im Nachrichtengeschäft ist das zwar normal. Und doch ist es erschreckend, wie schnell die Anliegen der Hongkonger Demokratiebewegung angesichts von Ukraine-Krieg und der immer mehr sich zeigenden Klimakrise in der Weltöffentlichkeit in den Hintergrund gerückt sind. Dabei setzen sich Hongkonger Aktivistinnen und Aktivisten aus ihren Exilen in London, Taiwan, USA und Berlin weiter für die Freiheitsrechte in ihrer Heimatstadt ein.
Einer, der sie tatkräftig unterstützt, ist Samuel Chu. Langfristige politische Erfolge brauchen politische Institutionen, die jetzt aufgebaut werden müssen, sagt der erfahrene Aktivist im Interview mit Fabian Peltsch. “Das ist hart, zäh, und manchmal frustrierend.” Nur so könne die Bewegung wachsen und sich weiterentwickeln – sie braucht einen langen Atem.
Gespannte Blicke richten sich derzeit nach Genf – noch vor ihrem Abtritt als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte hatte Michelle Bachelet die Veröffentlichung ihres umstrittenen China-Berichts zugesichert. Bachelet bleiben dafür nur noch knapp zwei Wochen. Nicht wenige Beobachter fürchten, dass sie der chinesischen Darstellung auf den Leim gegangen ist. Ihr Bericht wird es zeigen, wenn er endlich herauskommt.
Ein anderer, nicht minder wichtiger UN-Bericht erhebt jetzt schon schwere Vorwürfe gegen die Volksrepublik. Der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationenzu Sklaverei hält es für erwiesen, dass es sowohl in der autonomen Region Xinjiang als auch in Tibet zu “Formen der Sklaverei” kommt. Marcel Grzanna hat sich das Dokument genauer angesehen. Der Report formuliert unverblümt genau die Vorwürfe, die China sonst stets zurückweist.
Ende Mai besuchten Sie Oslo, wo während der Freedom Forum Conference eine Kopie der “Säule der Schande” auf einem Universitätsgelände errichtet wurde. Derzeit arbeiten Sie daran, dass eine Kopie des Kunstwerkes des dänischen Künstlers Jens Galshiøst auch in Berlin vorübergehend einen Platz findet. Welchen Symbolwert messen Sie dem Werk bei?
Zum einen sehe ich es als Zeichen der Solidarität mit den Menschen von Hongkong, die einen Großteil der Rechte, die ihnen unter dem Prinzip “Ein Land, zwei Systeme” zugebilligt wurden, eingebüßt haben. Die Skulptur soll daran erinnern, wie schnell der Niedergang dieser Rechte in Hongkong vonstattenging und wie verlässlich Chinas Versprechungen tatsächlich sind. Zum anderen betrachte ich die “Säule der Schande” auch als eine Art Kanarienvogel in der Kohlemine: Wenn eine Kopie nach Berlin kommt, werden zahlreiche Gegner an die Öffentlichkeit kommen, chinesische Studenten werden dagegen protestieren, chinesische Agenten werden sichtbar werden. Und auch Menschen in der Politik. Das ist gut. So können wir entlarven, wie groß der Einfluss Chinas schon jetzt in Deutschland ist.
Wenn ich Politiker treffe, auch hier in Deutschland, spreche ich mit ihnen darüber, warum ein freies Hongkong in ihrem Interesse ist. Und das, was in Hongkong passiert, auch ein Auftakt sein kann für das, was an anderen Orten der Welt passieren könnte.
Sie verbinden mit dem Kunstwerk auch eine persönliche Geschichte.
Mein Vater war einer der ersten, der von Jens kontaktiert wurde, als es darum ging, das Kunstwerk nach Hongkong zu bringen. Mein Vater war damals, Mitte der 1990er-Jahre, einer der Führer der Hongkong Alliance, später die größte Organisation, die sich für Demokratie und Tiananmen-Erinnerungskultur in Hongkong einsetzte. Sie wollten die Statue unbedingt vor der Übergabe der britischen Kronkolonie in Hongkong errichten. Es sollte ein Test sein, inwieweit China tatsächlich die Rechte der Bürger von Hongkong nach 1997 wahren würde. 32 Jahre stand sie in der Stadt und geriet fast in Vergessenheit. Das große sichtbare internationale Symbol für den Niedergang des freien Hongkongs wurde sie erst 2021, als sie aufgrund von politischem Druck entfernt werden musste.
Ihr Vater, der Baptistenpastor und Occupy-Central-Mitbegründer Chu Yiu-ming, ist einer der bekanntesten Menschenrechtler Hongkongs. Welchen Einfluss hatte ihr Familienhintergrund auf Ihre politische Arbeit?
Mein Vater leitete 1989 die Operation “Yellow Bird”, die half, politische Flüchtlinge aus China über Hongkong ins Ausland zu bringen. Als Konsequenz verbrachte ich als junger Menschen viel Zeit mit politischen Flüchtlingen. Wir spielten Fußball und Karten, während sie auf ihre humanitären Visa für eine Weiterreise warteten. Das hat meine Perspektive auf die Diaspora und Dissidenten geprägt. Die chinesische Regierung war in ihrem Vorgehen gegen sie lange effektiv, denn sie wusste: Waren die Aktivisten erst einmal nach Übersee geflohen, würde man bald nichts mehr von ihnen hören. Politische Gruppen waren im Ausland isoliert, die Energie der Proteste versandete. Meine Arbeit besteht heute darin, das zu ändern.
Inwiefern?
Ich habe meine gesamte Karriere dem Aufbau politischer Bewegungen in der demokratischen Welt gewidmet, von Klimaschutz, über LGBTQ- bis hin zu Black-Lives-Matter-Gruppen. Bei allen geht es darum, von einer Protestbewegung in etwas Größeres, Beständigeres zu wachsen. Wir haben ja die Tendenz, Protestbewegungen zu romantisieren. Was ich dabei immer wieder predige, ist: Protestbewegungen verlassen sich sehr auf einzelne charismatische Personen. Langfristige politische Bemühungen müssen sich aber auf politische Institutionen verlassen. Und diese müssen jetzt aufgebaut werden. Das ist hart, zäh, und manchmal frustrierend. Aber nur so kann die Bewegung wachsen und sich weiterentwickeln.
Ein Journalist aus Hongkong, der nun in Deutschland lebt, berichtete mir, dass viele Hongkonger, die sich vor Ort für die Stadt aufopferten, als Diaspora im Ausland kaum Zusammenhalt finden. Haben Sie ähnliches beobachtet?
Man hat da Demonstranten, die auf Leben und Tod für ihre Rechte eingetreten sind. Viele stecken in diesem Protest-Mindset fest. Sie stehen jeden Morgen auf und wollen der Welt entgegenschreien: “Schaut, was in Hongkong passiert!” Man darf nicht vergessen, dass Hongkong nie eine Demokratie war. Die Menschen konnten im Prinzip nichts anderes tun als zu protestieren, um gehört zu werden. Die Diaspora ist so davon in Anspruch genommen, darauf zu reagieren was zu Hause in Hongkong passiert, dass sie sich nicht auf eine enge Beziehung zur lokalen politischen Community einlassen kann. Aber ein solcher Einfluss ist nötig, um langfristig etwas zu bewegen. Das heißt nicht, dass sie Hongkong aufgeben.
Einige Menschen aus Hongkong haben wohl noch immer die Hoffnung, dass sich die Ereignisse in ihrer Heimatstadt auf die ein- oder andere Weise umkehren lassen.
