wie macht man das bloß – Menschen zum Kinderkriegen zu bewegen? Die Geburtenrate in China ist so niedrig, dass die Bevölkerung schrumpft. Eine neue “Ära der Heirats- und Gebärkultur” muss her, es drohen massive Probleme für die Wirtschaft und Sozialsysteme. Geld-Anreize, kostenfreies Social Freezing, in den Medien traditionelle Familienwerte betonen: Das sind einige der Strategien, aber was, wenn sie nicht wirken? Das analysiert Fabian Peltsch.
Begleitet wird die Geburtenpolitik von einem schwindenden Spielraum in der chinesischen Gesellschaft. Das zeigt sich an der Situation der Gruppe, in der es in unserem zweiten Text geht. Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle und andere Menschen, die geschlechtlich nicht der vermeintlichen Norm entsprechen, also LGBTQ+, erfahren in China immer weniger Freiheit. Die Behörden schließen ihre Institutionen und zensieren Inhalte mit ihren Themen.
Chinas Staatschef Xi Jinping hat sich die “große Verjüngung der chinesischen Zivilisation” auf die Fahnen geschrieben. Doch die Bevölkerung Chinas befindet sich auf einem entgegengesetzten Pfad: Sie altert, und das rapide. Im vergangenen Jahr ist die Bevölkerungszahl erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Wenn sie weiterhin so stark rückläufig bleibt, wird das massive Auswirkungen auf Chinas Sozialsystem und seine Wirtschaftskraft haben. Die Folgen sind zum Teil schon jetzt spürbar, und das sogar sehr konkret, wie die Gründerin einer Firma für Baby-Bedarf aus Shanghai kürzlich in einem Zeitungsinterview berichtete: Man spiele mit dem Gedanken, in den nächsten drei bis fünf Jahren von Baby- auf Haustier-Kleidung umzusatteln.
Aufgrund zahlreicher Herausforderungen zögern die Chinesen mit dem Kinderkriegen. Dass Peking seine Ein-Kind-Politik aufgehoben hat und mittlerweile sogar drei Kinder pro Familie erlaubt, hat an dieser Entwicklung nichts geändert: Offiziell lag die Geburtenrate 2020 bei 1,3 Kindern pro Frau. Die Kosten für die Erziehung und Ausbildung eines Kindes bis zu seinem 18. Lebensjahr sind in China im Verhältnis um einiges höher als beispielsweise in Deutschland oder in den USA: Während sie in China im Jahr 2019 mit umgerechnet rund 67.600 Euro das 6,9-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP betrugen, müssen Eltern in den USA das 5,25-fache und in Deutschland sogar nur das 3,64-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP aufwenden. Viele Frauen befürchten zudem, dass es negative Auswirkungen auf ihre Karriere haben könnte, wenn sie ein Kind bekommen.
Erst im März kam es in Chinas sozialen Medien zu empörten Diskussionen, weil ein Unternehmen in Wuhan einer jungen Frau aufgrund ihrer Schwangerschaft gekündigt haben soll. Die im Gesetz verankerten “Sonderbestimmungen zum Arbeitsschutz für weibliche Beschäftigte”, die es Arbeitgebern verbietet, den Lohn von weiblichen Beschäftigten zu kürzen oder ihren Arbeitsvertrag zu kündigen, wenn sie schwanger sind, werden selten juristisch durchgesetzt. Zudem existieren zahlreiche Schlupflöcher, mit denen Firmen die Bestimmungen umgehen können. In Chinas Sozialmedien kursieren viele Berichte darüber, wie Bonus-Zahlungen gekürzt werden oder Mitarbeiterinnen gegängelt werden, bis diese von selbst kündigen.
In einem Kommentar in der staatlichen Zeitung Economic Daily heißt es, der Staat müsse Chinas jungen Eltern nun helfen, “ein moderates Fruchtbarkeitsniveau zu erreichen und die demografische Struktur zu optimieren”. So will China etwa die Zahl der Kinderbetreuungseinrichtungen bis 2025 verdoppeln, wie der staatliche Fernsehsender CCTV berichtet. Die Zahl der Betreuungspersonen pro 1.000 Einwohner soll von 2,5 im Jahr 2022 auf 4,5 im Jahr 2025 steigen. Gleichzeitig wurden in mehr als 20 Städten Pilotprojekte gestartet, um eine “neue Ära der Heirats- und Gebärkultur zu schaffen”, wie die staatliche Global Times berichtet. Vorgesehen sind steuerliche Anreize, Wohnbauförderung und kostenlose oder subventionierte Bildung für ein drittes Kind. Auch “veraltete Bräuche” wie Mitgiften und Brautpreise sollen bekämpft werden.
Einzelne Lokalregierungen versuchen bereits, sich gegenseitig mit ihren Vorstößen zu überbieten: Die Provinz Guangdong plant etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen für Mütter mit kleinen Kindern unter 12 Jahren. Die nordostchinesische Stadt Shenyang bietet Familien mit einem dritten Kind einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 65 Euro an, bis das Kind drei Jahre alt ist. Die Stadt Hangzhou in der ostchinesischen Provinz Zhejiang möchte Paaren, die ein drittes Kind bekommen, einen einmaligen Zuschuss von umgerechnet 2.600 Euro gewähren, und 650 Euro für Paare mit zwei Kindern.
