsrichtlinie

    Um die im Bericht aufgezeigten Regelungslücken wieder zu schließen, will die Europäische Kommission offenbar zweigleisig fahren. Zum einen soll die bestehende Produkthaftungsrichtlinie überarbeitet werden. Zusätzlich wird über einen eigenen neuen Haftungsrechtsrahmen für künstliche Intelligenz diskutiert. Ein Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie könnte im 3. Quartal 2022 kommen.

    Verbraucherorganisationen und NGOs begrüßen den Vorstoß der Kommission. So empfiehlt etwa der Europäische Verbraucherverband (Bureau Européen des Unions de Consommateurs, BEUC) in der Stellungnahme zur Konsultation der EU-Kommission eine umfassende Überarbeitung der EU-Produkthaftungsrichtlinie. Aus Verbraucherperspektive sei die Richtlinie den Herausforderungen der neuen Technologien nicht mehr gewachsen und lasse viele Fragen offen.

    Neudefinition von Schlüsselbegriffen

    Es sei etwa unbedingt erforderlich, Schlüsselbegriffe wie “Produkt”, “Fehler” und “Schaden” zu überprüfen und zu aktualisieren. BEUC fordert außerdem, dass der Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Produkts nicht mehr der entscheidende Zeitpunkt für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit ist.

    Obwohl die Begriffsbestimmung für “Produkt” in der Produkthaftungsrichtlinie weit gefasst ist, könnte ihr Anwendungsbereich weiter präzisiert werden, heißt es auch im Kommissionsbericht über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz, des Internets der Dinge und der Robotik in Hinblick auf Sicherheit und Haftung. Damit würde man der Komplexität neuer Technologien besser Rechnung tragen.

    Die Industrie spricht sich wenig überraschend gegen eine Revision der Haftungsrichtlinie aus. “Der bisherige Rechtsrahmen ist bewusst technologieoffen gestaltet. Er hat sich bewährt und funktioniert gut. Auch die Änderungen, die das digitale Zeitalter mit sich bringen, führen nicht zu einer Erforderlichkeit der Revision”, heißt es etwa in einer Stellungnahme des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed). Ein Eingriff in dieses System könne zu zusätzlichen Kosten, insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, führen. Dadurch könnten dringend benötigte Investitionen aufgeschoben werden. 

    Beweislastumkehr: Ein No-Go für die Industrie

    Besonders umstritten ist eine mögliche Beweislastumkehr zugunsten der Verbraucher:innen. KI-Anwendungen sind häufig in komplexe IoT-Umgebungen (Internet of Things) integriert, in denen viele verschiedene vernetzte Geräte und Dienste interagieren. Aufgrund der Komplexität dieser Technologien kann es für die Opfer sehr schwer sein, die haftbare Person zu ermitteln und alle nach nationalem Recht erforderlichen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Anspruch nachzuweisen. Die Kosten dafür könnten wirtschaftlich untragbar sein und die Opfer davon abhalten, eine Entschädigung zu verlangen, heißt es im Bericht der EU-Kommission.

    Deshalb wird nun eine Beweislastumkehr oder zumindest eine Erleichterung diskutiert. Betroffen wären vor allem nationale Vorschriften. Denn laut der der europäischen Produkthaftungsrichtlinie gilt ein Produkt, das die verbindlichen Sicherheitsvorschriften nicht erfüllt, unabhängig vom Verschulden des Herstellers als fehlerhaft.

    Die Industrie lehnt die Beweislastumkehr strikt ab. So besteht etwa nach Ansicht des BVMed bereits unter dem geltenden europäischen und nationalen Recht eine angemessene Beweislastverteilung einschließlich Beweiserleichterungen. Starre Beweisregeln oder gar eine generelle Beweislastumkehr würden vielmehr die Gefahr bergen, dass “sorgfältig austarierte Risikoverhältnis” zwischen Unternehmen und Verbraucher:innen zu zerstören. Außerdem sei zu bedenken, dass eine Beweislastumkehr einen starken Eingriff in nationales Zivilprozessrecht darstellen würde.

    Der Europäische Verbraucherverband spricht sich hingegen dafür aus. Derzeit seien die Hürden für Kläger zu hoch. Der digitale Kontext habe die Schwierigkeiten bei der Beweisführung sogar verschärft und die Informationsasymmetrien zwischen Klägern und Beklagten vergrößert, heißt es in der Stellungnahme der Verbrauchervertreter.

    Immaterielle Schäden berücksichtigen

    Für heftige Diskussionen dürfte auch die Überlegung sorgen, die Liste der Schadensersatz-Ansprüche auf immaterielle (beispielsweise psychologische) Schäden, den Datenverlust oder Umweltschäden auszuweiten. So könnte etwa ein Hersteller von KI-gestützten humanoiden Robotern verpflichtet werden, den immateriellen Schaden zu berücksichtigen, den ihre Produkte bei schutzbedürftigen Nutzern wie älteren, in Pflege befindlichen Menschen verursachen könnten. Derzeit kann jeder Mitgliedstaat selbst entscheiden, ob für immaterielle Schäden Schadenersatz geleistet wird.

    Der BVMed lehnt diesen Vorstoß ab. Schäden im Zusammenhang mit Datenschutzverstößen oder einem Datenverlust seien bereits durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) abgedeckt. Ein Schadensersatzanspruch in Bezug auf Umweltschäden sollte – soweit dies für erforderlich gehalten wird – spezialgesetzlich in entsprechenden Umweltgesetzen geregelt werden. Darüber hinaus betont der Verband, dass die verschuldensunabhängige Haftung nach der Produkthaftungsrichtlinie an strenge Herausforderungen geknüpft ist und nur für besonders wichtige Rechtsgüter gelten sollte.

    Eine eigene Produkthaftungsrichtlinie für Künstliche Intelligenz

    Für Hoch-Risiko-KI-Systeme will die Kommission offenbar eigene Haftungsvorschriften entwickeln. Durch deren spezifische Eigenschaften, wie die Komplexität, Konnektivität, Autonomie und Opazität und den damit einhergehenden “Blackboxeffekt”, könnte es aus Sicht der Kommission für Geschädigte schwierig werden, Schadenersatz auf Grundlage der Produkthaftungsrichtlinie oder nationaler Vorschriften über die verschuldensabhängige Haftung zu erhalten. Denn gerade bei diesen Systemen sei es besonders schwierig, die Fehlerhaftigkeit eines Produkts beziehungsweise das Verschulden sowie den ursächlichen Zusammenhang mit dem Schaden zu beweisen.

    Auch hier spricht sich der BVMed gegen einen neuen Rechtsrahmen aus. Die gefürchtete Komplexität lernender Systeme sollte vielmehr in transparenten Vorgaben für die Entwicklung und die Dokumentation der Systeme auf der regulatorischen Ebene begegnet werden. Für Verstöße gegen diese materiellen Vorgaben sei auch nach dem bisherigen System eine Haftung des Verantwortlichen gegeben, heißt es in der BVMed-Stellungnahme.

    Sorgfältige Abstimmung gefordert

    Auch der Verbraucherverband BEUC ist der Ansicht, dass sich viele der Probleme im Zusammenhang mit digitaler und künstlicher Intelligenz durch eine ehrgeizige Überarbeitung der Produkthaftungsrichtlinie lösen ließen. Aus Sicht der Verbraucher:innen spiele es keine Rolle, in welche Kategorie das KI-System, das den Schaden verursacht hat, eingestuft wurde.

    Der Verband appelliert außerdem an die Kommission, die verschiedenen Initiativen zur zivilrechtlichen Haftung und den derzeit anhängigen EU-Gesetzgebungen, darunter der Digital Services Act, die Revision der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit und die KI-Verordnung, sorgfältig aufeinander abzustimmen. All diese Initiativen seien in der Praxis eng miteinander verflochten und müssten zusammen betrachtet werden.