Es gibt keine magische Formel, mit der man Hongkong wieder zu dem machen kann, was es war. Der UN-Menschenrechtsrat hat die Regierung in Hongkong erst kürzlich zum Widerruf des Nationalen Sicherheitsgesetzes aufgerufen. Ich bin natürlich froh darüber, dass das so offiziell festgehalten wurde. Aber man kann nicht mehr ungeschehen machen, dass 10.000 Menschen aufgrund von friedlichen Protesten angezeigt und über 200 Aktivisten wie Jimmy Lai unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz verhaftet wurden.
Vor zwei Jahren wurde in Hongkong auch ein Haftbefehl gegen Sie ausgestellt. Und das, obwohl sie seit 30 Jahren in den USA leben und US-Bürger sind. Ein Präzedenzfall.
Ich habe zu einem gewissen Grad dabei geholfen, die Regeln und die Strategien umzuschreiben. Ich mache meine politische Arbeit hauptsächlich hinter den Kulissen. Als die Proteste 2019 einen Höhepunkt erreichten, bin ich nicht nach Hongkong geflogen, um in die Kameras zu sprechen. Ich entschied mich, mit dem Hong Kong Democracy Council eine Hilfsorganisation zu gründen, die in Übersee von US-Staatsbürgern geleitet wird. Es ist eine Organisation, die tatsächlich Gesetze beeinflussen kann und sich nicht nur auf Proteste und Gedenkveranstaltungen verlässt. So eine Art von Organisation ist mächtiger und eindrucksvoller, um sich gegen die chinesische Regierung durchzusetzen. Danach habe ich die “Kampagne für Hongkong” gegründet, die ich noch immer leite.
Und das macht Sie zum Staatsfeind?
Im Nationalen Sicherheitsgesetz gibt es einen Paragrafen, der sich direkt an mich, meine Organisation und unsere Art zu arbeiten zu richten scheint. Da steht, frei übersetzt: Egal wer du bist und woher du kommst, wir kriegen dich. Ich habe die Bewegung von der Straße in das Parlament getragen und von dort ins Weiße Haus. Das ist ein Shift, den Chinas Regierung nicht erwartet hat. Deshalb mussten sie ihr Playbook überarbeiten und auch ausländische Aktivisten ins Visier nehmen. In diesem Sinne bin ich vielleicht selbst ein bisschen wie der “Pillar Of Shame”. Wo ich auftauche, werden unsichtbare chinesische Kräfte sichtbar.
Samuel Chu, 44, ist Präsident der “Campaign for Hong Kong”, einer Organisation, die sich für eine Politik einsetzt, die Menschenrechte und Demokratie in Hongkong fördert. Zuvor war er Gründer und Direktor des Hong Kong Democracy Council (HKDC) mit Sitz in Washington, D.C. In dieser Position spielte er eine führende Rolle bei der Verabschiedung mehrerer Gesetze zur Unterstützung Hongkongs im US-Kongress. Im Juli 2020 erließen die Hongkonger Behörden einen Haftbefehl gegen Chu, womit er der erste ausländische Staatsbürger ist, der infolge des Nationalen Sicherheitsgesetzes ins Visier genommen wurde.
Wenige Tage nach der feierlich präsentierten Ratifizierung internationaler Konventionen gegen Zwangsarbeit sieht sich die Volksrepublik China schweren Anschuldigungen durch ein UN-Gremium ausgesetzt. Ein Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen, Tomoya Obokata, hält es für erwiesen, dass es sowohl in der autonomen Region Xinjiang als auch in Tibet zu “Formen der Sklaverei” kommt.
“Unabhängige akademische Forschung, offene Quellen, Zeugenaussagen von Opfern, Konsultationen mit Interessenvertretern und Berichte der Regierung” rechtfertigten diese Schlussfolgerung, heißt es in einem 20-seitigen Bericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Mehr noch könnten “übermäßige Überwachung, missbräuchliche Lebens- und Arbeitsbedingungen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Internierung, Drohungen, körperliche und/oder sexuelle Gewalt und andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” den Tatbestand von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen.
Das drastische Fazit des japanischen Sonderberichterstatters für moderne Formen der Sklaverei ist Teil eines Papiers, das sich nicht nur mit Zwangsarbeit in China, sondern auch in anderen Teilen der Welt befasst. Es dient dem Menschenrechtsrat für dessen 51. Sitzung in Genf im September als Diskussionsgrundlage.
Wenn der Rat zusammentritt, wird die noch amtierende UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet nicht mehr dabei sein. Eigentlich war es die Chilenin, die einen Bericht zur Situation der Uiguren und anderen Minderheiten hätte vorlegen sollen. Doch mehrfach ist eine Veröffentlichung bereits verschoben worden. Der Hochkommissarin, die Ende Mai die Volksrepublik besucht hatte, wird vorgeworfen, den Bericht im Interesses der chinesischen Regierung zu verschleppen und sich deren sprachliche Verharmlosung angeeignet zu haben.
Jetzt soll das Dokument angeblich an ihrem letzten Tag im Amt Ende August veröffentlicht werden. Peking durfte den Bericht bereits einsehen und dessen Einschätzungen kommentieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass um kritische Formulierungen bis zuletzt gerungen wird und China die Vorwürfe glattbügeln will.
Obokatas Bericht schmeckt China überhaupt nicht, formuliert er doch unverblümt genau jene Vorwürfe, die das Land stets in Reich der Fabeln verbannen will. Am Mittwoch reagierte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums abermals mit verbalen Gegenangriffen und wähnte die Volksrepublik reflexartig in der Opferrolle. Obokata habe sich entschieden, “Lügen und von den USA und anti-chinesischen Kräften fabrizierte Falschinformationen zu glauben.” Der Sonderberichterstatter besudele “bösartig” Chinas Ansehen.
Die Volksrepublik versucht seit Jahren, mit penibel gesteuerter Informationspolitik ein anderes Bild aus Xinjiang zu zeichnen. Um den zunehmend massiven Vorwürfen die Wucht zu nehmen, setzt Peking auch auf wirtschaftliche Zwänge gegen ausländische Unternehmen, von denen viele Angst haben vor Konsequenzen für ihre Umsätze im Land. Entweder schweigen sie deshalb zu der Thematik oder winden sich in zweifelhaftem Schönreden.
Obokatas Bericht nimmt dementsprechend auch internationale Firmen in die Pflicht. Den Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) in den USA oder Lieferkettengesetze in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder auf EU-Ebene bezeichnet er als gute Beispiele, um die Unternehmen zur Sorgfalt zu verpflichten.
Hoffnungsvoll reagierten uigurische Interessenvertreter. “Die Ergebnisse dieses Berichts müssen ein Weckruf für diejenigen sein, die sich bisher geweigert haben, Maßnahmen gegen die Verbreitung von Waren in globalen Lieferketten zu ergreifen, die durch uigurische Zwangsarbeit hergestellt werden”, sagte der Präsident des Weltkongresses der Uiguren (WUC), Dolkun Isa. Der WUC fordert zudem Michelle Bachelet zur sofortigen Veröffentlichung ihres Berichts auf.