Einige politische Berater schlagen sogar vor, ledigen Frauen das Einfrieren von Eizellen und In-Vitro-Behandlungen zu ermöglichen – bislang werden solche Verfahren nur verheirateten Frauen gewährt, die Fruchtbarkeitsprobleme nachweisen können. Der bekannte Ökonom Ren Zeping schlug sogar vor, dass Chinas Zentralbank zwei Billionen Yuan (314 Milliarden US-Dollar) drucken solle, um die Geburten von 50 Millionen Babys in den nächsten 10 Jahren zu unterstützen. Nach einer angeregten Debatte wurden Rens offizielle Kanäle auf den Online-Plattformen Weibo und WeChat eingefroren. Seine Ideen seien unpraktisch und ihm mangele es an “gesundem Menschenverstand”, erklärten Rens Kritiker.
Demografie-Experte Yi Fuxian hält die bisher abgesegneten staatlichen Maßnahmen für Tropfen auf den heißen Stein. “Der Staat verfügt zum einen nicht über genügend Mittel, um die Geburtenrate zu erhöhen, und zum anderen müssten junge Menschen dafür hohe Steuern zahlen, was ihre Möglichkeit, Kinder aufzuziehen, wiederum weiter einschränkt”, erklärt der leitende Demograf im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison im Interview mit Table.Media.
China versuche sich in Ermangelung besserer Ideen nun am japanischen Modell, das sich jedoch bereits vor Jahren als “teuer und ineffizient” erwiesen habe, erklärt Yi. Dort habe sich die Geburtenrate trotz Senkung der Ausbildungskosten, Bereitstellung besserer Betreuungseinrichtungen, Geburts- und Wohnbeihilfen nach kurzer Erhöhung wieder bei 1,34 Geburten pro Frau eingependelt. Und China, “das alt wird, bevor es reich wird”, verfüge noch nicht einmal über die finanziellen Mittel, um “Japans Weg vollständig zu folgen.”
“Die chinesische Regierung ist zu sehr auf schnellen Erfolg erpicht”, glaubt Yi. Das eigentliche Problem liege seiner Meinung nach tiefer und sei psychologischer Natur. “Die Ein-Kind-Politik hat die Einstellung der Chinesen zum Kinderkriegen verändert und die moralischen Werte über Leben und Familie verzerrt. Nur ein Kind oder gar keine Kinder zu haben, ist in China zur gesellschaftlichen Norm geworden.”
Mit der Schließung des Beijing LGBT Center am 15. Mai verschwand der wohl wichtigste und landesweit bekannteste Safe Space für Menschen in China, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich und queer identifizieren. Das 2008 gegründete Zentrum hatte sich für ihre Rechte eingesetzt und Unterstützung angeboten, etwa bei Fragen zur physischen und mentalen Gesundheit, Diskriminierung und Rechten.
Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen insgesamt, und LGBTQ-freundlicher Organisationen im Besonderen, ist in China in den vergangenen zehn Jahren immer schwieriger geworden. Schon 2021 wurde die Gruppe LGBT Rights Advocacy China aufgelöst, die sich vor Gericht für Homosexuelle eingesetzt hatte. Im selben Jahr wurden fast 20 WeChat-Konten von LGBTQ- und Gender-Studiengruppen geschlossen.
Queere Dating-Apps und andere Gruppen in den sozialen Netzwerken verschwanden. Zum Teil wurden sie Opfer des sogenannten “Shadow Banning”, durch das sie von reichweitenstarken Zielgruppen abgeschnitten werden. Formal sanktioniert wird das Vorgehen durch Pekings Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen. Seit Anfang 2017 gilt in der Volksrepublik das NGO-Gesetz, das die Gruppen in ihrer Arbeit stark beschränkt.
Die Kommunistische Partei duldet immer weniger Organisationen neben sich. Dabei erfüllten die Gruppen in der Wahrnehmung der Betroffenen eine wichtige Funktion. Das Beijing LGBT Center hatte beispielsweise eine Hotline für Selbstmordgefährdete eingerichtet. Daneben hatte sich das Zentrum für eine größere Sichtbarkeit der Community in der chinesischen Gesellschaft stark gemacht. 2016 führte es etwa die größte jemals durchgeführte Umfrage zu Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in China durch. Mehrmals waren chinesische Universitäten an den Forschungen des Zentrums beteiligt.
Als offiziellen Grund für die Schließung des LGBT Center nannten die Verantwortlichen dort “unvorhersehbare Umstände” und “höhere Gewalt”. Ihre Diskretion ist vermutlich staatlichem Druck geschuldet. Der Filmemacher Popo Fan, der das Zentrum mit aufgebaut hat und zeitweilig Vorstandsmitglied war, schreibt auf seiner Facebook-Seite: “Dies ist nicht nur ein großer Verlust für die LGBT-Kultur und die Zivilgesellschaft in China, sondern bedeutet auch, dass viele der Unterdrückten ihr Zuhause verloren haben.”
Bis heute wurde nicht öffentlich bekannt, ob das Zentrum auf Druck von oben schließen musste. Mitglieder des Zentrums berichteten der Deutschen Welle jedoch, dass sie häufig von der Polizei verhört und schikaniert worden waren.
Wer sich jetzt noch engagiert, lebt gefährlich. “Es ist sehr riskant, heute in China Veranstaltungen wie eine Pride Parade abzuhalten. Die Regierung könnte so etwas schnell als politischen Protest einstufen, was Freiheitsstrafen für die Organisatoren nach sich ziehen kann”, erklärt Monika Ke im Gespräch mit Table.Media (Name geändert).