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      EU-Staaten wollen unabhängiger werden bei Rohstoffen

      Die EU-Staaten wollen die Abhängigkeit von Drittstaaten bei kritischen Rohstoffen verringern. “Wir müssen uns auf künftige Lieferkettenunterbrechungen vorbereiten“, sagte Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič nach dem informellen Wettbewerbsfähigkeitsrat im französischen Lens. Diese seien “nicht eine Frage des Ob, sondern des Wann”. Europa sei derzeit stark abhängig von einer kleinen Zahl von Nicht-EU-Ländern, in denen überdies oft niedrigere Umwelt- und Sozialstandards gälten.

      Unter den Mitgliedsstaaten habe es breite Unterstützung dafür gegeben, für die Diversifizierung neue Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Kanada einzugehen, hieß es. Erforderlich seien zudem massive Investitionen in die Forschung, um den Bedarf an kritischen Rohstoffen etwa in der Batterieproduktion zu verringern, sagte die französische Industriestaatssekretärin Agnes Pannier-Runacher. Bei Lithium etwa sehe man bereits Rekordpreise, eine Knappheit sei absehbar, warnte Šefčovič.

      Deutschland und andere Mitgliedsstaaten sprachen sich zudem für gesetzliche Vorgaben für die Ressourceneffizienz und Wiederverwertung von Rohmaterialien aus. “Die Kommission sollte ein ehrgeiziges Gesetzespaket vorlegen, um die Kreislaufwirtschaft für Rohstoffe anzukurbeln”, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima, Franziska Brantner, Europe.Table. Gerade bei kritischen Rohstoffen für Klimaschutztechnologien wie Batterien oder Windkraftanlagen müssten die Abhängigkeiten der EU reduziert werden, so die Grünen-Politikerin.

      Förderung von kritischen Rohstoffen in der EU umstritten

      Die Kommission erarbeitet derzeit ein Legislativpaket zur Circular Economy, das für Ende März terminiert ist. Industriekommissar Thierry Breton hielt sich bedeckt zu dessen konkreten Inhalten. Es wird aber erwartet, dass es Vorgaben für die Hersteller einer breiten Palette von Produkten enthalten wird, um diese zu Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit ihrer Waren zu verpflichten.

      Umstrittener ist, in welchen Ausmaß die EU-Staaten die gefragten Rohstoffe selbst fördern sollen, um die Importabhängigkeit zu verringern (Europe.Table berichtete). Laut Breton könne die EU 20 bis 25 Prozent ihres Bedarfs an Seltenen Erden selbst bedienen. Dafür brauche es aber die entsprechenden Verarbeitungskapazitäten. Für Magnesium, das etwa in der Autoindustrie gebraucht wird, hat die Kommission das Ziel ausgegeben, bis 2030 rund 15 Prozent der globalen Produktion in Europa anzusiedeln. tho

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        Sustainable Aviation Fuels: EU-Länder fordern ehrgeizigere Ziele

        Insgesamt sieben EU-Länder appellieren an die EU-Kommission, bei ihren Klimaschutzplänen für die Luftfahrt auch ehrgeizigere nationale Ziele zuzulassen. Aus Sicht der Länder gebe es mehr Spielraum mit Blick auf die Nutzung von sogenanntem Sustainable Aviation Fuel (SAF), heißt es in einem Schreiben der Länder an die zuständigen EU-Kommissare Adina Vălean (Verkehr) und Frans Timmermans (Green Deal). Dazu müsse es den Mitgliedstaaten erlaubt werden, über EU-Mindeststandards hinauszugehen.

        Der Kommissionsvorschlag “ReFuel EU Aviation” ist Teil des Fit-for-55-Pakets und sieht eine SAF-Quote von zwei Prozent im Jahr 2025 vor. 2030 soll die Quote auf fünf Prozent ansteigen und bis 2050 in weiteren Zwischenschritten auf 63 Prozent. Die Unterzeichner-Staaten Dänemark, Österreich, Luxemburg, Schweden, Finnland, Niederlande und Deutschland fordern, dass Länder diese Quoten individuell auch überbieten dürfen.

        Sustainable Aviation Fuels als Alternative zu fossilem Kerosin

        Sustainable Aviation Fuels seien einer der effektivsten Wege, um Emissionen des Luftverkehrs kurz- und mittelfristig zu reduzieren, heißt es in dem Schreiben von Dienstag, das Europe.Table vorliegt. Ehrgeizigere Ziele in einzelnen EU-Ländern würden auch den Wettbewerb innerhalb der Union nicht verzerren. Höhere Ziele könnten auch die Grundlage für die Entwicklung neuer innovativer Ansätze und Technologien bilden. SAF-Technologien seien verfügbar, aber man brauche Investitionen, um die Produktion zu steigern und die Kosten für SAF zu senken, heißt es. Der dänische Umweltminister Dan Jorgensen beklagte, dass die EU-Pläne hinter denen seiner Regierung zurückblieben. Dänemark wolle bereits 2030 einen CO2-freien Luftverkehr.

        Sustainable Aviation Fuels gelten als aussichtsreiche Alternative zu fossilem Kerosin. Die Kraftstoffe werden eingesetzt, da die Luftfahrt noch weit entfernt ist von einem Elektro- oder Wasserstoffantrieb für große Flugzeuge. Sie können aus organischen Abfällen, wie Holzresten, Tierfetten oder Speiseöl aufbereitet werden, oder synthetisch durch Power-to-Liquid-Prozesse hergestellt werden. rtr/luk

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          Bundesregierung lässt Verkauf von Siltronic scheitern

          Der Münchner Chip-Zulieferer Siltronic kann nicht nach Taiwan verkauft werden. Wie erwartet ließ das Bundeswirtschaftsministerium die 4,35 Milliarden Euro schwere Übernahme durch den größeren Konkurrenten Global Wafers nach 14-monatiger Prüfung platzen (Europe.Table berichtete). Die Regierung ließ die Frist verstreichen, innerhalb der die Taiwaner die Freigabe nach dem Außenwirtschaftsgesetz gebraucht hätten. Am Ende sei die Zeit zu knapp gewesen, um die Folgen der Auflagen der chinesischen Wettbewerbshüter für Siltronic zu prüfen, sagte eine Ministeriumssprecherin in der Nacht zum Dienstag. Global Wafers könne aber einen neuen Anlauf nehmen. Ob Vorstandschefin Doris Hsu das will, ließ sie offen.

          Global Wafers schließt zweites Angebot nicht aus: Siltronic-Aktie steigt

          Sie bezeichnete die ausgebliebene Zustimmung aus Berlin als “sehr enttäuschend”. Global Wafers werde “die Nicht-Entscheidung der deutschen Regierung analysieren und deren Auswirkungen auf unsere zukünftige Investitionsstrategie prüfen“. Bis Sonntag werde das Unternehmen entscheiden, wie es das Geld nun investieren wolle, das Global Wafers für Siltronic ausgegeben hätte. Denkbar ist der Bau einer neuen Siliziumscheiben-Fabrik außerhalb Europas, um die Kapazitäten auszubauen. Aus den USA werden die Taiwaner heftig umworben.

          Dass Global Wafers ein zweites Übernahmeangebot offenbar nicht ausschließt, ließ die Siltronic-Aktie am Dienstag um bis zu acht Prozent auf 125,80 Euro nach oben schnellen. Börsianer setzen darauf, dass Global Wafers dann mehr bieten müsste, weil die Chip-Konjunktur seit dem ersten Angebot im Herbst 2020 deutlich angezogen hat. Dann ginge auch die Investitionsprüfung durch die Bundesregierung von Neuem los. Global Wafers hält noch 13,7 Prozent an Siltronic.

          Opposition unterstützt Entscheidung

          Hannes Walter (SPD), der Vize-Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, stellte sich hinter die Entscheidung: “Technologische Souveränität gewinnen wir nicht dadurch, dass wir unser Tafelsilber veräußern”, sagte er dem Handelsblatt. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Julia Klöckner, verwies darauf, dass Deutschland als Investitionsstandort begehrt sei. “Gerade deswegen ist es richtig, dass wir auch unsere Sicherheitsinteressen im Blick halten.”