Positive Resonanz gab es auch von tibetischen Organisationen. Die International Campaign for Tibet (ICT) begrüßte den expliziten Hinweis des Berichts auf Zwangsarbeit in den tibetischen Siedlungsgebieten der Volksrepublik. “Die Feststellung des Sonderberichterstatters unterstreicht auch die Dramatik der Situation in Tibet sowie die Tatsache, dass diese ebenfalls besondere Aufmerksamkeit verdient“, sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller in einer Stellungnahme. “Wir haben immer wieder auf sogenannte Arbeitsprogramme der chinesischen Regierung hingewiesen, in die Hunderttausende Tibeter gezwungen werden”, so Müller, der sich der Forderung zur umgehenden Veröffentlichung von Bachelets Bericht anschloss.
Erst Ende vergangener Woche hatte China die Übereinkommen 29 und 105 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert. Die Konvention über Zwangsarbeit von 1930 und die Konvention zur Abschaffung der Zwangsarbeit von 1957 verpflichten die Volksrepublik dazu, jegliche Form von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu unterbinden und auch nicht “als Mittel des politischen Zwangs, der Bildung oder als Strafe für das Halten oder Ausdrücken politischer Ansichten oder Ansichten, die dem etablierten politischen, sozialen oder wirtschaftlichen System ideologisch entgegengesetzt sind”.
“Der Zeitpunkt des Berichts ist angesichts der jüngsten Ratifizierung von zwei ILO-Übereinkommen durch China, die den Einsatz von Zwangsarbeit verbieten, recht heikel”, kommentierte Adrian Zenz auf Twitter. Der deutsche Anthropologe hatte mit seinen minutiösen Recherchen zu Zwangsarbeit in Xinjiang die Wahrnehmung der Problematik weltweit drastisch erhöht. Zenz beurteilt das UN-Papier als “äußerst bedeutende und starke Einschätzung”.
Doch so drückend die Beweislage auch ist, auf die sich der Bericht stützt, dürfte China auch in Zukunft eine Front an Fürsprecher ins Feld führen, die versucht, die Vorwürfe zu entkräften. Anfang August hatte die chinesische Regierung Gesandte aus 30 islamischen Staaten nach Xinjiang eingeladen, darunter Vertreter aus Saudi-Arabien, Pakistan, Algerien, Irak und Jemen. Das Fazit der Delegation war laut chinesischen Medien, dass die Teilnehmer zu der Überzeugung gekommen seien, dass die Rechte der ethnischen Minderheiten wie die der Uiguren gewahrt würden. Der algerische Botschafter schwärmte: “Die Früchte hier sind so süß wie das Leben der Menschen hier.”
Laut Angaben der lokalen Behörden in Hongkong haben sich 29 der 47 pro-demokratischen Aktivisten, die auf Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes wegen “Verschwörung und Subversion” angeklagt wurden, für schuldig bekannt. Unter ihnen sind bekannte politische Führungspersönlichkeiten wie Joshua Wong und Benny Tai. Achtzehn weitere Angeklagte plädierten auf nicht schuldig.
Es ist noch unklar, welches Strafmaß der Hongkong High Court verhängen wird. Das Gericht hat noch keinen Termin für eine Verurteilung festgelegt. Theoretisch kann den Angeklagten, von denen viele seit ihrer Verhaftung bereits mehr als 17 Monate in Haft sitzen, eine lebenslange Haftstrafe drohen.
Die 47 Demokratieaktivisten im Alter von 23 bis 64 Jahren wurden wegen ihrer Beteiligung an einer inoffiziellen Vorwahl im Jahr 2020 angeklagt und wegen “Verschwörung zum Umsturz” verhaftet. An der von der pro-demokratischen Opposition in Hongkong organisierten Vorwahl zur Regionalparlamentswahl hatten damals mehr als 600.000 Bürger teilgenommen. Sie galt auch als symbolisches Protestvotum gegen das neue Nationale Sicherheitsgesetz. Die Peking-treue Hongkonger Regierung hatte die Vorwahlen als “schwere Provokation” bezeichnet. fpe
Hongkong erlebt den steilsten Bevölkerungsrückgang seit Beginn der Erfassung im Jahre 1961. Die Zahl der Einwohner ging nach Angaben des Statistikamtes bis Mitte des Jahres 2022 um 1,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 7.291.600 Menschen zurück. Es seien mehr Menschen ab- als zugewandert.
Als Gründe nannte die Regierung einen geringeren Zustrom neuer Arbeitnehmer in Folge der Corona-Pandemie sowie einen schon seit Jahren zu beobachtenden Geburtenrückgang. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es nach Angaben der Regierung 35.100 Geburten. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 38.500. Hongkong hat schon seit Jahren eine der niedrigsten Geburtenrate in Asien. Die Pandemie hat diese Entwicklung möglicherweise verschärft. Zugleich altert die Bevölkerung. Auch die Todesrate stieg deutlich.
Wie viele Menschen wegen des Vorgehens gegen die Demokratiebewegung und aufgrund des vor zwei Jahren in Kraft getretenen Nationalen Sicherheitsgesetzes abgewandert sind – dazu gab die Regierung keine Auskunft. flee
Nach Einführung des Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) stauen sich Solar-Produkte aus Xinjiang am US-Zoll. Module mit einer Kapazität von mehr als drei Gigawatt werden seit Ende Juni von der Behörde an den Grenzen festgehalten, weil die Importeure die notwendigen Dokumente noch nicht vorlegen können. Laut UFLPA sind die Importeure gezwungen, nachzuweisen, dass Produkte aus Xinjiang ohne Zwangsarbeit in der Wertschöpfungskette hergestellt worden sind.
Bis Ende des Jahres könnten sich Module mit einer Leistung von insgesamt neun bis zwölf Gigawatt ohne Einfuhr-Genehmigung an den Grenzen stauen, schätzen Analysten. Das neue Gesetz, das Ende Juni wirksam wurde, ist eine Reaktion der USA auf die Zwangsarbeits-Vorwürfe gegen chinesische Produzenten aus der autonomen Region im Nordwesten der Volksrepublik. Nachweislich werden dort uigurische Muslime und Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten zu Arbeiten in der Solar-Industrie, aber auch in der Landwirtschaft und der Textilproduktion eingesetzt.
Importeure aller Produkte aus der Region müssen aufgrund des neuen Gesetzes beweisen, dass die Waren sauber sind. Chinas Regierung weist Vorwürfe gegen Zwangsarbeit kategorisch zurück. grz
Der Weltkongress der Uiguren (WUC) und das Uyghur Human Rights Project (UHRP) wollen den früheren Parteisekretär der Region Xinjiang wegen Völkermords zur Verantwortung ziehen. Am Mittwoch reichte die Lobby-Koalition vor einem argentinischen Gericht Klage gegen Chen Quanguo und andere Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas ein. Dazu gehören auch die von der Europäischen Union sanktionierten hochrangigen Parteikader Zhu Hailun, Wang Junzheng, Wang Mingshan und der frühere Polizeichef von Xinjiang, Chen Mingguo.
Die Anwälte der Kläger entschieden sich für Argentinien als Ort der Klage, weil die Verfassung des südamerikanischen Staates internationale Ermittlungen bei Genozid-Vorwürfen ermöglicht – allerdings nur gegen natürliche Personen, nicht gegen Regierungen. Weder der Internationale Strafgerichtshof noch der Internationale Gerichtshof war für eine solche Klage infrage gekommen, weil China die Zuständigkeit der beiden Gerichte nicht anerkennt. grz
Chinas Behörden lassen kritische Geister weiterhin in großem Stil ohne medizinische Gründe in psychiatrische Kliniken einweisen. Die spanische Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders hat 99 Fälle von Hospital-Einweisungen nach Meinungsäußerungen dokumentiert. Darunter befinden sich auch viele Unterzeichner von Petitionen, die nur auf offiziellen Kanälen eine Verbesserung der Verhältnisse anstrebten und dafür als gefährliche Querulanten eingestuft wurden.
Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (PSB) betreibt dafür eigene Institutionen: “Zwangsbehandlungseinrichtungen” 强制医疗所, im Volksmund nach ihrem alten Namen auch Ankang 安康 genannt. Sie sind auf “kriminelle, psychisch gestörte Subjekte” spezialisiert. Den Eingewiesenen drohen Ruhigstellung mit harten Medikamenten, Elektroschocks und Isolation. Einige der Opfer verbringen mehr als zehn Jahre in den Einrichtungen. fin
Wegen eines Disputs über den Namen der Veranstaltung ist die “WorldPride Taiwan 2025” abgesagt worden. Die LGBTIQ+-Veranstaltung werde nicht in der Stadt Kaohsiung stattfinden, teilten die Organisatoren in Taiwan mit.
Hintergrund der Absage sei, dass die Dachorganisation InterPride das Wort “Taiwan” nicht im Titel des Events haben wolle. “WorldPride Taiwan 2025” sei jedoch bereits bei der Bewerbung als Gastgeber und bei der Bekanntgabe verwendet worden. InterPride habe stattdessen “WorldPride Kaohsiung 2025” vorgeschlagen, was die taiwanischen Organisatoren ablehnten.
Im Vorfeld der Absage habe es noch weitere Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die Namensänderung habe jedoch den letzten Ausschlag gegeben, so die Organisatoren. ari
Für den chinesischen Propaganda-Apparat gibt es zurzeit an zwei Fronten reichlich Arbeit. Der Parteitag steht im Herbst an. Da hilft es, wenn die große Mehrheit der Bürger überzeugt davon ist, dass der versprochene “Wohlstand für alle” ein realistisches Ziel bleibt. Anderseits blicken Teile des Auslands wegen Null-Covid, Taiwan, Xinjiang, Tibet und Hongkong zunehmend skeptisch auf die Volksrepublik – so wird das nichts mit Chinas Führungsrolle in der Welt.
Chefideologe Wang Huning, seines Zeichens Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros, forderte im Frühjahr von Vertretern chinesischer Staatsmedien, dass die internationale Kommunikation des Landes verbessert werden müsse. Im Prinzip ist das Schnee von gestern. Staatspräsident Xi Jinping trichtert Kadern seit 2013 seine Doktrin ein, “die China-Geschichte gut zu erzählen.” Aber offenbar läuft das noch nicht so wie gewünscht.
In dieser Gemengelage hat Xu Lin seinen neuen Posten angetreten. Der 59-Jährige ist seit Juni Direktor der nationalen Radio- und Fernsehbehörde NRTA. Als solcher verantwortet Xu die Inhalte von staatlichen Medien wie der TV-Anstalt CCTV oder Chinas nationalen und internationalen Radiosendern.
Der NRTA-Chef in China genießt Ministerstatus. Der Stelle wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch diverse Neustrukturierungen und Zusammenlegungen sukzessive größere Verantwortung übertragen. Staatliche Medienkontrolle ist zwar so alt wie die Volksrepublik selbst, doch in ihrer jetzigen zentral organisierten Form existiert die NRTA erst seit 2018.
Die Personalie im Jahr des Parteitags, währenddessen sich Xi Jinping entgegen jahrzehntelanger Gepflogenheiten eine dritte Amtszeit als Präsident sichern will, scheint wohldurchdacht. Xu Lin ist für Xi kein Unbekannter. Er gilt als Zögling des Parteichefs. 2007 hievte der bereits als künftiger Staatschef designierte Xi den damals 44-Jährigen in den 13-köpfigen Ständigen Ausschuss des Shanghaier Volkskongresses. Eine Titelgeschichte der Tageszeitung 21st Century Business Herald adelte Xu kurz darauf als größten Politstar nach Xi in der Runde.
Xu Lin hatte sich in seinen jungen Jahren bereits auf unteren Verwaltungsebenen in Shanghai einen Namen gemacht. Mit 29 wurde er stellvertretender Bezirkschef in Nanhui, das heute zu Pudong gehört. Drei Jahre später übernahm er als erster Shanghaier Funktionär einen Posten in Tibet, wo er in der Präfektur Xigazê als Partei-Vize diente. Nach seiner Rückkehr nach Shanghai sammelte er weitere Lorbeeren als Manager einer staatlichen Supermarktkette und schließlich als Chef des örtlichen Amtes für Zivile Angelegenheiten.
Die Organisationsabteilung der Kommunistischen Partei, jene mächtige Einrichtung, die hinter den Kulissen die Fäden für die Karrieren jedes vielversprechenden Kaders des Landes zieht, hatte damals schon ein Auge auf Xu geworfen. Seine umfangreichen Erfahrungen in vielen Bereichen der chinesischen Verwaltung schienen ihn für höhere Aufgaben zu prädestinieren.
2006 hörte sich die Organisationsabteilung sehr genau im Umfeld von Xu um, wie sich einer seiner alten Wegbegleiter erinnerte. Die Delegation wollte herausfinden, wie Xu tickt und ob man ihm mehr Verantwortung übertragen konnte. Das Profil, das die Kollegen zeichneten, war das eines entscheidungsstarken Charakters mit Talent für Koordination und Organisation. “Wir haben ihn alle als Workaholic kennengelernt”, so ein Ex-Kollege zu 21st Century Business Herald.
Das Feedback aus Shanghai und seine Arbeit waren so überzeugend, dass Xu Lin nach der Berufung durch Xi stetig die Karriereleiter hochkletterte. Von 2016 verantwortete er die Cyberspace Administration CAC. Es war sein erster Posten auf Ministerialebene. Seitdem gehört Xu Lin zu Chinas absoluten Topfunktionären. Zwei Jahre später wurde er Direktor des State Council Information Office, also des Sprachrohrs des Staatsrates, dem Quasi-Kabinett des Landes.
Die intensiven Erfahrungen an der Propaganda-Front des Staates sollen ihm nun in neuer Funktion zugutekommen. Bis ins kleinste Detail werden die Medieninhalte nach innen und außen geplant und analysiert. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Die gesamte chinesische Medienpolitik ist danach ausgerichtet, die Führungsrolle der Partei zu bewahren, besser noch: stetig zu stärken. Dazu gehört es, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und zu verhindern, dass die Digitalisierung Dynamiken erzeugt, die auch die Partei nicht mehr einfangen kann.
Eine zentrale Aufgabe dabei übernehmen die staatlichen Medien. Deren Kernaufgabe sei es laut Xu, “an der richtigen politischen Richtung, der Orientierung der öffentlichen Meinung und den Werten festzuhalten”. Mit dem Vertrauen von Xi Jinping im Rücken und dem Ruf eines Workaholics bringt Xu vermutlich beste Voraussetzungen mit, der Rolle gerecht zu werden. Ob er das Image der Volksrepublik im Ausland verbessern kann, hängt allerdings nicht nur von seinen Fähigkeiten als Spin Doctor ab, sondern auch unmittelbar von der Politik seines obersten Bosses. grz
im Nachrichtengeschäft ist das zwar normal. Und doch ist es erschreckend, wie schnell die Anliegen der Hongkonger Demokratiebewegung angesichts von Ukraine-Krieg und der immer mehr sich zeigenden Klimakrise in der Weltöffentlichkeit in den Hintergrund gerückt sind. Dabei setzen sich Hongkonger Aktivistinnen und Aktivisten aus ihren Exilen in London, Taiwan, USA und Berlin weiter für die Freiheitsrechte in ihrer Heimatstadt ein.
