Themenschwerpunkte


„China wird die USA nie übertreffen“

Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.
Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.

Herr Yi, erstmals seit der großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war drohende Überbevölkerung der Grund, warum sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Angaben zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist der niedrigste Wert seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1,0 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber etwa 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. Das heißt: In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass Chinas Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie es nie ein Land erlebt hat.

Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen und können nicht völlig unerwartet sein?

Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der letzten Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte? 

Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raketenexperte Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das erschreckte die chinesische Führung. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro gebärfähiger Frau. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich ging mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er-Jahre die Fertilitätsrate bereits zurück und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss – sie war komplett falsch und völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die restriktive Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, hätte die Bevölkerung maximal einen Höchststand von 1,6 Milliarden erreicht und wäre dann zurückgegangen.

Wenn die Fertilitätsrate von selbst zurückgegangen wäre, hätte es das Problem der Vergreisung aber auch gegeben. 

Ja, aber nicht so abrupt. Um 2030 herum wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn Japan, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf vier Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. Im Jahr 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den Fortune Global 500, im Jahr 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie viel höhere Gesundheits- und Sozialausgaben eine alte Gesellschaft verschlingt.

Und was bedeutet eine solche Entwicklung konkret für China?

Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

Im Gegenteil. Die KP dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute. 

Seit 2016 ist es Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit dem vergangenen Jahr sind es drei. Die Fertilitätsrate geht dennoch weiter zurück. 

Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem aber die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern hat Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Das kostet aber. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind. 

Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

Was bedeutet diese Entwicklung für Chinas Ambitionen, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Das wird natürlich Jahrzehnte dauern.

Und Afrika mit seiner jungen Bevölkerung …

… steht eine große Zukunft bevor. Immer mehr Firmen werden Afrika entdecken und sich dort niederlassen.

Yi Fuxian leitet den Bereich Demografie mit Spezialisierung auf die Themen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Von ihm stammt das Buch „Big Country with an Empty Nest“, in dem er die chinesische Bevölkerungspolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

Mehr zum Thema

    „Politiker-Besuche in Taiwan sind Teil eines großen Theaterstücks“
    Das Ausland buhlt um Xi
    Peking will neutrale Rolle im Nahen Osten spielen
    Ansprüche chinesischer Touristen haben sich geändert