          Auch Siltronic-Großaktionär Wacker kritisierte die Entscheidung aus Berlin. “Durch den Zusammenschluss wäre ein führender Anbieter der Industrie mit starken europäischen Wurzeln entstanden, der über ein umfassendes Produktportfolio verfügt”, sagte der Vorstandschef des Münchner Chemiekonzerns, Christian Hartel. Das wäre auch im Interesse der deutschen und europäischen Chipindustrie gewesen. Dem Familienunternehmen entgehen damit zunächst 1,3 Milliarden Euro. Von dem Siltronic-Aktienpaket von 30,8 Prozent will sich Hartel weiterhin trennen, sieht Wacker dabei aber nicht unter Zeitdruck. “Das Unternehmen ist technologisch hervorragend aufgestellt und arbeitet sehr profitabel.” rtr

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            BSI vergibt erstes IT-Sicherheitskennzeichen

            Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat sein erstes IT-Sicherheitskennzeichen an den deutschen E-Mail-Anbieter Mail.de verliehen. Das Gütesiegel werde den Verbrauchern dabei helfen zu erkennen, wie sicher ein IT-Produkt sei, erklärte BSI-Präsident Arne Schönbohm am Dienstag beim 18. Deutschen IT-Sicherheitskongress.

            BSI-Präsident: IT-Sicherheitskennzeichen künftig als Kaufkriterium

            Schönbohm kündigte an, in absehbarer Zeit auch einen Breitbandrouter mit einem solchen Gütesiegel auszuzeichnen. Weitere Kategorien für das neue Kennzeichen seien das Internet der Dinge, Smart-TVs und das Smart Home. Der BSI-Präsident könne sich gut vorstellen, dass sich das IT-Sicherheitskennzeichen zu einem Kaufkriterium entwickle. Das Zertifikat beruht auf Selbstverpflichtungen der Hersteller, die vom BSI auf Plausibilität hin überprüft werden.

            Zur Eröffnung des Kongresses hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärt, die Bundesregierung wolle dafür sorgen, dass Hersteller künftig für Schäden haften, die fahrlässig durch Software-Schwachstellen in ihren Produkten entstanden sind.

            Das BSI, das den digitalen Kongress organisiert hat, soll nach den Worten der Ministerin zu einer “Zentralstelle im Bund-Länder-Verhältnis” ausgebaut werden und damit die föderale Zusammenarbeit erheblich verbessern. Es sei wichtig, hier die Voraussetzung für eine dauerhafte Koordinierung zu schaffen. Bisher sei die Unterstützung des BSI in den Ländern nur im Einzelfall im Wege der Amtshilfe möglich.

            Ebensolche leistet das Bundesamt für IT-Sicherheit auch im Ausland: Die Platzierung von Falschmeldungen und Warnungen an die Bevölkerung auf staatlichen ukrainischen Websites vor einigen Wochen durch Hacker sei angesichts der angespannten Lage dort “hochgefährlich”, sagte Faeser. Die Bundesregierung habe der Ukraine deshalb konkrete Hilfe angeboten. Wenn die Ukraine dies wünsche, könne das BSI bei der Aufklärung des Vorfalls und der Stärkung der Widerstandsfähigkeit ukrainischer Systeme helfen. dpa

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              Jean-Bernard Lévy leitet den französischen Energiekonzern Electricité de France (EDF)
              Jean-Bernard Lévy leitet den französischen Energiekonzern EDF.

              Die meisten werden es beim Blick auf die letzte Monatsrechnung bemerkt haben: Strom und Gas sind so teuer wie noch nie. Politische Spannungen mit Russland machen die europäische Gasversorgung unberechenbar, die Preise für fossile Brennstoffe schießen in die Höhe und die anhaltende Pandemie macht alles noch komplizierter. Dagegenhalten muss Jean-Bernard Lévy, Geschäftsführer von Electricité de France (EDF), eines der größten Energieversorgungsunternehmen der Welt.

              Als “Kapitän der französischen Wirtschaft”, wird Jean-Bernard Lévy von den Medien oft bezeichnet. Und scheinbar ruft man ihn immer dann zur Hilfe, wenn das Schiff in Schieflage gerät. Ab 2002 holte man ihn bei Firmen wie Vivendi und Thales an Bord, um die Finanzen wieder ins Lot bringen. Und so war es wohl auch im Jahr 2014, als der damalige Präsident François Hollande Lévy für den Posten des Geschäftsführers von Electricité de France nominierte – eine privatrechtliche Aktiengesellschaft, die zu 84 Prozent dem französischen Staat gehört.

              Konfrontiert mit einem ernüchternden Schuldenberg von 42 Milliarden Euro griff der neue Leiter des Energiekonzerns mit strengen ersten Amtshandlungen durch: Kosten minimieren, Gehälter einfrieren und Tarife erhöhen. Damit nicht genug. Um den Stromproduzenten aus wirtschaftlichen Turbulenzen zu steuern, hat Lévy eine großangelegte Vision mitgebracht: Frankreich soll der Weltmeister der CO2-Neutralität werden. Erreichen will er das nicht nur durch erneuerbare Energien, sondern auch mit Investitionen in Atomkraft. Diese Strategie kam bei Emmanuel Macron gut an, der ihn 2018 für ein zweites Mandat erneut an die Spitze des Energieriesen beorderte.

              Kernenergie verstaatlichen, Erneuerbare privatisieren

              Doch Instandhaltung und Ausbau von Kernkraft, die über 75 Prozent des französischen Stroms generiert, ist teuer. Um diese Kosten zu stemmen und Electricité de France für die Energiewende aufzurüsten, arbeitet Jean-Bernard Lévy aktuell an der Umsetzung des Projekts “Hercules”. Es sieht Verhandlungen mit Brüssel vor, durch die die Tarife für Konkurrenten, an die EDF Strom verkauft, angehoben werden sollen. Keine leichte Aufgabe, denn die eigene Regierung hat ganz andere Pläne.

              Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hatte Mitte Januar angekündigt, das Volumen von Atomstrom erhöhen zu wollen, das von EDF zu reduzierten Preisen an seine Konkurrenten verkauft wird. Außerdem will die französische Regierung die Steigerung der reglementierten Tarife für Strompreise 2022 auf vier Prozent limitieren, um die Inflation einzudämmen und Verbraucher:innen zu entlasren. Allerdings auf Kosten von EDF. Bis zu 8,4 Milliarden Euro könnte das den Staatskonzern kosten. Als “echten Schock” bezeichnete Lévy die Entscheidung des Wirtschaftsministers, Gewerkschaften hatten vergangene Woche zum Streik aufgerufen. Wehren kann sich Lévy gegen solche staatlichen Eingriffe allerdings kaum, was die Durchsetzung seiner Pläne erschweren könnte.

              Lévy strebt zudem eine Neuorganisation des Unternehmens an. Die nuklearen Aktivitäten sollen verstaatlicht, Teile des Stromnetzes und die Produktion erneuerbarer Energien für den Privatsektor geöffnet werden. Auch hier gibt es Widerstand. Kritiker fürchten, dass dadurch die Einnahmen der profitablen erneuerbaren Energien privatisiert, während die Last der Investitionen in die Kernenergie auf die Bürger abgewälzt werden würden.