Einer, der sie tatkräftig unterstützt, ist Samuel Chu. Langfristige politische Erfolge brauchen politische Institutionen, die jetzt aufgebaut werden müssen, sagt der erfahrene Aktivist im Interview mit Fabian Peltsch. “Das ist hart, zäh, und manchmal frustrierend.” Nur so könne die Bewegung wachsen und sich weiterentwickeln – sie braucht einen langen Atem.
Gespannte Blicke richten sich derzeit nach Genf – noch vor ihrem Abtritt als UN-Hochkommissarin für Menschenrechte hatte Michelle Bachelet die Veröffentlichung ihres umstrittenen China-Berichts zugesichert. Bachelet bleiben dafür nur noch knapp zwei Wochen. Nicht wenige Beobachter fürchten, dass sie der chinesischen Darstellung auf den Leim gegangen ist. Ihr Bericht wird es zeigen, wenn er endlich herauskommt.
Ein anderer, nicht minder wichtiger UN-Bericht erhebt jetzt schon schwere Vorwürfe gegen die Volksrepublik. Der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationenzu Sklaverei hält es für erwiesen, dass es sowohl in der autonomen Region Xinjiang als auch in Tibet zu “Formen der Sklaverei” kommt. Marcel Grzanna hat sich das Dokument genauer angesehen. Der Report formuliert unverblümt genau die Vorwürfe, die China sonst stets zurückweist.
Ende Mai besuchten Sie Oslo, wo während der Freedom Forum Conference eine Kopie der “Säule der Schande” auf einem Universitätsgelände errichtet wurde. Derzeit arbeiten Sie daran, dass eine Kopie des Kunstwerkes des dänischen Künstlers Jens Galshiøst auch in Berlin vorübergehend einen Platz findet. Welchen Symbolwert messen Sie dem Werk bei?
Zum einen sehe ich es als Zeichen der Solidarität mit den Menschen von Hongkong, die einen Großteil der Rechte, die ihnen unter dem Prinzip “Ein Land, zwei Systeme” zugebilligt wurden, eingebüßt haben. Die Skulptur soll daran erinnern, wie schnell der Niedergang dieser Rechte in Hongkong vonstattenging und wie verlässlich Chinas Versprechungen tatsächlich sind. Zum anderen betrachte ich die “Säule der Schande” auch als eine Art Kanarienvogel in der Kohlemine: Wenn eine Kopie nach Berlin kommt, werden zahlreiche Gegner an die Öffentlichkeit kommen, chinesische Studenten werden dagegen protestieren, chinesische Agenten werden sichtbar werden. Und auch Menschen in der Politik. Das ist gut. So können wir entlarven, wie groß der Einfluss Chinas schon jetzt in Deutschland ist.
Wenn ich Politiker treffe, auch hier in Deutschland, spreche ich mit ihnen darüber, warum ein freies Hongkong in ihrem Interesse ist. Und das, was in Hongkong passiert, auch ein Auftakt sein kann für das, was an anderen Orten der Welt passieren könnte.
Sie verbinden mit dem Kunstwerk auch eine persönliche Geschichte.
Mein Vater war einer der ersten, der von Jens kontaktiert wurde, als es darum ging, das Kunstwerk nach Hongkong zu bringen. Mein Vater war damals, Mitte der 1990er-Jahre, einer der Führer der Hongkong Alliance, später die größte Organisation, die sich für Demokratie und Tiananmen-Erinnerungskultur in Hongkong einsetzte. Sie wollten die Statue unbedingt vor der Übergabe der britischen Kronkolonie in Hongkong errichten. Es sollte ein Test sein, inwieweit China tatsächlich die Rechte der Bürger von Hongkong nach 1997 wahren würde. 32 Jahre stand sie in der Stadt und geriet fast in Vergessenheit. Das große sichtbare internationale Symbol für den Niedergang des freien Hongkongs wurde sie erst 2021, als sie aufgrund von politischem Druck entfernt werden musste.
Ihr Vater, der Baptistenpastor und Occupy-Central-Mitbegründer Chu Yiu-ming, ist einer der bekanntesten Menschenrechtler Hongkongs. Welchen Einfluss hatte ihr Familienhintergrund auf Ihre politische Arbeit?
Mein Vater leitete 1989 die Operation “Yellow Bird”, die half, politische Flüchtlinge aus China über Hongkong ins Ausland zu bringen. Als Konsequenz verbrachte ich als junger Menschen viel Zeit mit politischen Flüchtlingen. Wir spielten Fußball und Karten, während sie auf ihre humanitären Visa für eine Weiterreise warteten. Das hat meine Perspektive auf die Diaspora und Dissidenten geprägt. Die chinesische Regierung war in ihrem Vorgehen gegen sie lange effektiv, denn sie wusste: Waren die Aktivisten erst einmal nach Übersee geflohen, würde man bald nichts mehr von ihnen hören. Politische Gruppen waren im Ausland isoliert, die Energie der Proteste versandete. Meine Arbeit besteht heute darin, das zu ändern.
Inwiefern?
Ich habe meine gesamte Karriere dem Aufbau politischer Bewegungen in der demokratischen Welt gewidmet, von Klimaschutz, über LGBTQ- bis hin zu Black-Lives-Matter-Gruppen. Bei allen geht es darum, von einer Protestbewegung in etwas Größeres, Beständigeres zu wachsen. Wir haben ja die Tendenz, Protestbewegungen zu romantisieren. Was ich dabei immer wieder predige, ist: Protestbewegungen verlassen sich sehr auf einzelne charismatische Personen. Langfristige politische Bemühungen müssen sich aber auf politische Institutionen verlassen. Und diese müssen jetzt aufgebaut werden. Das ist hart, zäh, und manchmal frustrierend. Aber nur so kann die Bewegung wachsen und sich weiterentwickeln.
Ein Journalist aus Hongkong, der nun in Deutschland lebt, berichtete mir, dass viele Hongkonger, die sich vor Ort für die Stadt aufopferten, als Diaspora im Ausland kaum Zusammenhalt finden. Haben Sie ähnliches beobachtet?
Man hat da Demonstranten, die auf Leben und Tod für ihre Rechte eingetreten sind. Viele stecken in diesem Protest-Mindset fest. Sie stehen jeden Morgen auf und wollen der Welt entgegenschreien: “Schaut, was in Hongkong passiert!” Man darf nicht vergessen, dass Hongkong nie eine Demokratie war. Die Menschen konnten im Prinzip nichts anderes tun als zu protestieren, um gehört zu werden. Die Diaspora ist so davon in Anspruch genommen, darauf zu reagieren was zu Hause in Hongkong passiert, dass sie sich nicht auf eine enge Beziehung zur lokalen politischen Community einlassen kann. Aber ein solcher Einfluss ist nötig, um langfristig etwas zu bewegen. Das heißt nicht, dass sie Hongkong aufgeben.
Einige Menschen aus Hongkong haben wohl noch immer die Hoffnung, dass sich die Ereignisse in ihrer Heimatstadt auf die ein- oder andere Weise umkehren lassen.