Die Journalistin und trans* Frau hat sich besonders mit der Repräsentation von LGBTQ in chinesischen Sozialmedien befasst. “Einerseits haben Personen abseits heteronormativer Rollenbilder dort mehr Sichtbarkeit denn je. Andererseits werden klassische Rollenbilder und Familienwerte verherrlicht.” Ke sieht durchaus eine unrühmliche Rolle der Regierung. “Konservative Anti-LGBTQ-Aktivisten kontrollieren diese Narrative genau.”
Homosexualität wurde in der Volksrepublik 1997 offiziell entkriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft aber nach wie vor verboten, sexuelle Orientierungen jenseits des Mainstreams im Alltag oft mit Tabus belegt. Auch am Arbeitsplatz ist Diskriminierung keine Seltenheit, wie Ke berichtet. “Das offizielle Framing lautet, dass es in China keine Verfolgung und Unterdrückung von LBGTQ-Personen gibt, dass sie laut der Verfassung Menschen wie alle anderen seien, und demzufolge ein Gesetz, das ihre Diskriminierung ahndet, nicht nötig sei. Aber so einfach ist es natürlich nicht.”
Ke spricht aus Erfahrung. Auch sie erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz und wurde schlussendlich aus der Firma gedrängt, ohne sich wirklich dagegen wehren zu können.
Ein Grund, warum der Staat zuletzt stärker gegen LGBTQ-Gruppen vorging, dürfte auch mit der Überalterung der chinesischen Gesellschaft zu tun haben, der die Regierung entgegenzuwirken versucht, indem sie klassische Familien- und Geschlechterrollen propagiert. Der Diskurs in den USA und Europa wird dabei auch von den chinesischen Staatsmedien genutzt, um die Diskussion in China in bestimmte Richtungen zu lenken, glaubt Ke. “Die Frage mit den öffentlichen Toiletten wird auch in China heiß diskutiert oder J.K. Rowling zu einer Art Anti-Transgender-Ikone hochstilisiert, die Opfer einer Hexenjagd wurde.”
Gleichzeitig würden viele Konservative versuchen, LGBTQ-Themen als Verschwörung ausländischer Kräfte oder Auswüchse des Kapitalismus darzustellen, die Chinas nationale Interessen angreifen. Dabei sei die chinesische Öffentlichkeit insgesamt toleranter geworden, sagt Ke. Viele jungen Menschen sehen sich als Allies – Verbündete – der Community.
Im Jahr 2018 wurde ein Versuch, LGBTQ-Inhalte auf Weibo zu verbieten, durch einen kollektiven Online-Aufschrei gestoppt. “Gleichzeitig sind die Hasskommentare heftiger denn je”, sagt Ke. “Die Gesellschaft scheint in Bezug auf LGBTQ-Themen zunehmend polarisiert zu sein, und natürlich gewinnen die Konservativen in den chinesischen sozialen Medien mehr Macht als die Progressiven. Das wird sich in naher Zukunft nicht ändern.”
Hongkongs oberstes Gericht hat am Dienstag der Klage eines LGBTQ-Aktivisten auf Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften teilweise stattgegeben. Gleichgeschlechtliche Eheschließungen schlossen sie aber einstimmig aus. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erging nach einem fünfjährigen Rechtsstreit, den der inhaftierte Aktivist Jimmy Sham geführt hatte.
Die Richter sprachen Sham das verfassungsmäßige Recht auf eine gleichgeschlechtliche Ehe in Hongkong ab, gaben der Regierung allerdings zwei Jahre Zeit, Rechte wie den Zugang zu Krankenhäusern oder Erbschaftsregelungen für gleichgeschlechtliche Paare zu schützen. rtr
Das Schicksal der Uiguren führt im Bundestag Regierungs- und Oppositionsfraktionen zusammen. Derya Türk-Nachbaur (SPD), Peter Heidt (FDP), Boris Mijatović (Grüne), Michael Brand und Norbert Altenkamp (beide CDU) gehören zur Kerngruppe von Abgeordneten, die auf die Lage in der Provinz Xinjiang aufmerksam machen wollen. Von einem “schleichenden Genozid vor unseren Augen” sprach Türk-Nachbaur. Schon die vormalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hatte von “anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit” in Xinjiang gesprochen.
“Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen”, lautet die Forderung der Gründer-MdBs, denen sich weitere Parlamentarier anschließen wollen. China sei ein entscheidender Akteur der Weltwirtschaft, zahlreiche deutsche Unternehmen wie etwa VW seien dort vertreten. “Wir wollen nicht, dass sie die Region verlassen”, sagte Peter Heidt, “aber wir sagen ihnen: ‘Kümmert euch!’” Parteifreund Ulrich Lechte assistierte: “Wir wollen das Bewusstsein schärfen, wenn VW dort ein großes Werk errichtet, das von 30 Uiguren-Lagern umgeben ist.” Auch die informellen chinesischen Polizeistationen in Deutschland, die die chinesische Opposition – darunter auch die Uiguren – im Auge behalten sollen, werden Thema der Parlamentarier sein.