              Ob Hercules erfolgreich umgesetzt wird oder Lévy die Energieversorgung Frankreichs anderweitig umstrukturiert, hängt von diversen Faktoren ab, nicht zuletzt von den Präsidentschaftswahlen. Dass es aber eine Veränderung geben muss, davon ist der EDF-Chef überzeugt: “Die Gesundheitskrise zeigt es, die Gas-Krise zeigt es: Wir befinden uns in einer Abhängigkeit. In ruhigen Zeiten wirkt der Markt stabil, aber sobald es ein Problem gibt, müssen wir uns eingestehen, dass es nicht funktioniert.” Giorgia Grimaldi

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                  Liebe Leserin, lieber Leser,

                  Tag der Entscheidung: Heute will die Europäische Kommission ihren delegierten Rechtsakt zur Ergänzung der Taxonomie vorstellen und darin Kernenergie und Erdgas unter bestimmten Bedingungen als nachhaltige Übergangslösungen einstufen. Ob die Behörde ihren umstrittenen Entwurf noch einmal nachbearbeitet hat, ist offen. Grundlegende Veränderungen hatte Finanzkommissarin Mairead McGuinness jedoch ausgeschlossen. Dennoch pochten vier EU-Staaten kurz vor der endgültigen Entscheidung noch einmal auf Nachbesserungen: Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande forderten am Dienstag in einem gemeinsamen Brief an die Kommission, Erdgas dürfe nicht als “grün” eingestuft werden.

                  Rund fünf Monate nach ihrer Fertigstellung ist die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 noch nicht in Betrieb. Die Bundesnetzagentur hatte die Zertifizierung des Milliarden-Projekts ausgesetzt, bis die Betreibergesellschaft die EU-Vorgaben zur Entflechtung zwischen Netzbetrieb und Erdgashandel umsetzt. Zwar hat die Nord Stream 2 AG die Auflage mit der Gründung einer deutschen Tochterfirma vergangene Woche formal erfüllt. Dennoch seien weitere Prüfungen notwendig, teilte die BNetzA mit.

                  Dabei wird immer fraglicher, ob die Pipeline, die russisches Gas über die Ostsee nach Deutschland transportieren soll, jemals in Betrieb gehen wird. Schließlich ist das Infrastruktur-Projekt Bestandteil möglicher Sanktionen des Westens gegen Russland im Ukraine-Konflikt. Bei einem Besuch in Kiew sicherte der Vizepräsident der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, der Ukraine gestern Unterstützung zu. Die Prüfung einer Betriebsgenehmigung für Nord Stream 2 durch die EU liege auf Eis und Brüssel werde alles tun, um zu verhindern, dass der Kreml die Lieferung von Erdgas “als Waffe” einsetze.

                  Dennoch wird ein möglicher Totalausfall russischer Gaslieferungen in Europa als ernstzunehmende Bedrohung wahrgenommen. Das Worst-Case-Szenario verdeutlicht einmal mehr die Energie-Importabhängigkeit der EU. Während sich die Kommission um Alternativen bemüht, läuft auch in Deutschland die Diskussion an: Sollte man unabhängiger werden von russischem Gas? Das Problem: Die Alternativen sind rar – und haben selbst große Nachteile. Wir haben bei Politik, Industrie und Wissenschaft nachgefragt.

                  Bietet die über 30 Jahre alte Produkthaftungsrichtlinie aus dem Jahr 1985 im Zeitalter intelligenter und KI-basierter Produkte und Dienstleistungen noch genügend Rechtssicherheit und Verbraucherschutz? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Während Verbrauchervertreter für eine Überarbeitung der Rechtsvorschriften sind, lehnt die Industrie den Vorstoß der EU-Kommission ab. Um mögliche Regelungslücken zu schließen, will die Behörde offenbar sogar zweigleisig fahren. Zum einen soll die bestehende Produkthaftungsrichtlinie überarbeitet werden. Zusätzlich wird über einen eigenen neuen Haftungsrechtsrahmen für künstliche Intelligenz diskutiert. Welche Aspekte dabei besonders umstritten sind, hat Eugenie Ankowitsch analysiert.

                  Ihr
                  Timo Landenberger
                  Bild von Timo  Landenberger

                  Analyse

                  Gas-Importe: Teurer Weg aus der Abhängigkeit

                  Vor allem günstig sollte das Erdgas sein, und nicht allzu klimaschädlich. Das Argument der Versorgungssicherheit hatte bislang, kein allzu großes Gewicht – jedenfalls nicht in Deutschland. Schließlich sei auf Russland, den mit Abstand wichtigsten Gas-Lieferanten, immer Verlass gewesen, so das gängige Argument – selbst in den Hochzeiten des Kalten Krieges.

                  Die Gefahr eines heißen Krieges in der Ukraine hat jedoch ein Umdenken eingeleitet (Europe.Table berichtete). Die EU-Kommission bemüht sich derzeit, auch auf Drängen der USA, Alternativen zu Gazprom und Co. aufzutun. In Brüssel wie in Washington wird die Gefahr ernst genommen, dass Moskau westliche Sanktionen mit einer Drosselung oder gar einem Stopp der Gaslieferungen nach Europa beantworten könnte. US-Präsident Joe Biden und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatten am Freitag erklärt, sich gemeinsam für eine “kontinuierliche, ausreichende und rechtzeitige Versorgung der EU mit Erdgas” einzusetzen.

                  Ein Mandat der Mitgliedstaaten hat die Kommission für Verhandlungen mit potenziellen Energielieferanten jedoch nicht. Für diplomatische Initiativen in einem Bereich, der für die ganze EU wichtig sei, sei das aber auch nicht nötig, erklärte Kommissionssprecher Eric Mamer in Brüssel. Man diskutiere schon länger mit internationalen Partnern Wege, um die Energieversorgung zu diversifizieren.

                  Mit Norwegen und mit Katar stehe Brüssel daher in Kontakt. Diesen Freitag reist Energiekommissarin Kadri Simson zudem nach Aserbaidschan und am Montag mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zum EU-USA-Energierat nach Washington. Ein Gespräch Simsons mit dem katarischen Energieminister am Dienstag brachte aber wenig Fortschritte: Die von der EU benötigte Gasmenge könne von niemandem einseitig ersetzt werden, ohne die Versorgung anderer Regionen in der Welt zu beeinträchtigen, sagte Saad Sherida Al-Kaabi. “Die Energiesicherheit Europas erfordert eine gemeinsame Anstrengung vieler Parteien.”

                  Beschleunigter Abschied von Gas aus Russland?

                  Was derzeit noch Vorsorge für den Ernstfall ist, könnte aber einen beschleunigten Abschied von Gas aus Russland einleiten. Über den Green Deal will Europa seine Abhängigkeit von fossilen Energieträgern langfristig ohnehin reduzieren. “Angesichts der Spannungen im Verhältnis zu Russland drängt sich die Frage auf, ob wir diesen Prozess deutlich beschleunigen und auch bereit sind, dafür höhere Energiekosten zu akzeptieren”, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, zu Europe.Table. Die Diskussion müsse nun auch innerhalb der Bundesregierung geführt werden.

                  Im Ziel sind sich viele einig: “Wir sollten dahin kommen, dass Russland seine Energielieferungen nicht länger als Druckmittel gegen uns einsetzen kann”, sagt Schmid. Bislang importiert die EU laut EU-Kommission rund 40 Prozent ihres Gases aus Russland, in Deutschland liegt der Anteil noch höher (Europe.Table berichtete). Ein Lieferstopp wäre daher nur schwierig auszugleichen. Doch allein die bewusste öffentliche Kommunikation mit potenziellen weiteren Energiepartnern sei geopolitisch bereits sinnvoll, sagt der österreichische EU-Abgeordnete Andreas Schieder (S&D). “Wenn in diesem Kontext gegenüber Russland klare Alternativen aufgezeigt werden, dann ist das auch eine logische Konsequenz der bewussten Provokationspolitik Russlands.”

                  Pläne für LNG-Terminals in Deutschland

                  Wie das Ziel allerdings tatsächlich erreicht werden kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. SPD-Politiker Schmid verweist auf die Überlegungen in der Bundesregierung, eine strategische Gasreserve anzulegen (Europe.Table berichtete). Denn: Deutschlands Gasspeicher sind ungewöhnlich leer, nach Daten von Gas Infrastructure Europe lag der Füllstand am 30. Januar nur noch bei knapp 37 Prozent. Um künftig besser gewappnet zu sein, schließt Schmid auch eine staatliche Lösung für die Reserven nicht aus.

