Es ist ein Thema, das uns seit den Anfängen von Europe.Table begleitet: das German Vote. Deutschland bringt in Brüssel nicht sein volles Gewicht auf die Waage, weil die Koalitionsregierungen sich nicht einigen können und Ministerien sich in endlosen Abstimmungsschleifen verlieren. Der CDU-Europapolitiker Elmar Brok konstatierte schon 2021: „Die Bundesregierung ist in Brüssel zu häufig nicht sprechfähig.“
Die Ampel-Koalition sah zwar das Problem und gelobte Besserung. Doch das zunehmend zerrüttete Verhältnis von SPD, Grünen und FDP schlug sich auch im Abstimmungsverhalten im EU-Rat nieder: Enthielt sich die Bundesregierung 2022 laut EU Council Monitor der Stiftung Wissenschaft und Politik nur ein einziges Mal im Rat mangels Einigkeit, war dies im letzten Jahr der Ampel 2024 bereits achtmal der Fall.
Teils stritten die Koalitionäre öffentlich. Etwa über Verbrenneraus, Lieferkettenrichtlinie oder Plattformarbeit. Der Tiefpunkt: Kanzler Olaf Scholz setzte per Richtlinienkompetenz ein Nein gegen die Zölle auf Elektroautos aus China durch – um anschließend festzustellen, dass die Bundesregierung damit weitgehend allein stand im Kreis der EU-Staaten.
Sein Nachfolger Friedrich Merz will vieles anders machen. Der neue Kanzler hat die Europapolitik zur Chefsache erklärt und die Devise ausgegeben, ein German Vote müsse zur absoluten Ausnahme werden. In den Koalitionsverhandlungen mit der SPD drängte er auf eine Zentralisierung der Europakoordinierung bei sich im Haus.
Am Ende einigte man sich darauf, die Rolle des Kanzleramtes in zentralen EU-Dossiers zu stärken. Mit Michael Clauß holte Merz einen intimen Kenner des Brüsseler Apparats als Berater zu sich, der als Machtzentrum in der Europakoordinierung fungieren soll. Als langjähriger EU-Botschafter kann er auf sein exzellentes Netzwerk zurückgreifen. In den heiklen Zollverhandlungen der Europäischen Kommission mit der US-Regierung etwa tauschte sich Clauß eng mit Ursula von der Leyens Kabinettschef Björn Seibert aus.
Als Botschafter hatte Clauß selbst den Finger in die Wunde gelegt: In einem internen Drahtbericht bemängelte er, die Bundesregierung sei in Brüssel zu oft nicht handlungsfähig. Um die Koordinierungsarbeit leisten zu können, soll seine Europaabteilung im Kanzleramt um ein bis zwei Referate aufgestockt werden.
Die Probleme liegen auf der Hand: In der Ampel verhakten sich die Ministerien teils auf der Arbeitsebene, ohne dass die Konflikte frühzeitig von der politischen Leitung angegangen worden wären. In anderen Fällen traten (FDP-)Minister erst spät im Gesetzgebungsverfahren auf die Bremse – und sorgten damit auch in Brüssel für Kopfschütteln.
Schwarz-Rot will Konflikte früher identifizieren und möglichst lösen. Dazu gehört eine intensivere Befassung im Kabinett, wo EU-Dossiers zuvor meist nur pro forma behandelt wurden. So diskutierten die Ministerinnen und Minister im Vorfeld intensiv über die deutsche Position zur EU-Finanzplanung.
Der Merz-Vertraute Thorsten Frei hat dabei eine Schlüsselrolle inne. Als Kanzleramtsminister leitet er die Runde der beamteten Staatssekretäre, die montags die Kabinettssitzungen am Mittwoch vorbereitet und nun auch strittige EU-Themen schlichten soll. Frei nehme die Aufgabe ernst, heißt es in Regierungskreisen, er lasse sich von Clauß intensiv vorbereiten und entscheide auch.
So geschehen in der Frage der Fluggastrechte: Die polnische Ratspräsidentschaft wollte einen alten Vorschlag der EU-Kommission wiederbeleben, der die Passagiere von Airlines bei Verspätungen deutlich schlechter stellt. Das CDU-geführte Verkehrsministerium unterstützte den Vorstoß, das SPD-geführte Justiz- und Verbraucherschutzministerium opponierte. Frei schlug sich dem Vernehmen nach schließlich auf die Seite von Justizministerin Stefanie Hubig.
Auch auf Arbeitsebene wollen CDU und SPD nachbessern. Die vier EU-Koordinierungshäuser Kanzleramt, Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium und Finanzministerium überwachen nun laufend, bei welchen kritischen EU-Dossiers sich mögliche Konflikte abzeichnen. Die Abteilungsleiter bereiten so die Runde der Staatssekretäre vor.
Die neue Struktur muss sich gleichwohl erst bewähren. Zu Beginn harmonierte auch die Ampel recht gut. Zudem besetzt die CDU allein drei der vier koordinierenden Häuser. Das berge „die Gefahr, dass die SPD bei bestimmten Themen erst spät feststellt, dass sie nicht einverstanden ist und es dann erneut zu öffentlichen Konflikten kommt“, warnt SWP-Experte Nicolai von Ondarza.
Erste Konflikte schwelen bereits. Merz will die EU-Lieferkettenrichtlinie CSDDD ganz abschaffen, für die SPD kommt das nicht infrage. Allein die polnische Ratspräsidentschaft bewahrte die Koalition vor ihrem ersten German Vote: Sie verzichtete bei der Positionierung im laufenden Omnibus-Verfahren auf ein Votum im Rat, fragte stattdessen nur die Meinungen der Mitgliedstaaten ab. Die deutsche Vertreterin blieb stumm.