die Mär von den unpolitischen Olympischen Winterspielen hat China jahrelang verbissen verteidigt. Am Donnerstag, nur drei Tage vor dem Ende des Mummenschanzes, fielen auf der Zielgeraden dann doch noch die Hüllen. Eine Sprecherin des Organisationskomitees BOCOG erklärte vor der internationalen Presseschar den Inselstaat Taiwan zu einem “untrennbaren Teil” der Volksrepublik und bezeichnete die Beweise für die systematische Zwangsarbeit von Uiguren in Xinjiang als “Lüge”.
Die Aussagen waren eine Ohrfeige für das Internationale Olympische Komitee. So lange hatte sich der Verband mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach schützend vor das Gastgeberland gestellt, Pekings Propaganda nachgeplappert und im Fall Peng Shuai sogar darauf verzichtet, Chinas Führung um Aufklärung zu bitten.
Überraschend ist das alles nicht. Und Schadenfreude ist fehl am Platz. Dafür sind die Hintergründe viel zu tragisch. Und dennoch bietet der Moment, in dem das BOCOG die Contenance verlor, der Welt eine Lehre. Wer sich auf eine autokratische Regierung verlässt, um sein eigenes Gesicht zu wahren, der begibt sich auf ganz dünnes Eis. Nicht nur bei Olympischen Winterspielen.
Dass es eine Frau war, die dem IOC in den Rücken fiel, hat auch ein bisschen symbolische Bedeutung. Denn wer im patriarchischen China als Frau Karriere machen möchte, ist gut beraten, im Sinne der Männer zu reden und zu handeln. Wer hingegen mehr Rechte für Frauen einfordert, gerät schnell in Schwierigkeiten, wie uns heute Fabian Peltsch berichtet.
Im Januar 2021 wurde die chinesische Stand-Up-Komikerin Yang Li schlagartig für ihren Ausspruch berühmt, Männer seien “普確信” Pǔ quèxìn: “mittelmäßig, aber selbstbewusst”. Auf Chinas Social-Media-Plattformen wurde der Satz innerhalb weniger Stunden zur feministischen Parole. Gleichzeitig brach ein Shitstorm über Li herein, der sie auch einige Werbeverträge kostete. Der Tenor: Li würde mit ihrer Comedy “Männerhass” schüren. Auch sonst kochen beim Thema Gleichberechtigung in China die Gemüter schnell hoch. Zuletzt sorgte der Fall einer von ihrem Ehemann angeketteten, psychisch kranken Frau in der Stadt Xuzhou für landesweite Empörung. Frauen würden oft nicht einmal als menschliche Wesen behandelt, las man in Kommentarspalten von chinesischen Social-Media-Kanälen wie Weibo.
Noch nie wurden Geschlechterdebatten und Gleichstellungsfragen in China so öffentlich verhandelt wie in den vergangenen drei Jahren. Wie in westlichen Ländern werden Gewissheiten in Zweifel gezogen. Feministisch angehauchte Fernsehshows wie “Hear Her” 听见她说” kritisieren ungesunde Schönheitsideale und verzerrte Selbstwahrnehmungen junger Frauen. Die Popsängerin Tan Weiwei adressierte in ihrem Lied “Xiǎo juān 小娟” reale Fälle häuslicher Gewalt, während sich die Rapperin Yamy auf ihrem Weibo-Kanal offen über sexuelle Belästigung im chinesischen Showbusiness echauffierte.
Feminismus ist heute zu einem gewissen Grad Teil der chinesischen Popkultur. Die Künstlerinnen bewegen sich jedoch auf einem schmalen Grat. Die chinesische Regierung bewertet eine feministische Massenbewegung als Gefahr für die soziale Stabilität. Insbesondere die unter dem Hashtag “MeToo” um die Welt gegangene Solidaritätswelle mit Opfern von Missbrauch und Übergriffen bezeichnet Peking als “Werkzeug ausländischer Kräfte”, mit dem das chinesische System unterwandert werden soll.