                  Die US-Regierung drängt die Europäer wiederum, verstärkt auf Flüssigerdgas aus den Vereinigten Staaten oder Katar zu setzen. 28 LNG-Terminals existieren bereits in der EU, neue werden gebaut: So kündigte Griechenland jüngst an, in Alexandroupolis einen zweiten Terminal zu bauen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz unterstützt inzwischen Pläne, “einen oder mehrere” LNG-Terminals in Deutschland zu bauen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag sagte. 

                  Entsprechende Vorhaben gibt es schon länger, aber sie waren in Deutschland nicht mit Nachdruck verfolgt worden. Ein Grund: “Es ist kein Geheimnis, dass diese Terminals reine Türöffner für Fracking-Gas aus den USA sind”, sagt der CDU-Energiepolitiker Markus Pieper. Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer warnt daher, die EU in eine Alternativ-Sackgasse” zu steuern.  

                  Bütikofer fordert vielmehr ein Aus für Ostsee-Pipeline Nord Stream 2: “Solange Erdgas Teil in unserem Energiemix ist, sollten wir darauf drängen, dass Russland beim Gasexport in die EU von der Ukraine abhängig bleibt”. Das schaffe mehr Sicherheit für die Ukraine und verhindere die “Fehlinvestition in neue fossile Infrastruktur”. 

                  Hohe LNG-Preise gefährden Industrie

                  Nina Scheer, die energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Bundestag, verweist zudem auf die hohen Kosten von Flüssigerdgas: “Die Frage nach weiteren LNG-Mengen sollte nicht ohne Beachtung preislicher Auswirkungen beantwortet werden.” Überdies sei Russland seinen Lieferverpflichtungen bislang immer gerecht geworden.

                  Ähnlich argumentiert die Industrie. Erdgas sei derzeit der wichtigste Energieträger in der Chemieindustrie und zugleich ein wichtiger Rohstoff in der Produktion, sagte ein Sprecher des Branchenverbandes VCI. Aufgrund der aktuell hohen Gaspreise sei bereits die Ammoniakproduktion an mehreren Standorten gedrosselt worden. Hohe Gaspreise hätten negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, so der VCI. “Teureres LNG würde diese Effekte noch verstärken.” 

                  E.ON-Chef Leonhard Birnbaum verweist zudem auf die begrenzte Verfügbarkeit von Flüssigerdgas. Ein großer LNG-Tanker könne in etwa soviel Gas transportieren wie Nord Stream 1 an einem Tag. Nord Stream 2 sei daher schwer zu ersetzen. Dies gelte insbesondere, wenn Deutschland mehr auf Gas setze, um die Kohlekraftwerke zu ersetzen. “Dann sollten wir nicht darüber nachdenken, wie wir das ohne russisches Gas machen.” 

                  Ohne Gas aus Russland werde Energieversorgung “sehr schwierig”

                  Ganz ohne Gas-Importe aus Russland werde die Energieversorgung “sehr schwierig und vor allem sehr teuer”, sagt auch Christian Egenhofer, Wissenschaftler beim Centre for European Policy Studies (CEPS). Denn diese hänge dann fast vollständig von der globalen Marktordnung ab. “Wenn in Asien die Wirtschaft brummt, dann steigen dort die Gaspreise und Europa muss sie toppen, um die Lieferungen nicht zu verlieren.”

                  Hohe Gaspreise würden wiederum dazu führen, dass für die Stromerzeugung wieder mehr Kohle verbrannt werde. Und energieintensive Industriezweige, die bei ihren Herstellungsprozessen auf den Einsatz von Erdgas angewiesen seien, müssten ihre Produktion drosseln oder einstellen.   

                  Bestehende Infrastruktur reicht nicht

                  Laut Jacopo Pepe, Energieexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, sei außerdem fraglich, ob die benötigten Gas-Volumina über die bestehenden LNG-Terminals und Infrastrukturen überhaupt abgewickelt werden könnten. “Wir haben in der EU etwa 110 Milliarden Kubikmeter an Kapazitäten frei. Wenn russische Lieferung ganz ausfallen sollten, würden noch etwa 30 bis 40 Milliarden Kubikmeter fehlen.” 

                  Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch der Brüsseler Thinktank Bruegel. Einer Studie zufolge beliefen sich die russischen Erdgasexporte in die EU im Jahr 2021 auf 1.550 TWh über Pipelines und rund 120 TWh über LNG-Tanker. Dies bedeutet, dass rund 1.700 TWh ersetzt werden müssten, sollte Russland seine Erdgasexporte nach Europa vollständig einstellen. Die bestehenden Terminals könnten aber nur rund 1.100 TWh zusätzlicher LNG-Einfuhren in die EU bewältigen, heißt es in dem Dokument. 

                  Daneben stünde bei einer entsprechenden Umstellung auch das EU-Gasnetz vor einer Herausforderung, schreiben die Autoren. Schließlich sei dieses darauf ausgelegt, Importe von Osten Richtung Westen zu den Verbrauchern zu bringen. Technisch sei das aber auch andersherum machbar, so Energieexperte Pepe. “Das Flüssiggas wird in den Hafen-Terminals verdampft und ins Gasnetz eingespeist. Gegebenenfalls müsste bei manchen Pipelines die Fließrichtung geändert werden.” Aber auch das sei nichts Neues. Schließlich exportiere Deutschland derzeit Gas aus Russland entgegen der üblichen Richtung in die Ukraine. 

                  Und auch die Umweltbedenken hinsichtlich der Förderung von Fracking Gas müssten ins Verhältnis gesetzt werden: “Bei den Pipelines hat man Leckagen. Bei LNG hat man sowohl Emissionen beim Transport als auch erhebliche Umweltschäden beim Fracking”, sagt Pepe. Umweltpolitisch sei das sprichwörtlich die Wahl zwischen Pest oder Cholera. Till Hoppe, Timo Landenberger, Stephan Israel und Lukas Scheid

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                    Produkthaftung und KI: Kommission arbeitet an neuen Vorschriften

                    Die Produkthaftungsrichtlinie gilt für alle beweglichen Produkte unabhängig von der von ihnen verwendeten Technologie, und daher eigentlich auch für Künstliche Intelligenz-gesteuerte Produkte. Sie soll Schutz auf einer Ebene bieten, die von der nationalen verschuldensabhängigen Haftung allein nicht abgedeckt ist. Mit ihr wird ein System der verschuldensunabhängigen Haftung des Herstellers.

                    Eine Evaluierung im Auftrag der EU-Kommission ergab jedoch, dass es aufgrund ihrer veralteten Konzepte und Begrifflichkeiten schwierig war, die Richtlinie auf Produkte in der digitalen Wirtschaft und der Kreislaufwirtschaft anzuwenden. Außerdem sei es für die Verbraucher kompliziert, eine Entschädigung zu erhalten. Insbesondere wenn es darum geht, nachzuweisen, dass komplexe Produkte fehlerhaft waren und den Schaden verursachten. Ob immaterielle Gegenstände wie digitale Inhalte, Software, Algorithmen und Daten unter die Richtlinie fallen, vor allem wenn sie getrennt von einem materiellen Produkt bereitgestellt werden, sei ebenfalls nicht klar.

                    Revision der Produkthaftungsrichtlinie

                    Um die im Bericht aufgezeigten Regelungslücken wieder zu schließen, will die Europäische Kommission offenbar zweigleisig fahren. Zum einen soll die bestehende Produkthaftungsrichtlinie überarbeitet werden. Zusätzlich wird über einen eigenen neuen Haftungsrechtsrahmen für künstliche Intelligenz diskutiert. Ein Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie könnte im 3. Quartal 2022 kommen.