Die Freunde der Uiguren unterstützen die vorsichtige Distanz, die aus der China-Strategie hervorgeht. Sie wurde von Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag noch einmal besonders betont. Beim jährlichen Treffen der deutschen Diplomaten appellierte sie an die deutschen Unternehmen, ihre Abhängigkeiten von China zu überprüfen, “die im Zweifel zu einem Genickbruch führen könnten”. Horand Knaup
Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger sieht die Wissenschaft bei Zusammenarbeit und in Konkurrenz mit China auch in der Eigenverantwortung: Die Forschungsgemeinschaft müsse sich selbst die Fragen stellen, was “rote Linien” für Projekte seien und wie diese gezogen und beibehalten werden könnten, sagte sie am Dienstagabend bei einer Veranstaltung des deutschen China-Thinktanks Merics zum Thema Innovation. Die FDP-Politikerin appellierte zudem an mehr Selbstbewusstsein gegenüber China, auch aus Sicht des politischen Systems. “Wir haben etwas zu bieten”, betonte Stark-Watzinger. “Freiheit ist unser größter Wettbewerbsvorteil, und deshalb müssen wir sie verteidigen.”
Entscheidungsprozesse müssten Stark-Watzinger zufolge jedoch noch beschleunigt werden, um Innovationen wettbewerbsfähig zu gestalten. “Innovationspolitik ist die beste Industriepolitik, die wir haben”, sagte die Ministerin. Auch mehr Souveränität bei Schlüsseltechnologien sei dringend nötig. Dies sei keine “Luxus-Option” oder “nice to have”, sondern grundlegend. Stark-Watzinger sprach sich dennoch gegen eine Entkopplung von China aus. Wenn es um Innovation gehe, sei De-Risking nötig, keine Entkopplung und keine Deglobalisierung. Eher im Gegenteil: “Es ist wichtiger denn je, dass wir nach Partnern suchen, die unsere Werte teilen.”
Jakob Edler, geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Instituts, warnte ebenfalls davor, alle Beziehungen mit China einfach abzubrechen. Edler betonte, dass China auf dem Weg sei, ein sehr starker Wissenschaftsakteur zu werden. “China verfügt einerseits über Eigenständigkeit und ist andererseits ein starker internationaler wissenschaftlicher Akteur. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.”
Stark-Watzinger hatte zuletzt in einem FAZ-Gastbeitrag davor gewarnt, dass Deutschland nicht naiv sein dürfe im Umgang mit einem Regime, das “das Ziel verkündet, Ergebnisse ziviler Forschung in militärische Anwendungen überführen und eine Dominanz bei kritischen Technologien erreichen zu wollen”. ari
Ein ganzes Leben in einem Buch, mehr als 80 Jahre. Ein Mädchen, dessen Füße gebunden wurden – Füße, die auch als erwachsene Frau noch schmerzen, eine Zwangsheirat, Enteignung und Demütigung durch die Hand des Staates. Shi Mei hat dieses Leben aufgeschrieben, in ihrem deutschsprachigen Debütroman “Tamariske in der Wüste”, der im Herbst erscheint. Und hätte man Shi vor vielen Jahren gefragt, ob sie einmal ein Buch schreiben würde, sogar eines, das eng mit ihrer eigenen Familiengeschichte verwoben ist, hätte sie wohl entschieden den Kopf geschüttelt.
Shi ist in der Wüste geboren, in Taklamakan in Nordwestchina. Als Kind zog sie mit ihren Eltern in die Nähe der Kreisstadt Yongdeng und wuchs dort in der endlosen Weite der Wüste Gobi auf. Mit 16 machte sie eine Ausbildung zur Schweißerin und studierte später Englisch in Shanghai. “Die Zeit als Schweißerin am Wasserkraftwerk am Gelben Fluss war besonders prägend”, sagt Shi. Hier habe sie sich gewandelt – vom zufriedenen Landmädchen zu einer jungen Frau mit Entdeckungslust auf die weite Welt.
Von Shanghai wollte Shi zum Studieren nach Amerika, aber die Liebe durchkreuzte ihre Pläne, erzählt sie. In China lernte sie ihren deutschen Mann kennen und folgte ihm in der Transsibirischen Eisenbahn in seine Heimat – das war 1990. Hier orientierte sie sich neu, schloss eine Ausbildung zur Informatikerin ab. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Prokuristin in einer Firma für Sondermaschinenbau, sie übersetzt und dolmetscht im technischen Bereich. Und jetzt ein Roman in der Sprache, die sie erst lernen musste: “Dass ich auch auf Deutsch schreibe, begann mit der Beerdigungsfeier meiner Großmutter.”
Als Shis chinesische Großmutter starb, kamen mehr als 300 Menschen aus dem Dorf zu ihrer Beerdigung, verbrannten Totengeld und nahmen Abschied. “Das hat mich tief beeindruckt und ich begann, Details aus ihrem Leben zu recherchieren und ihre Geschichte aufzuschreiben.”
Ihre Großmutter sei wie ein Spiegelbild für so viele Frauen ihrer Zeit, sagt Shi. Ihr Roman soll deutschen Leserinnen und Lesern von den chinesischen Sitten und Bräuchen des 20. Jahrhunderts erzählen, vom Leben in einer großen Familie und den Zwängen der geltenden Schönheitsideale. “Meine Großmutter, die meiner Hauptfigur als Vorbild galt, überlebte nicht nur die harten Zeiten, sondern erblühte auch.”
Im Herbst wird Shi auf ihre erste Lesereise gehen, aber bis dahin hat sie noch einiges zu tun: “Ich schreibe gerade an meinem zweiten Roman, der im Sommer fertig werden soll”, erzählt sie. Auch darin werden Elemente ihrer eigenen Biografie auftauchen. “Es gibt ein Mädchen, das in der Wüste Taklamalan geboren ist, und nach Deutschland auswandert” – so viel möchte sie schon jetzt verraten. Svenja Napp
wie macht man das bloß – Menschen zum Kinderkriegen zu bewegen? Die Geburtenrate in China ist so niedrig, dass die Bevölkerung schrumpft. Eine neue “Ära der Heirats- und Gebärkultur” muss her, es drohen massive Probleme für die Wirtschaft und Sozialsysteme. Geld-Anreize, kostenfreies Social Freezing, in den Medien traditionelle Familienwerte betonen: Das sind einige der Strategien, aber was, wenn sie nicht wirken? Das analysiert Fabian Peltsch.