Es gibt keine magische Formel, mit der man Hongkong wieder zu dem machen kann, was es war. Der UN-Menschenrechtsrat hat die Regierung in Hongkong erst kürzlich zum Widerruf des Nationalen Sicherheitsgesetzes aufgerufen. Ich bin natürlich froh darüber, dass das so offiziell festgehalten wurde. Aber man kann nicht mehr ungeschehen machen, dass 10.000 Menschen aufgrund von friedlichen Protesten angezeigt und über 200 Aktivisten wie Jimmy Lai unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz verhaftet wurden.
Vor zwei Jahren wurde in Hongkong auch ein Haftbefehl gegen Sie ausgestellt. Und das, obwohl sie seit 30 Jahren in den USA leben und US-Bürger sind. Ein Präzedenzfall.
Ich habe zu einem gewissen Grad dabei geholfen, die Regeln und die Strategien umzuschreiben. Ich mache meine politische Arbeit hauptsächlich hinter den Kulissen. Als die Proteste 2019 einen Höhepunkt erreichten, bin ich nicht nach Hongkong geflogen, um in die Kameras zu sprechen. Ich entschied mich, mit dem Hong Kong Democracy Council eine Hilfsorganisation zu gründen, die in Übersee von US-Staatsbürgern geleitet wird. Es ist eine Organisation, die tatsächlich Gesetze beeinflussen kann und sich nicht nur auf Proteste und Gedenkveranstaltungen verlässt. So eine Art von Organisation ist mächtiger und eindrucksvoller, um sich gegen die chinesische Regierung durchzusetzen. Danach habe ich die “Kampagne für Hongkong” gegründet, die ich noch immer leite.
Und das macht Sie zum Staatsfeind?
Im Nationalen Sicherheitsgesetz gibt es einen Paragrafen, der sich direkt an mich, meine Organisation und unsere Art zu arbeiten zu richten scheint. Da steht, frei übersetzt: Egal wer du bist und woher du kommst, wir kriegen dich. Ich habe die Bewegung von der Straße in das Parlament getragen und von dort ins Weiße Haus. Das ist ein Shift, den Chinas Regierung nicht erwartet hat. Deshalb mussten sie ihr Playbook überarbeiten und auch ausländische Aktivisten ins Visier nehmen. In diesem Sinne bin ich vielleicht selbst ein bisschen wie der “Pillar Of Shame”. Wo ich auftauche, werden unsichtbare chinesische Kräfte sichtbar.
Samuel Chu, 44, ist Präsident der “Campaign for Hong Kong”, einer Organisation, die sich für eine Politik einsetzt, die Menschenrechte und Demokratie in Hongkong fördert. Zuvor war er Gründer und Direktor des Hong Kong Democracy Council (HKDC) mit Sitz in Washington, D.C. In dieser Position spielte er eine führende Rolle bei der Verabschiedung mehrerer Gesetze zur Unterstützung Hongkongs im US-Kongress. Im Juli 2020 erließen die Hongkonger Behörden einen Haftbefehl gegen Chu, womit er der erste ausländische Staatsbürger ist, der infolge des Nationalen Sicherheitsgesetzes ins Visier genommen wurde.
Wenige Tage nach der feierlich präsentierten Ratifizierung internationaler Konventionen gegen Zwangsarbeit sieht sich die Volksrepublik China schweren Anschuldigungen durch ein UN-Gremium ausgesetzt. Ein Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen, Tomoya Obokata, hält es für erwiesen, dass es sowohl in der autonomen Region Xinjiang als auch in Tibet zu “Formen der Sklaverei” kommt.
“Unabhängige akademische Forschung, offene Quellen, Zeugenaussagen von Opfern, Konsultationen mit Interessenvertretern und Berichte der Regierung” rechtfertigten diese Schlussfolgerung, heißt es in einem 20-seitigen Bericht, der am Dienstag veröffentlicht wurde. Mehr noch könnten “übermäßige Überwachung, missbräuchliche Lebens- und Arbeitsbedingungen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Internierung, Drohungen, körperliche und/oder sexuelle Gewalt und andere unmenschliche oder erniedrigende Behandlung” den Tatbestand von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen.
Das drastische Fazit des japanischen Sonderberichterstatters für moderne Formen der Sklaverei ist Teil eines Papiers, das sich nicht nur mit Zwangsarbeit in China, sondern auch in anderen Teilen der Welt befasst. Es dient dem Menschenrechtsrat für dessen 51. Sitzung in Genf im September als Diskussionsgrundlage.
Wenn der Rat zusammentritt, wird die noch amtierende UN-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet nicht mehr dabei sein. Eigentlich war es die Chilenin, die einen Bericht zur Situation der Uiguren und anderen Minderheiten hätte vorlegen sollen. Doch mehrfach ist eine Veröffentlichung bereits verschoben worden. Der Hochkommissarin, die Ende Mai die Volksrepublik besucht hatte, wird vorgeworfen, den Bericht im Interesses der chinesischen Regierung zu verschleppen und sich deren sprachliche Verharmlosung angeeignet zu haben.
Jetzt soll das Dokument angeblich an ihrem letzten Tag im Amt Ende August veröffentlicht werden. Peking durfte den Bericht bereits einsehen und dessen Einschätzungen kommentieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass um kritische Formulierungen bis zuletzt gerungen wird und China die Vorwürfe glattbügeln will.
Obokatas Bericht schmeckt China überhaupt nicht, formuliert er doch unverblümt genau jene Vorwürfe, die das Land stets in Reich der Fabeln verbannen will. Am Mittwoch reagierte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums abermals mit verbalen Gegenangriffen und wähnte die Volksrepublik reflexartig in der Opferrolle. Obokata habe sich entschieden, “Lügen und von den USA und anti-chinesischen Kräften fabrizierte Falschinformationen zu glauben.” Der Sonderberichterstatter besudele “bösartig” Chinas Ansehen.
Die Volksrepublik versucht seit Jahren, mit penibel gesteuerter Informationspolitik ein anderes Bild aus Xinjiang zu zeichnen. Um den zunehmend massiven Vorwürfen die Wucht zu nehmen, setzt Peking auch auf wirtschaftliche Zwänge gegen ausländische Unternehmen, von denen viele Angst haben vor Konsequenzen für ihre Umsätze im Land. Entweder schweigen sie deshalb zu der Thematik oder winden sich in zweifelhaftem Schönreden.
Obokatas Bericht nimmt dementsprechend auch internationale Firmen in die Pflicht. Den Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) in den USA oder Lieferkettengesetze in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder auf EU-Ebene bezeichnet er als gute Beispiele, um die Unternehmen zur Sorgfalt zu verpflichten.
Hoffnungsvoll reagierten uigurische Interessenvertreter. “Die Ergebnisse dieses Berichts müssen ein Weckruf für diejenigen sein, die sich bisher geweigert haben, Maßnahmen gegen die Verbreitung von Waren in globalen Lieferketten zu ergreifen, die durch uigurische Zwangsarbeit hergestellt werden”, sagte der Präsident des Weltkongresses der Uiguren (WUC), Dolkun Isa. Der WUC fordert zudem Michelle Bachelet zur sofortigen Veröffentlichung ihres Berichts auf.