                    Verbraucherorganisationen und NGOs begrüßen den Vorstoß der Kommission. So empfiehlt etwa der Europäische Verbraucherverband (Bureau Européen des Unions de Consommateurs, BEUC) in der Stellungnahme zur Konsultation der EU-Kommission eine umfassende Überarbeitung der EU-Produkthaftungsrichtlinie. Aus Verbraucherperspektive sei die Richtlinie den Herausforderungen der neuen Technologien nicht mehr gewachsen und lasse viele Fragen offen.

                    Neudefinition von Schlüsselbegriffen

                    Es sei etwa unbedingt erforderlich, Schlüsselbegriffe wie “Produkt”, “Fehler” und “Schaden” zu überprüfen und zu aktualisieren. BEUC fordert außerdem, dass der Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Produkts nicht mehr der entscheidende Zeitpunkt für die Beurteilung der Fehlerhaftigkeit ist.

                    Obwohl die Begriffsbestimmung für “Produkt” in der Produkthaftungsrichtlinie weit gefasst ist, könnte ihr Anwendungsbereich weiter präzisiert werden, heißt es auch im Kommissionsbericht über die Auswirkungen künstlicher Intelligenz, des Internets der Dinge und der Robotik in Hinblick auf Sicherheit und Haftung. Damit würde man der Komplexität neuer Technologien besser Rechnung tragen.

                    Die Industrie spricht sich wenig überraschend gegen eine Revision der Haftungsrichtlinie aus. “Der bisherige Rechtsrahmen ist bewusst technologieoffen gestaltet. Er hat sich bewährt und funktioniert gut. Auch die Änderungen, die das digitale Zeitalter mit sich bringen, führen nicht zu einer Erforderlichkeit der Revision”, heißt es etwa in einer Stellungnahme des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed). Ein Eingriff in dieses System könne zu zusätzlichen Kosten, insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, führen. Dadurch könnten dringend benötigte Investitionen aufgeschoben werden. 

                    Beweislastumkehr: Ein No-Go für die Industrie

                    Besonders umstritten ist eine mögliche Beweislastumkehr zugunsten der Verbraucher:innen. KI-Anwendungen sind häufig in komplexe IoT-Umgebungen (Internet of Things) integriert, in denen viele verschiedene vernetzte Geräte und Dienste interagieren. Aufgrund der Komplexität dieser Technologien kann es für die Opfer sehr schwer sein, die haftbare Person zu ermitteln und alle nach nationalem Recht erforderlichen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Anspruch nachzuweisen. Die Kosten dafür könnten wirtschaftlich untragbar sein und die Opfer davon abhalten, eine Entschädigung zu verlangen, heißt es im Bericht der EU-Kommission.

                    Deshalb wird nun eine Beweislastumkehr oder zumindest eine Erleichterung diskutiert. Betroffen wären vor allem nationale Vorschriften. Denn laut der der europäischen Produkthaftungsrichtlinie gilt ein Produkt, das die verbindlichen Sicherheitsvorschriften nicht erfüllt, unabhängig vom Verschulden des Herstellers als fehlerhaft.

                    Die Industrie lehnt die Beweislastumkehr strikt ab. So besteht etwa nach Ansicht des BVMed bereits unter dem geltenden europäischen und nationalen Recht eine angemessene Beweislastverteilung einschließlich Beweiserleichterungen. Starre Beweisregeln oder gar eine generelle Beweislastumkehr würden vielmehr die Gefahr bergen, dass “sorgfältig austarierte Risikoverhältnis” zwischen Unternehmen und Verbraucher:innen zu zerstören. Außerdem sei zu bedenken, dass eine Beweislastumkehr einen starken Eingriff in nationales Zivilprozessrecht darstellen würde.

                    Der Europäische Verbraucherverband spricht sich hingegen dafür aus. Derzeit seien die Hürden für Kläger zu hoch. Der digitale Kontext habe die Schwierigkeiten bei der Beweisführung sogar verschärft und die Informationsasymmetrien zwischen Klägern und Beklagten vergrößert, heißt es in der Stellungnahme der Verbrauchervertreter.

                    Immaterielle Schäden berücksichtigen

                    Für heftige Diskussionen dürfte auch die Überlegung sorgen, die Liste der Schadensersatz-Ansprüche auf immaterielle (beispielsweise psychologische) Schäden, den Datenverlust oder Umweltschäden auszuweiten. So könnte etwa ein Hersteller von KI-gestützten humanoiden Robotern verpflichtet werden, den immateriellen Schaden zu berücksichtigen, den ihre Produkte bei schutzbedürftigen Nutzern wie älteren, in Pflege befindlichen Menschen verursachen könnten. Derzeit kann jeder Mitgliedstaat selbst entscheiden, ob für immaterielle Schäden Schadenersatz geleistet wird.

                    Der BVMed lehnt diesen Vorstoß ab. Schäden im Zusammenhang mit Datenschutzverstößen oder einem Datenverlust seien bereits durch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) abgedeckt. Ein Schadensersatzanspruch in Bezug auf Umweltschäden sollte – soweit dies für erforderlich gehalten wird – spezialgesetzlich in entsprechenden Umweltgesetzen geregelt werden. Darüber hinaus betont der Verband, dass die verschuldensunabhängige Haftung nach der Produkthaftungsrichtlinie an strenge Herausforderungen geknüpft ist und nur für besonders wichtige Rechtsgüter gelten sollte.

                    Eine eigene Produkthaftungsrichtlinie für Künstliche Intelligenz

                    Für Hoch-Risiko-KI-Systeme will die Kommission offenbar eigene Haftungsvorschriften entwickeln. Durch deren spezifische Eigenschaften, wie die Komplexität, Konnektivität, Autonomie und Opazität und den damit einhergehenden “Blackboxeffekt”, könnte es aus Sicht der Kommission für Geschädigte schwierig werden, Schadenersatz auf Grundlage der Produkthaftungsrichtlinie oder nationaler Vorschriften über die verschuldensabhängige Haftung zu erhalten. Denn gerade bei diesen Systemen sei es besonders schwierig, die Fehlerhaftigkeit eines Produkts beziehungsweise das Verschulden sowie den ursächlichen Zusammenhang mit dem Schaden zu beweisen.

                    Auch hier spricht sich der BVMed gegen einen neuen Rechtsrahmen aus. Die gefürchtete Komplexität lernender Systeme sollte vielmehr in transparenten Vorgaben für die Entwicklung und die Dokumentation der Systeme auf der regulatorischen Ebene begegnet werden. Für Verstöße gegen diese materiellen Vorgaben sei auch nach dem bisherigen System eine Haftung des Verantwortlichen gegeben, heißt es in der BVMed-Stellungnahme.

                    Sorgfältige Abstimmung gefordert

                    Auch der Verbraucherverband BEUC ist der Ansicht, dass sich viele der Probleme im Zusammenhang mit digitaler und künstlicher Intelligenz durch eine ehrgeizige Überarbeitung der Produkthaftungsrichtlinie lösen ließen. Aus Sicht der Verbraucher:innen spiele es keine Rolle, in welche Kategorie das KI-System, das den Schaden verursacht hat, eingestuft wurde.

                    Der Verband appelliert außerdem an die Kommission, die verschiedenen Initiativen zur zivilrechtlichen Haftung und den derzeit anhängigen EU-Gesetzgebungen, darunter der Digital Services Act, die Revision der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit und die KI-Verordnung, sorgfältig aufeinander abzustimmen. All diese Initiativen seien in der Praxis eng miteinander verflochten und müssten zusammen betrachtet werden.

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                      News

                      EU-Staaten wollen unabhängiger werden bei Rohstoffen

                      Die EU-Staaten wollen die Abhängigkeit von Drittstaaten bei kritischen Rohstoffen verringern. “Wir müssen uns auf künftige Lieferkettenunterbrechungen vorbereiten“, sagte Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič nach dem informellen Wettbewerbsfähigkeitsrat im französischen Lens. Diese seien “nicht eine Frage des Ob, sondern des Wann”. Europa sei derzeit stark abhängig von einer kleinen Zahl von Nicht-EU-Ländern, in denen überdies oft niedrigere Umwelt- und Sozialstandards gälten.