Begleitet wird die Geburtenpolitik von einem schwindenden Spielraum in der chinesischen Gesellschaft. Das zeigt sich an der Situation der Gruppe, in der es in unserem zweiten Text geht. Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle und andere Menschen, die geschlechtlich nicht der vermeintlichen Norm entsprechen, also LGBTQ+, erfahren in China immer weniger Freiheit. Die Behörden schließen ihre Institutionen und zensieren Inhalte mit ihren Themen.
Chinas Staatschef Xi Jinping hat sich die “große Verjüngung der chinesischen Zivilisation” auf die Fahnen geschrieben. Doch die Bevölkerung Chinas befindet sich auf einem entgegengesetzten Pfad: Sie altert, und das rapide. Im vergangenen Jahr ist die Bevölkerungszahl erstmals seit sechs Jahrzehnten geschrumpft. Wenn sie weiterhin so stark rückläufig bleibt, wird das massive Auswirkungen auf Chinas Sozialsystem und seine Wirtschaftskraft haben. Die Folgen sind zum Teil schon jetzt spürbar, und das sogar sehr konkret, wie die Gründerin einer Firma für Baby-Bedarf aus Shanghai kürzlich in einem Zeitungsinterview berichtete: Man spiele mit dem Gedanken, in den nächsten drei bis fünf Jahren von Baby- auf Haustier-Kleidung umzusatteln.
Aufgrund zahlreicher Herausforderungen zögern die Chinesen mit dem Kinderkriegen. Dass Peking seine Ein-Kind-Politik aufgehoben hat und mittlerweile sogar drei Kinder pro Familie erlaubt, hat an dieser Entwicklung nichts geändert: Offiziell lag die Geburtenrate 2020 bei 1,3 Kindern pro Frau. Die Kosten für die Erziehung und Ausbildung eines Kindes bis zu seinem 18. Lebensjahr sind in China im Verhältnis um einiges höher als beispielsweise in Deutschland oder in den USA: Während sie in China im Jahr 2019 mit umgerechnet rund 67.600 Euro das 6,9-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP betrugen, müssen Eltern in den USA das 5,25-fache und in Deutschland sogar nur das 3,64-fache des jährlichen Pro-Kopf-BIP aufwenden. Viele Frauen befürchten zudem, dass es negative Auswirkungen auf ihre Karriere haben könnte, wenn sie ein Kind bekommen.
Erst im März kam es in Chinas sozialen Medien zu empörten Diskussionen, weil ein Unternehmen in Wuhan einer jungen Frau aufgrund ihrer Schwangerschaft gekündigt haben soll. Die im Gesetz verankerten “Sonderbestimmungen zum Arbeitsschutz für weibliche Beschäftigte”, die es Arbeitgebern verbietet, den Lohn von weiblichen Beschäftigten zu kürzen oder ihren Arbeitsvertrag zu kündigen, wenn sie schwanger sind, werden selten juristisch durchgesetzt. Zudem existieren zahlreiche Schlupflöcher, mit denen Firmen die Bestimmungen umgehen können. In Chinas Sozialmedien kursieren viele Berichte darüber, wie Bonus-Zahlungen gekürzt werden oder Mitarbeiterinnen gegängelt werden, bis diese von selbst kündigen.
In einem Kommentar in der staatlichen Zeitung Economic Daily heißt es, der Staat müsse Chinas jungen Eltern nun helfen, “ein moderates Fruchtbarkeitsniveau zu erreichen und die demografische Struktur zu optimieren”. So will China etwa die Zahl der Kinderbetreuungseinrichtungen bis 2025 verdoppeln, wie der staatliche Fernsehsender CCTV berichtet. Die Zahl der Betreuungspersonen pro 1.000 Einwohner soll von 2,5 im Jahr 2022 auf 4,5 im Jahr 2025 steigen. Gleichzeitig wurden in mehr als 20 Städten Pilotprojekte gestartet, um eine “neue Ära der Heirats- und Gebärkultur zu schaffen”, wie die staatliche Global Times berichtet. Vorgesehen sind steuerliche Anreize, Wohnbauförderung und kostenlose oder subventionierte Bildung für ein drittes Kind. Auch “veraltete Bräuche” wie Mitgiften und Brautpreise sollen bekämpft werden.
Einzelne Lokalregierungen versuchen bereits, sich gegenseitig mit ihren Vorstößen zu überbieten: Die Provinz Guangdong plant etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen für Mütter mit kleinen Kindern unter 12 Jahren. Die nordostchinesische Stadt Shenyang bietet Familien mit einem dritten Kind einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 65 Euro an, bis das Kind drei Jahre alt ist. Die Stadt Hangzhou in der ostchinesischen Provinz Zhejiang möchte Paaren, die ein drittes Kind bekommen, einen einmaligen Zuschuss von umgerechnet 2.600 Euro gewähren, und 650 Euro für Paare mit zwei Kindern.