Positive Resonanz gab es auch von tibetischen Organisationen. Die International Campaign for Tibet (ICT) begrüßte den expliziten Hinweis des Berichts auf Zwangsarbeit in den tibetischen Siedlungsgebieten der Volksrepublik. “Die Feststellung des Sonderberichterstatters unterstreicht auch die Dramatik der Situation in Tibet sowie die Tatsache, dass diese ebenfalls besondere Aufmerksamkeit verdient“, sagte ICT-Geschäftsführer Kai Müller in einer Stellungnahme. “Wir haben immer wieder auf sogenannte Arbeitsprogramme der chinesischen Regierung hingewiesen, in die Hunderttausende Tibeter gezwungen werden”, so Müller, der sich der Forderung zur umgehenden Veröffentlichung von Bachelets Bericht anschloss.
Erst Ende vergangener Woche hatte China die Übereinkommen 29 und 105 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert. Die Konvention über Zwangsarbeit von 1930 und die Konvention zur Abschaffung der Zwangsarbeit von 1957 verpflichten die Volksrepublik dazu, jegliche Form von Zwangs- oder Pflichtarbeit zu unterbinden und auch nicht “als Mittel des politischen Zwangs, der Bildung oder als Strafe für das Halten oder Ausdrücken politischer Ansichten oder Ansichten, die dem etablierten politischen, sozialen oder wirtschaftlichen System ideologisch entgegengesetzt sind”.
“Der Zeitpunkt des Berichts ist angesichts der jüngsten Ratifizierung von zwei ILO-Übereinkommen durch China, die den Einsatz von Zwangsarbeit verbieten, recht heikel”, kommentierte Adrian Zenz auf Twitter. Der deutsche Anthropologe hatte mit seinen minutiösen Recherchen zu Zwangsarbeit in Xinjiang die Wahrnehmung der Problematik weltweit drastisch erhöht. Zenz beurteilt das UN-Papier als “äußerst bedeutende und starke Einschätzung”.
Doch so drückend die Beweislage auch ist, auf die sich der Bericht stützt, dürfte China auch in Zukunft eine Front an Fürsprecher ins Feld führen, die versucht, die Vorwürfe zu entkräften. Anfang August hatte die chinesische Regierung Gesandte aus 30 islamischen Staaten nach Xinjiang eingeladen, darunter Vertreter aus Saudi-Arabien, Pakistan, Algerien, Irak und Jemen. Das Fazit der Delegation war laut chinesischen Medien, dass die Teilnehmer zu der Überzeugung gekommen seien, dass die Rechte der ethnischen Minderheiten wie die der Uiguren gewahrt würden. Der algerische Botschafter schwärmte: “Die Früchte hier sind so süß wie das Leben der Menschen hier.”
Laut Angaben der lokalen Behörden in Hongkong haben sich 29 der 47 pro-demokratischen Aktivisten, die auf Basis des Nationalen Sicherheitsgesetzes wegen “Verschwörung und Subversion” angeklagt wurden, für schuldig bekannt. Unter ihnen sind bekannte politische Führungspersönlichkeiten wie Joshua Wong und Benny Tai. Achtzehn weitere Angeklagte plädierten auf nicht schuldig.
Es ist noch unklar, welches Strafmaß der Hongkong High Court verhängen wird. Das Gericht hat noch keinen Termin für eine Verurteilung festgelegt. Theoretisch kann den Angeklagten, von denen viele seit ihrer Verhaftung bereits mehr als 17 Monate in Haft sitzen, eine lebenslange Haftstrafe drohen.
Die 47 Demokratieaktivisten im Alter von 23 bis 64 Jahren wurden wegen ihrer Beteiligung an einer inoffiziellen Vorwahl im Jahr 2020 angeklagt und wegen “Verschwörung zum Umsturz” verhaftet. An der von der pro-demokratischen Opposition in Hongkong organisierten Vorwahl zur Regionalparlamentswahl hatten damals mehr als 600.000 Bürger teilgenommen. Sie galt auch als symbolisches Protestvotum gegen das neue Nationale Sicherheitsgesetz. Die Peking-treue Hongkonger Regierung hatte die Vorwahlen als “schwere Provokation” bezeichnet. fpe
Hongkong erlebt den steilsten Bevölkerungsrückgang seit Beginn der Erfassung im Jahre 1961. Die Zahl der Einwohner ging nach Angaben des Statistikamtes bis Mitte des Jahres 2022 um 1,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf 7.291.600 Menschen zurück. Es seien mehr Menschen ab- als zugewandert.
Als Gründe nannte die Regierung einen geringeren Zustrom neuer Arbeitnehmer in Folge der Corona-Pandemie sowie einen schon seit Jahren zu beobachtenden Geburtenrückgang. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2022 gab es nach Angaben der Regierung 35.100 Geburten. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 38.500. Hongkong hat schon seit Jahren eine der niedrigsten Geburtenrate in Asien. Die Pandemie hat diese Entwicklung möglicherweise verschärft. Zugleich altert die Bevölkerung. Auch die Todesrate stieg deutlich.
Wie viele Menschen wegen des Vorgehens gegen die Demokratiebewegung und aufgrund des vor zwei Jahren in Kraft getretenen Nationalen Sicherheitsgesetzes abgewandert sind – dazu gab die Regierung keine Auskunft. flee
Nach Einführung des Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) stauen sich Solar-Produkte aus Xinjiang am US-Zoll. Module mit einer Kapazität von mehr als drei Gigawatt werden seit Ende Juni von der Behörde an den Grenzen festgehalten, weil die Importeure die notwendigen Dokumente noch nicht vorlegen können. Laut UFLPA sind die Importeure gezwungen, nachzuweisen, dass Produkte aus Xinjiang ohne Zwangsarbeit in der Wertschöpfungskette hergestellt worden sind.
Bis Ende des Jahres könnten sich Module mit einer Leistung von insgesamt neun bis zwölf Gigawatt ohne Einfuhr-Genehmigung an den Grenzen stauen, schätzen Analysten. Das neue Gesetz, das Ende Juni wirksam wurde, ist eine Reaktion der USA auf die Zwangsarbeits-Vorwürfe gegen chinesische Produzenten aus der autonomen Region im Nordwesten der Volksrepublik. Nachweislich werden dort uigurische Muslime und Mitglieder anderer ethnischer Minderheiten zu Arbeiten in der Solar-Industrie, aber auch in der Landwirtschaft und der Textilproduktion eingesetzt.
Importeure aller Produkte aus der Region müssen aufgrund des neuen Gesetzes beweisen, dass die Waren sauber sind. Chinas Regierung weist Vorwürfe gegen Zwangsarbeit kategorisch zurück. grz
Der Weltkongress der Uiguren (WUC) und das Uyghur Human Rights Project (UHRP) wollen den früheren Parteisekretär der Region Xinjiang wegen Völkermords zur Verantwortung ziehen. Am Mittwoch reichte die Lobby-Koalition vor einem argentinischen Gericht Klage gegen Chen Quanguo und andere Funktionäre der Kommunistischen Partei Chinas ein. Dazu gehören auch die von der Europäischen Union sanktionierten hochrangigen Parteikader Zhu Hailun, Wang Junzheng, Wang Mingshan und der frühere Polizeichef von Xinjiang, Chen Mingguo.
Die Anwälte der Kläger entschieden sich für Argentinien als Ort der Klage, weil die Verfassung des südamerikanischen Staates internationale Ermittlungen bei Genozid-Vorwürfen ermöglicht – allerdings nur gegen natürliche Personen, nicht gegen Regierungen. Weder der Internationale Strafgerichtshof noch der Internationale Gerichtshof war für eine solche Klage infrage gekommen, weil China die Zuständigkeit der beiden Gerichte nicht anerkennt. grz
Chinas Behörden lassen kritische Geister weiterhin in großem Stil ohne medizinische Gründe in psychiatrische Kliniken einweisen. Die spanische Menschenrechtsorganisation Safeguard Defenders hat 99 Fälle von Hospital-Einweisungen nach Meinungsäußerungen dokumentiert. Darunter befinden sich auch viele Unterzeichner von Petitionen, die nur auf offiziellen Kanälen eine Verbesserung der Verhältnisse anstrebten und dafür als gefährliche Querulanten eingestuft wurden.
Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (PSB) betreibt dafür eigene Institutionen: “Zwangsbehandlungseinrichtungen” 强制医疗所, im Volksmund nach ihrem alten Namen auch Ankang 安康 genannt. Sie sind auf “kriminelle, psychisch gestörte Subjekte” spezialisiert. Den Eingewiesenen drohen Ruhigstellung mit harten Medikamenten, Elektroschocks und Isolation. Einige der Opfer verbringen mehr als zehn Jahre in den Einrichtungen. fin
Wegen eines Disputs über den Namen der Veranstaltung ist die “WorldPride Taiwan 2025” abgesagt worden. Die LGBTIQ+-Veranstaltung werde nicht in der Stadt Kaohsiung stattfinden, teilten die Organisatoren in Taiwan mit.
Hintergrund der Absage sei, dass die Dachorganisation InterPride das Wort “Taiwan” nicht im Titel des Events haben wolle. “WorldPride Taiwan 2025” sei jedoch bereits bei der Bewerbung als Gastgeber und bei der Bekanntgabe verwendet worden. InterPride habe stattdessen “WorldPride Kaohsiung 2025” vorgeschlagen, was die taiwanischen Organisatoren ablehnten.
Im Vorfeld der Absage habe es noch weitere Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die Namensänderung habe jedoch den letzten Ausschlag gegeben, so die Organisatoren. ari
Für den chinesischen Propaganda-Apparat gibt es zurzeit an zwei Fronten reichlich Arbeit. Der Parteitag steht im Herbst an. Da hilft es, wenn die große Mehrheit der Bürger überzeugt davon ist, dass der versprochene “Wohlstand für alle” ein realistisches Ziel bleibt. Anderseits blicken Teile des Auslands wegen Null-Covid, Taiwan, Xinjiang, Tibet und Hongkong zunehmend skeptisch auf die Volksrepublik – so wird das nichts mit Chinas Führungsrolle in der Welt.
Chefideologe Wang Huning, seines Zeichens Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros, forderte im Frühjahr von Vertretern chinesischer Staatsmedien, dass die internationale Kommunikation des Landes verbessert werden müsse. Im Prinzip ist das Schnee von gestern. Staatspräsident Xi Jinping trichtert Kadern seit 2013 seine Doktrin ein, “die China-Geschichte gut zu erzählen.” Aber offenbar läuft das noch nicht so wie gewünscht.
In dieser Gemengelage hat Xu Lin seinen neuen Posten angetreten. Der 59-Jährige ist seit Juni Direktor der nationalen Radio- und Fernsehbehörde NRTA. Als solcher verantwortet Xu die Inhalte von staatlichen Medien wie der TV-Anstalt CCTV oder Chinas nationalen und internationalen Radiosendern.
Der NRTA-Chef in China genießt Ministerstatus. Der Stelle wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch diverse Neustrukturierungen und Zusammenlegungen sukzessive größere Verantwortung übertragen. Staatliche Medienkontrolle ist zwar so alt wie die Volksrepublik selbst, doch in ihrer jetzigen zentral organisierten Form existiert die NRTA erst seit 2018.
Die Personalie im Jahr des Parteitags, währenddessen sich Xi Jinping entgegen jahrzehntelanger Gepflogenheiten eine dritte Amtszeit als Präsident sichern will, scheint wohldurchdacht. Xu Lin ist für Xi kein Unbekannter. Er gilt als Zögling des Parteichefs. 2007 hievte der bereits als künftiger Staatschef designierte Xi den damals 44-Jährigen in den 13-köpfigen Ständigen Ausschuss des Shanghaier Volkskongresses. Eine Titelgeschichte der Tageszeitung 21st Century Business Herald adelte Xu kurz darauf als größten Politstar nach Xi in der Runde.
Xu Lin hatte sich in seinen jungen Jahren bereits auf unteren Verwaltungsebenen in Shanghai einen Namen gemacht. Mit 29 wurde er stellvertretender Bezirkschef in Nanhui, das heute zu Pudong gehört. Drei Jahre später übernahm er als erster Shanghaier Funktionär einen Posten in Tibet, wo er in der Präfektur Xigazê als Partei-Vize diente. Nach seiner Rückkehr nach Shanghai sammelte er weitere Lorbeeren als Manager einer staatlichen Supermarktkette und schließlich als Chef des örtlichen Amtes für Zivile Angelegenheiten.
Die Organisationsabteilung der Kommunistischen Partei, jene mächtige Einrichtung, die hinter den Kulissen die Fäden für die Karrieren jedes vielversprechenden Kaders des Landes zieht, hatte damals schon ein Auge auf Xu geworfen. Seine umfangreichen Erfahrungen in vielen Bereichen der chinesischen Verwaltung schienen ihn für höhere Aufgaben zu prädestinieren.
2006 hörte sich die Organisationsabteilung sehr genau im Umfeld von Xu um, wie sich einer seiner alten Wegbegleiter erinnerte. Die Delegation wollte herausfinden, wie Xu tickt und ob man ihm mehr Verantwortung übertragen konnte. Das Profil, das die Kollegen zeichneten, war das eines entscheidungsstarken Charakters mit Talent für Koordination und Organisation. “Wir haben ihn alle als Workaholic kennengelernt”, so ein Ex-Kollege zu 21st Century Business Herald.
Das Feedback aus Shanghai und seine Arbeit waren so überzeugend, dass Xu Lin nach der Berufung durch Xi stetig die Karriereleiter hochkletterte. Von 2016 verantwortete er die Cyberspace Administration CAC. Es war sein erster Posten auf Ministerialebene. Seitdem gehört Xu Lin zu Chinas absoluten Topfunktionären. Zwei Jahre später wurde er Direktor des State Council Information Office, also des Sprachrohrs des Staatsrates, dem Quasi-Kabinett des Landes.
Die intensiven Erfahrungen an der Propaganda-Front des Staates sollen ihm nun in neuer Funktion zugutekommen. Bis ins kleinste Detail werden die Medieninhalte nach innen und außen geplant und analysiert. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Die gesamte chinesische Medienpolitik ist danach ausgerichtet, die Führungsrolle der Partei zu bewahren, besser noch: stetig zu stärken. Dazu gehört es, die öffentliche Meinung zu kontrollieren und zu verhindern, dass die Digitalisierung Dynamiken erzeugt, die auch die Partei nicht mehr einfangen kann.
Eine zentrale Aufgabe dabei übernehmen die staatlichen Medien. Deren Kernaufgabe sei es laut Xu, “an der richtigen politischen Richtung, der Orientierung der öffentlichen Meinung und den Werten festzuhalten”. Mit dem Vertrauen von Xi Jinping im Rücken und dem Ruf eines Workaholics bringt Xu vermutlich beste Voraussetzungen mit, der Rolle gerecht zu werden. Ob er das Image der Volksrepublik im Ausland verbessern kann, hängt allerdings nicht nur von seinen Fähigkeiten als Spin Doctor ab, sondern auch unmittelbar von der Politik seines obersten Bosses. grz