                      Unter den Mitgliedsstaaten habe es breite Unterstützung dafür gegeben, für die Diversifizierung neue Rohstoffpartnerschaften mit Ländern wie Kanada einzugehen, hieß es. Erforderlich seien zudem massive Investitionen in die Forschung, um den Bedarf an kritischen Rohstoffen etwa in der Batterieproduktion zu verringern, sagte die französische Industriestaatssekretärin Agnes Pannier-Runacher. Bei Lithium etwa sehe man bereits Rekordpreise, eine Knappheit sei absehbar, warnte Šefčovič.

                      Deutschland und andere Mitgliedsstaaten sprachen sich zudem für gesetzliche Vorgaben für die Ressourceneffizienz und Wiederverwertung von Rohmaterialien aus. “Die Kommission sollte ein ehrgeiziges Gesetzespaket vorlegen, um die Kreislaufwirtschaft für Rohstoffe anzukurbeln”, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima, Franziska Brantner, Europe.Table. Gerade bei kritischen Rohstoffen für Klimaschutztechnologien wie Batterien oder Windkraftanlagen müssten die Abhängigkeiten der EU reduziert werden, so die Grünen-Politikerin.

                      Förderung von kritischen Rohstoffen in der EU umstritten

                      Die Kommission erarbeitet derzeit ein Legislativpaket zur Circular Economy, das für Ende März terminiert ist. Industriekommissar Thierry Breton hielt sich bedeckt zu dessen konkreten Inhalten. Es wird aber erwartet, dass es Vorgaben für die Hersteller einer breiten Palette von Produkten enthalten wird, um diese zu Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit ihrer Waren zu verpflichten.

                      Umstrittener ist, in welchen Ausmaß die EU-Staaten die gefragten Rohstoffe selbst fördern sollen, um die Importabhängigkeit zu verringern (Europe.Table berichtete). Laut Breton könne die EU 20 bis 25 Prozent ihres Bedarfs an Seltenen Erden selbst bedienen. Dafür brauche es aber die entsprechenden Verarbeitungskapazitäten. Für Magnesium, das etwa in der Autoindustrie gebraucht wird, hat die Kommission das Ziel ausgegeben, bis 2030 rund 15 Prozent der globalen Produktion in Europa anzusiedeln. tho

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                        Sustainable Aviation Fuels: EU-Länder fordern ehrgeizigere Ziele

                        Insgesamt sieben EU-Länder appellieren an die EU-Kommission, bei ihren Klimaschutzplänen für die Luftfahrt auch ehrgeizigere nationale Ziele zuzulassen. Aus Sicht der Länder gebe es mehr Spielraum mit Blick auf die Nutzung von sogenanntem Sustainable Aviation Fuel (SAF), heißt es in einem Schreiben der Länder an die zuständigen EU-Kommissare Adina Vălean (Verkehr) und Frans Timmermans (Green Deal). Dazu müsse es den Mitgliedstaaten erlaubt werden, über EU-Mindeststandards hinauszugehen.

                        Der Kommissionsvorschlag “ReFuel EU Aviation” ist Teil des Fit-for-55-Pakets und sieht eine SAF-Quote von zwei Prozent im Jahr 2025 vor. 2030 soll die Quote auf fünf Prozent ansteigen und bis 2050 in weiteren Zwischenschritten auf 63 Prozent. Die Unterzeichner-Staaten Dänemark, Österreich, Luxemburg, Schweden, Finnland, Niederlande und Deutschland fordern, dass Länder diese Quoten individuell auch überbieten dürfen.

                        Sustainable Aviation Fuels als Alternative zu fossilem Kerosin

                        Sustainable Aviation Fuels seien einer der effektivsten Wege, um Emissionen des Luftverkehrs kurz- und mittelfristig zu reduzieren, heißt es in dem Schreiben von Dienstag, das Europe.Table vorliegt. Ehrgeizigere Ziele in einzelnen EU-Ländern würden auch den Wettbewerb innerhalb der Union nicht verzerren. Höhere Ziele könnten auch die Grundlage für die Entwicklung neuer innovativer Ansätze und Technologien bilden. SAF-Technologien seien verfügbar, aber man brauche Investitionen, um die Produktion zu steigern und die Kosten für SAF zu senken, heißt es. Der dänische Umweltminister Dan Jorgensen beklagte, dass die EU-Pläne hinter denen seiner Regierung zurückblieben. Dänemark wolle bereits 2030 einen CO2-freien Luftverkehr.

                        Sustainable Aviation Fuels gelten als aussichtsreiche Alternative zu fossilem Kerosin. Die Kraftstoffe werden eingesetzt, da die Luftfahrt noch weit entfernt ist von einem Elektro- oder Wasserstoffantrieb für große Flugzeuge. Sie können aus organischen Abfällen, wie Holzresten, Tierfetten oder Speiseöl aufbereitet werden, oder synthetisch durch Power-to-Liquid-Prozesse hergestellt werden. rtr/luk

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                          Bundesregierung lässt Verkauf von Siltronic scheitern

                          Der Münchner Chip-Zulieferer Siltronic kann nicht nach Taiwan verkauft werden. Wie erwartet ließ das Bundeswirtschaftsministerium die 4,35 Milliarden Euro schwere Übernahme durch den größeren Konkurrenten Global Wafers nach 14-monatiger Prüfung platzen (Europe.Table berichtete). Die Regierung ließ die Frist verstreichen, innerhalb der die Taiwaner die Freigabe nach dem Außenwirtschaftsgesetz gebraucht hätten. Am Ende sei die Zeit zu knapp gewesen, um die Folgen der Auflagen der chinesischen Wettbewerbshüter für Siltronic zu prüfen, sagte eine Ministeriumssprecherin in der Nacht zum Dienstag. Global Wafers könne aber einen neuen Anlauf nehmen. Ob Vorstandschefin Doris Hsu das will, ließ sie offen.

                          Global Wafers schließt zweites Angebot nicht aus: Siltronic-Aktie steigt

                          Sie bezeichnete die ausgebliebene Zustimmung aus Berlin als “sehr enttäuschend”. Global Wafers werde “die Nicht-Entscheidung der deutschen Regierung analysieren und deren Auswirkungen auf unsere zukünftige Investitionsstrategie prüfen“. Bis Sonntag werde das Unternehmen entscheiden, wie es das Geld nun investieren wolle, das Global Wafers für Siltronic ausgegeben hätte. Denkbar ist der Bau einer neuen Siliziumscheiben-Fabrik außerhalb Europas, um die Kapazitäten auszubauen. Aus den USA werden die Taiwaner heftig umworben.

                          Dass Global Wafers ein zweites Übernahmeangebot offenbar nicht ausschließt, ließ die Siltronic-Aktie am Dienstag um bis zu acht Prozent auf 125,80 Euro nach oben schnellen. Börsianer setzen darauf, dass Global Wafers dann mehr bieten müsste, weil die Chip-Konjunktur seit dem ersten Angebot im Herbst 2020 deutlich angezogen hat. Dann ginge auch die Investitionsprüfung durch die Bundesregierung von Neuem los. Global Wafers hält noch 13,7 Prozent an Siltronic.

                          Opposition unterstützt Entscheidung

                          Hannes Walter (SPD), der Vize-Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, stellte sich hinter die Entscheidung: “Technologische Souveränität gewinnen wir nicht dadurch, dass wir unser Tafelsilber veräußern”, sagte er dem Handelsblatt. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Julia Klöckner, verwies darauf, dass Deutschland als Investitionsstandort begehrt sei. “Gerade deswegen ist es richtig, dass wir auch unsere Sicherheitsinteressen im Blick halten.”