Einige politische Berater schlagen sogar vor, ledigen Frauen das Einfrieren von Eizellen und In-Vitro-Behandlungen zu ermöglichen – bislang werden solche Verfahren nur verheirateten Frauen gewährt, die Fruchtbarkeitsprobleme nachweisen können. Der bekannte Ökonom Ren Zeping schlug sogar vor, dass Chinas Zentralbank zwei Billionen Yuan (314 Milliarden US-Dollar) drucken solle, um die Geburten von 50 Millionen Babys in den nächsten 10 Jahren zu unterstützen. Nach einer angeregten Debatte wurden Rens offizielle Kanäle auf den Online-Plattformen Weibo und WeChat eingefroren. Seine Ideen seien unpraktisch und ihm mangele es an “gesundem Menschenverstand”, erklärten Rens Kritiker.
Demografie-Experte Yi Fuxian hält die bisher abgesegneten staatlichen Maßnahmen für Tropfen auf den heißen Stein. “Der Staat verfügt zum einen nicht über genügend Mittel, um die Geburtenrate zu erhöhen, und zum anderen müssten junge Menschen dafür hohe Steuern zahlen, was ihre Möglichkeit, Kinder aufzuziehen, wiederum weiter einschränkt”, erklärt der leitende Demograf im Bereich Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison im Interview mit Table.Media.
China versuche sich in Ermangelung besserer Ideen nun am japanischen Modell, das sich jedoch bereits vor Jahren als “teuer und ineffizient” erwiesen habe, erklärt Yi. Dort habe sich die Geburtenrate trotz Senkung der Ausbildungskosten, Bereitstellung besserer Betreuungseinrichtungen, Geburts- und Wohnbeihilfen nach kurzer Erhöhung wieder bei 1,34 Geburten pro Frau eingependelt. Und China, “das alt wird, bevor es reich wird”, verfüge noch nicht einmal über die finanziellen Mittel, um “Japans Weg vollständig zu folgen.”
“Die chinesische Regierung ist zu sehr auf schnellen Erfolg erpicht”, glaubt Yi. Das eigentliche Problem liege seiner Meinung nach tiefer und sei psychologischer Natur. “Die Ein-Kind-Politik hat die Einstellung der Chinesen zum Kinderkriegen verändert und die moralischen Werte über Leben und Familie verzerrt. Nur ein Kind oder gar keine Kinder zu haben, ist in China zur gesellschaftlichen Norm geworden.”
Mit der Schließung des Beijing LGBT Center am 15. Mai verschwand der wohl wichtigste und landesweit bekannteste Safe Space für Menschen in China, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich und queer identifizieren. Das 2008 gegründete Zentrum hatte sich für ihre Rechte eingesetzt und Unterstützung angeboten, etwa bei Fragen zur physischen und mentalen Gesundheit, Diskriminierung und Rechten.
Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen insgesamt, und LGBTQ-freundlicher Organisationen im Besonderen, ist in China in den vergangenen zehn Jahren immer schwieriger geworden. Schon 2021 wurde die Gruppe LGBT Rights Advocacy China aufgelöst, die sich vor Gericht für Homosexuelle eingesetzt hatte. Im selben Jahr wurden fast 20 WeChat-Konten von LGBTQ- und Gender-Studiengruppen geschlossen.
Queere Dating-Apps und andere Gruppen in den sozialen Netzwerken verschwanden. Zum Teil wurden sie Opfer des sogenannten “Shadow Banning”, durch das sie von reichweitenstarken Zielgruppen abgeschnitten werden. Formal sanktioniert wird das Vorgehen durch Pekings Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen. Seit Anfang 2017 gilt in der Volksrepublik das NGO-Gesetz, das die Gruppen in ihrer Arbeit stark beschränkt.
Die Kommunistische Partei duldet immer weniger Organisationen neben sich. Dabei erfüllten die Gruppen in der Wahrnehmung der Betroffenen eine wichtige Funktion. Das Beijing LGBT Center hatte beispielsweise eine Hotline für Selbstmordgefährdete eingerichtet. Daneben hatte sich das Zentrum für eine größere Sichtbarkeit der Community in der chinesischen Gesellschaft stark gemacht. 2016 führte es etwa die größte jemals durchgeführte Umfrage zu Fragen der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt in China durch. Mehrmals waren chinesische Universitäten an den Forschungen des Zentrums beteiligt.
Als offiziellen Grund für die Schließung des LGBT Center nannten die Verantwortlichen dort “unvorhersehbare Umstände” und “höhere Gewalt”. Ihre Diskretion ist vermutlich staatlichem Druck geschuldet. Der Filmemacher Popo Fan, der das Zentrum mit aufgebaut hat und zeitweilig Vorstandsmitglied war, schreibt auf seiner Facebook-Seite: “Dies ist nicht nur ein großer Verlust für die LGBT-Kultur und die Zivilgesellschaft in China, sondern bedeutet auch, dass viele der Unterdrückten ihr Zuhause verloren haben.”
Bis heute wurde nicht öffentlich bekannt, ob das Zentrum auf Druck von oben schließen musste. Mitglieder des Zentrums berichteten der Deutschen Welle jedoch, dass sie häufig von der Polizei verhört und schikaniert worden waren.
Wer sich jetzt noch engagiert, lebt gefährlich. “Es ist sehr riskant, heute in China Veranstaltungen wie eine Pride Parade abzuhalten. Die Regierung könnte so etwas schnell als politischen Protest einstufen, was Freiheitsstrafen für die Organisatoren nach sich ziehen kann”, erklärt Monika Ke im Gespräch mit Table.Media (Name geändert).