                          Auch Siltronic-Großaktionär Wacker kritisierte die Entscheidung aus Berlin. “Durch den Zusammenschluss wäre ein führender Anbieter der Industrie mit starken europäischen Wurzeln entstanden, der über ein umfassendes Produktportfolio verfügt”, sagte der Vorstandschef des Münchner Chemiekonzerns, Christian Hartel. Das wäre auch im Interesse der deutschen und europäischen Chipindustrie gewesen. Dem Familienunternehmen entgehen damit zunächst 1,3 Milliarden Euro. Von dem Siltronic-Aktienpaket von 30,8 Prozent will sich Hartel weiterhin trennen, sieht Wacker dabei aber nicht unter Zeitdruck. “Das Unternehmen ist technologisch hervorragend aufgestellt und arbeitet sehr profitabel.” rtr

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                            BSI vergibt erstes IT-Sicherheitskennzeichen

                            Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat sein erstes IT-Sicherheitskennzeichen an den deutschen E-Mail-Anbieter Mail.de verliehen. Das Gütesiegel werde den Verbrauchern dabei helfen zu erkennen, wie sicher ein IT-Produkt sei, erklärte BSI-Präsident Arne Schönbohm am Dienstag beim 18. Deutschen IT-Sicherheitskongress.

                            BSI-Präsident: IT-Sicherheitskennzeichen künftig als Kaufkriterium

                            Schönbohm kündigte an, in absehbarer Zeit auch einen Breitbandrouter mit einem solchen Gütesiegel auszuzeichnen. Weitere Kategorien für das neue Kennzeichen seien das Internet der Dinge, Smart-TVs und das Smart Home. Der BSI-Präsident könne sich gut vorstellen, dass sich das IT-Sicherheitskennzeichen zu einem Kaufkriterium entwickle. Das Zertifikat beruht auf Selbstverpflichtungen der Hersteller, die vom BSI auf Plausibilität hin überprüft werden.

                            Zur Eröffnung des Kongresses hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärt, die Bundesregierung wolle dafür sorgen, dass Hersteller künftig für Schäden haften, die fahrlässig durch Software-Schwachstellen in ihren Produkten entstanden sind.

                            Das BSI, das den digitalen Kongress organisiert hat, soll nach den Worten der Ministerin zu einer “Zentralstelle im Bund-Länder-Verhältnis” ausgebaut werden und damit die föderale Zusammenarbeit erheblich verbessern. Es sei wichtig, hier die Voraussetzung für eine dauerhafte Koordinierung zu schaffen. Bisher sei die Unterstützung des BSI in den Ländern nur im Einzelfall im Wege der Amtshilfe möglich.

                            Ebensolche leistet das Bundesamt für IT-Sicherheit auch im Ausland: Die Platzierung von Falschmeldungen und Warnungen an die Bevölkerung auf staatlichen ukrainischen Websites vor einigen Wochen durch Hacker sei angesichts der angespannten Lage dort “hochgefährlich”, sagte Faeser. Die Bundesregierung habe der Ukraine deshalb konkrete Hilfe angeboten. Wenn die Ukraine dies wünsche, könne das BSI bei der Aufklärung des Vorfalls und der Stärkung der Widerstandsfähigkeit ukrainischer Systeme helfen. dpa

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                              Jean-Bernard Lévy – Frankreichs Energiechef vor einer Herkulesaufgabe

                              Jean-Bernard Lévy leitet den französischen Energiekonzern Electricité de France (EDF)
                              Jean-Bernard Lévy leitet den französischen Energiekonzern EDF.

                              Die meisten werden es beim Blick auf die letzte Monatsrechnung bemerkt haben: Strom und Gas sind so teuer wie noch nie. Politische Spannungen mit Russland machen die europäische Gasversorgung unberechenbar, die Preise für fossile Brennstoffe schießen in die Höhe und die anhaltende Pandemie macht alles noch komplizierter. Dagegenhalten muss Jean-Bernard Lévy, Geschäftsführer von Electricité de France (EDF), eines der größten Energieversorgungsunternehmen der Welt.

                              Als “Kapitän der französischen Wirtschaft”, wird Jean-Bernard Lévy von den Medien oft bezeichnet. Und scheinbar ruft man ihn immer dann zur Hilfe, wenn das Schiff in Schieflage gerät. Ab 2002 holte man ihn bei Firmen wie Vivendi und Thales an Bord, um die Finanzen wieder ins Lot bringen. Und so war es wohl auch im Jahr 2014, als der damalige Präsident François Hollande Lévy für den Posten des Geschäftsführers von Electricité de France nominierte – eine privatrechtliche Aktiengesellschaft, die zu 84 Prozent dem französischen Staat gehört.

                              Konfrontiert mit einem ernüchternden Schuldenberg von 42 Milliarden Euro griff der neue Leiter des Energiekonzerns mit strengen ersten Amtshandlungen durch: Kosten minimieren, Gehälter einfrieren und Tarife erhöhen. Damit nicht genug. Um den Stromproduzenten aus wirtschaftlichen Turbulenzen zu steuern, hat Lévy eine großangelegte Vision mitgebracht: Frankreich soll der Weltmeister der CO2-Neutralität werden. Erreichen will er das nicht nur durch erneuerbare Energien, sondern auch mit Investitionen in Atomkraft. Diese Strategie kam bei Emmanuel Macron gut an, der ihn 2018 für ein zweites Mandat erneut an die Spitze des Energieriesen beorderte.

                              Kernenergie verstaatlichen, Erneuerbare privatisieren

                              Doch Instandhaltung und Ausbau von Kernkraft, die über 75 Prozent des französischen Stroms generiert, ist teuer. Um diese Kosten zu stemmen und Electricité de France für die Energiewende aufzurüsten, arbeitet Jean-Bernard Lévy aktuell an der Umsetzung des Projekts “Hercules”. Es sieht Verhandlungen mit Brüssel vor, durch die die Tarife für Konkurrenten, an die EDF Strom verkauft, angehoben werden sollen. Keine leichte Aufgabe, denn die eigene Regierung hat ganz andere Pläne.

                              Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hatte Mitte Januar angekündigt, das Volumen von Atomstrom erhöhen zu wollen, das von EDF zu reduzierten Preisen an seine Konkurrenten verkauft wird. Außerdem will die französische Regierung die Steigerung der reglementierten Tarife für Strompreise 2022 auf vier Prozent limitieren, um die Inflation einzudämmen und Verbraucher:innen zu entlasren. Allerdings auf Kosten von EDF. Bis zu 8,4 Milliarden Euro könnte das den Staatskonzern kosten. Als “echten Schock” bezeichnete Lévy die Entscheidung des Wirtschaftsministers, Gewerkschaften hatten vergangene Woche zum Streik aufgerufen. Wehren kann sich Lévy gegen solche staatlichen Eingriffe allerdings kaum, was die Durchsetzung seiner Pläne erschweren könnte.

                              Lévy strebt zudem eine Neuorganisation des Unternehmens an. Die nuklearen Aktivitäten sollen verstaatlicht, Teile des Stromnetzes und die Produktion erneuerbarer Energien für den Privatsektor geöffnet werden. Auch hier gibt es Widerstand. Kritiker fürchten, dass dadurch die Einnahmen der profitablen erneuerbaren Energien privatisiert, während die Last der Investitionen in die Kernenergie auf die Bürger abgewälzt werden würden.

                              Ob Hercules erfolgreich umgesetzt wird oder Lévy die Energieversorgung Frankreichs anderweitig umstrukturiert, hängt von diversen Faktoren ab, nicht zuletzt von den Präsidentschaftswahlen. Dass es aber eine Veränderung geben muss, davon ist der EDF-Chef überzeugt: “Die Gesundheitskrise zeigt es, die Gas-Krise zeigt es: Wir befinden uns in einer Abhängigkeit. In ruhigen Zeiten wirkt der Markt stabil, aber sobald es ein Problem gibt, müssen wir uns eingestehen, dass es nicht funktioniert.” Giorgia Grimaldi

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