Die Journalistin und trans* Frau hat sich besonders mit der Repräsentation von LGBTQ in chinesischen Sozialmedien befasst. “Einerseits haben Personen abseits heteronormativer Rollenbilder dort mehr Sichtbarkeit denn je. Andererseits werden klassische Rollenbilder und Familienwerte verherrlicht.” Ke sieht durchaus eine unrühmliche Rolle der Regierung. “Konservative Anti-LGBTQ-Aktivisten kontrollieren diese Narrative genau.”
Homosexualität wurde in der Volksrepublik 1997 offiziell entkriminalisiert. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft aber nach wie vor verboten, sexuelle Orientierungen jenseits des Mainstreams im Alltag oft mit Tabus belegt. Auch am Arbeitsplatz ist Diskriminierung keine Seltenheit, wie Ke berichtet. “Das offizielle Framing lautet, dass es in China keine Verfolgung und Unterdrückung von LBGTQ-Personen gibt, dass sie laut der Verfassung Menschen wie alle anderen seien, und demzufolge ein Gesetz, das ihre Diskriminierung ahndet, nicht nötig sei. Aber so einfach ist es natürlich nicht.”
Ke spricht aus Erfahrung. Auch sie erlebte Diskriminierung am Arbeitsplatz und wurde schlussendlich aus der Firma gedrängt, ohne sich wirklich dagegen wehren zu können.
Ein Grund, warum der Staat zuletzt stärker gegen LGBTQ-Gruppen vorging, dürfte auch mit der Überalterung der chinesischen Gesellschaft zu tun haben, der die Regierung entgegenzuwirken versucht, indem sie klassische Familien- und Geschlechterrollen propagiert. Der Diskurs in den USA und Europa wird dabei auch von den chinesischen Staatsmedien genutzt, um die Diskussion in China in bestimmte Richtungen zu lenken, glaubt Ke. “Die Frage mit den öffentlichen Toiletten wird auch in China heiß diskutiert oder J.K. Rowling zu einer Art Anti-Transgender-Ikone hochstilisiert, die Opfer einer Hexenjagd wurde.”
Gleichzeitig würden viele Konservative versuchen, LGBTQ-Themen als Verschwörung ausländischer Kräfte oder Auswüchse des Kapitalismus darzustellen, die Chinas nationale Interessen angreifen. Dabei sei die chinesische Öffentlichkeit insgesamt toleranter geworden, sagt Ke. Viele jungen Menschen sehen sich als Allies – Verbündete – der Community.
Im Jahr 2018 wurde ein Versuch, LGBTQ-Inhalte auf Weibo zu verbieten, durch einen kollektiven Online-Aufschrei gestoppt. “Gleichzeitig sind die Hasskommentare heftiger denn je”, sagt Ke. “Die Gesellschaft scheint in Bezug auf LGBTQ-Themen zunehmend polarisiert zu sein, und natürlich gewinnen die Konservativen in den chinesischen sozialen Medien mehr Macht als die Progressiven. Das wird sich in naher Zukunft nicht ändern.”
Hongkongs oberstes Gericht hat am Dienstag der Klage eines LGBTQ-Aktivisten auf Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften teilweise stattgegeben. Gleichgeschlechtliche Eheschließungen schlossen sie aber einstimmig aus. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erging nach einem fünfjährigen Rechtsstreit, den der inhaftierte Aktivist Jimmy Sham geführt hatte.
Die Richter sprachen Sham das verfassungsmäßige Recht auf eine gleichgeschlechtliche Ehe in Hongkong ab, gaben der Regierung allerdings zwei Jahre Zeit, Rechte wie den Zugang zu Krankenhäusern oder Erbschaftsregelungen für gleichgeschlechtliche Paare zu schützen. rtr
Das Schicksal der Uiguren führt im Bundestag Regierungs- und Oppositionsfraktionen zusammen. Derya Türk-Nachbaur (SPD), Peter Heidt (FDP), Boris Mijatović (Grüne), Michael Brand und Norbert Altenkamp (beide CDU) gehören zur Kerngruppe von Abgeordneten, die auf die Lage in der Provinz Xinjiang aufmerksam machen wollen. Von einem “schleichenden Genozid vor unseren Augen” sprach Türk-Nachbaur. Schon die vormalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet hatte von “anhaltenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit” in Xinjiang gesprochen.
“Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen”, lautet die Forderung der Gründer-MdBs, denen sich weitere Parlamentarier anschließen wollen. China sei ein entscheidender Akteur der Weltwirtschaft, zahlreiche deutsche Unternehmen wie etwa VW seien dort vertreten. “Wir wollen nicht, dass sie die Region verlassen”, sagte Peter Heidt, “aber wir sagen ihnen: ‘Kümmert euch!’” Parteifreund Ulrich Lechte assistierte: “Wir wollen das Bewusstsein schärfen, wenn VW dort ein großes Werk errichtet, das von 30 Uiguren-Lagern umgeben ist.” Auch die informellen chinesischen Polizeistationen in Deutschland, die die chinesische Opposition – darunter auch die Uiguren – im Auge behalten sollen, werden Thema der Parlamentarier sein.
Die Freunde der Uiguren unterstützen die vorsichtige Distanz, die aus der China-Strategie hervorgeht. Sie wurde von Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag noch einmal besonders betont. Beim jährlichen Treffen der deutschen Diplomaten appellierte sie an die deutschen Unternehmen, ihre Abhängigkeiten von China zu überprüfen, “die im Zweifel zu einem Genickbruch führen könnten”. Horand Knaup
Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger sieht die Wissenschaft bei Zusammenarbeit und in Konkurrenz mit China auch in der Eigenverantwortung: Die Forschungsgemeinschaft müsse sich selbst die Fragen stellen, was “rote Linien” für Projekte seien und wie diese gezogen und beibehalten werden könnten, sagte sie am Dienstagabend bei einer Veranstaltung des deutschen China-Thinktanks Merics zum Thema Innovation. Die FDP-Politikerin appellierte zudem an mehr Selbstbewusstsein gegenüber China, auch aus Sicht des politischen Systems. “Wir haben etwas zu bieten”, betonte Stark-Watzinger. “Freiheit ist unser größter Wettbewerbsvorteil, und deshalb müssen wir sie verteidigen.”
Entscheidungsprozesse müssten Stark-Watzinger zufolge jedoch noch beschleunigt werden, um Innovationen wettbewerbsfähig zu gestalten. “Innovationspolitik ist die beste Industriepolitik, die wir haben”, sagte die Ministerin. Auch mehr Souveränität bei Schlüsseltechnologien sei dringend nötig. Dies sei keine “Luxus-Option” oder “nice to have”, sondern grundlegend. Stark-Watzinger sprach sich dennoch gegen eine Entkopplung von China aus. Wenn es um Innovation gehe, sei De-Risking nötig, keine Entkopplung und keine Deglobalisierung. Eher im Gegenteil: “Es ist wichtiger denn je, dass wir nach Partnern suchen, die unsere Werte teilen.”
Jakob Edler, geschäftsführender Leiter des Fraunhofer-Instituts, warnte ebenfalls davor, alle Beziehungen mit China einfach abzubrechen. Edler betonte, dass China auf dem Weg sei, ein sehr starker Wissenschaftsakteur zu werden. “China verfügt einerseits über Eigenständigkeit und ist andererseits ein starker internationaler wissenschaftlicher Akteur. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen.”
Stark-Watzinger hatte zuletzt in einem FAZ-Gastbeitrag davor gewarnt, dass Deutschland nicht naiv sein dürfe im Umgang mit einem Regime, das “das Ziel verkündet, Ergebnisse ziviler Forschung in militärische Anwendungen überführen und eine Dominanz bei kritischen Technologien erreichen zu wollen”. ari
Ein ganzes Leben in einem Buch, mehr als 80 Jahre. Ein Mädchen, dessen Füße gebunden wurden – Füße, die auch als erwachsene Frau noch schmerzen, eine Zwangsheirat, Enteignung und Demütigung durch die Hand des Staates. Shi Mei hat dieses Leben aufgeschrieben, in ihrem deutschsprachigen Debütroman “Tamariske in der Wüste”, der im Herbst erscheint. Und hätte man Shi vor vielen Jahren gefragt, ob sie einmal ein Buch schreiben würde, sogar eines, das eng mit ihrer eigenen Familiengeschichte verwoben ist, hätte sie wohl entschieden den Kopf geschüttelt.
Shi ist in der Wüste geboren, in Taklamakan in Nordwestchina. Als Kind zog sie mit ihren Eltern in die Nähe der Kreisstadt Yongdeng und wuchs dort in der endlosen Weite der Wüste Gobi auf. Mit 16 machte sie eine Ausbildung zur Schweißerin und studierte später Englisch in Shanghai. “Die Zeit als Schweißerin am Wasserkraftwerk am Gelben Fluss war besonders prägend”, sagt Shi. Hier habe sie sich gewandelt – vom zufriedenen Landmädchen zu einer jungen Frau mit Entdeckungslust auf die weite Welt.
Von Shanghai wollte Shi zum Studieren nach Amerika, aber die Liebe durchkreuzte ihre Pläne, erzählt sie. In China lernte sie ihren deutschen Mann kennen und folgte ihm in der Transsibirischen Eisenbahn in seine Heimat – das war 1990. Hier orientierte sie sich neu, schloss eine Ausbildung zur Informatikerin ab. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Prokuristin in einer Firma für Sondermaschinenbau, sie übersetzt und dolmetscht im technischen Bereich. Und jetzt ein Roman in der Sprache, die sie erst lernen musste: “Dass ich auch auf Deutsch schreibe, begann mit der Beerdigungsfeier meiner Großmutter.”
Als Shis chinesische Großmutter starb, kamen mehr als 300 Menschen aus dem Dorf zu ihrer Beerdigung, verbrannten Totengeld und nahmen Abschied. “Das hat mich tief beeindruckt und ich begann, Details aus ihrem Leben zu recherchieren und ihre Geschichte aufzuschreiben.”
Ihre Großmutter sei wie ein Spiegelbild für so viele Frauen ihrer Zeit, sagt Shi. Ihr Roman soll deutschen Leserinnen und Lesern von den chinesischen Sitten und Bräuchen des 20. Jahrhunderts erzählen, vom Leben in einer großen Familie und den Zwängen der geltenden Schönheitsideale. “Meine Großmutter, die meiner Hauptfigur als Vorbild galt, überlebte nicht nur die harten Zeiten, sondern erblühte auch.”
Im Herbst wird Shi auf ihre erste Lesereise gehen, aber bis dahin hat sie noch einiges zu tun: “Ich schreibe gerade an meinem zweiten Roman, der im Sommer fertig werden soll”, erzählt sie. Auch darin werden Elemente ihrer eigenen Biografie auftauchen. “Es gibt ein Mädchen, das in der Wüste Taklamalan geboren ist, und nach Deutschland auswandert” – so viel möchte sie schon jetzt verraten. Svenja Napp