Als die Bewegung in China Anfang 2018 an Fahrt aufnahm, nachdem eine ehemalige Studentin der Shanghai University of Finance and Economics einen Professor beschuldigt hatte, sie sexuell belästigt zu haben, löschten die Zensoren binnen weniger Wochen reihenweise Social-Media-Accounts bekannter Feministinnen und feministische Diskussionsgruppen. Der bekannteste “MeToo”-Fall um die Tennisspielerin Peng Shuai hat Chinas Mächtigen dann noch einmal klargemacht, wie schnell Anschuldigungen der sexuellen Belästigung zur Staatsaffäre ausarten können.
Um die Gemüter abzukühlen und das Gleichstellungs-Narrativ nicht dem Volk zu überlassen, hat Chinas Ständiger Ausschuss des Nationalen Volkskongresses Ende Dezember eine Überarbeitung des chinesischen Frauenrechtsgesetzes vorgelegt. Der Entwurf, der auf dem 1992 verabschiedeten und 2005 zum letzten Mal überarbeiteten Gesetz zum Schutz der Rechte und Interessen der Frau (LPWRI) basiert, sieht unter anderem vor, dass Arbeitgeber weibliche Bewerber in Einstellungsgesprächen nicht mehr nach ihrem Heiratsstatus oder Kinderwunsch fragen dürfen – eine in China nach wie vor gängige Praxis.
Auch wird erstmals in einem chinesischen Gesetz versucht, eine klare Definition für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzulegen. Diese beinhaltet nicht nur körperliche Übergriffe, sondern auch verbale und nonverbale Anzüglichkeiten sowie das Verbreiten privater Bilder und Dateien. Unternehmen und Bildungseinrichtungen werden angehalten, Verantwortliche auszubilden, die die Regelungen durchsetzen und Workshops zum Thema anbieten. Dazu sollen Hotlines und Postfächer eingerichtet werden, um Fälle sexueller Belästigung zu melden.
Insgesamt enthält der Entwurf Überarbeitungen von 48 Paragrafen und 24 neue Ergänzungen. Bis zur endgültigen Verabschiedung im nächsten Jahr muss er noch zwei weitere Prüfungen durchlaufen. Ein Beitrag des staatlichen Fernsehsenders CCTV feiert das Update schon jetzt als großen Meilenstein für Chinas Frauen. In chinesischen Online-Foren löste die Ankündigung dagegen einen regelrechten Geschlechterkampf aus. Zahlreiche User:innen erklärten, das geplante Gesetz benachteilige Männer. Andere schrieben, das Gesetz rühre nicht an die Wurzel des Problems: Die tief verankerten patriarchalen Strukturen in China.
Zu den Kritikerinnen des Gesetzes gehört Eloise Fan. Die 29-jährige Feministin arbeitet seit acht Jahren in der Werbeindustrie in Shanghai und betreibt nebenher das Musiklabel Scandal, das feministischen Künstlerinnen eine Plattform bieten will. “Es braucht noch viel mehr Schritte, um das toxische Umfeld, in dem Chinas Frauen sich bewegen, von Grund auf zu verändern”, sagt sie gegenüber China.Table. Trotz ihrer Stellung als Creative Director erlebe sie am Arbeitsplatz immer wieder Sexismus, vor allem durch direkte Vorgesetzte, die anzügliche oder frauenverachtende Kommentare von sich geben oder weibliche Angestellte von wichtigen Entscheidungsprozessen ausschließen. Ihre eigenen Ideen würden oft als “zu feministisch” abgelehnt, sagt Fan. “Meine langjährigen Erfahrungen in der Industrie haben mir gezeigt, dass auch ein Jobwechsel daran nichts ändern wird.”
China hat grundsätzlich eine gute Ausgangsposition für Gleichstellung im Wirtschaftsleben: Der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen lag in China laut Zahlen der Weltbank im Jahr 2019 bei 43,7 Prozent – so hoch wie in keinem anderen Land des Asien-Pazifik-Raums. Doch der nähere Blick auf die Zahlen offenbart dann doch erhebliche Geschlechterunterschiede. Zwar gibt es nirgends auf der Welt so viele Milliardärinnen wie in China, für die gleiche Arbeit bei vergleichbarer Qualifikation und Erfahrung verdienen Frauen aber immer noch durchschnittlich 36 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
Zwischen 2008 und 2021 ist die Volksrepublik im Ranking des WTO Global Gender Gap Reports von Platz 57 auf Platz 107 abgerutscht. Sprich: Vom chinesischen Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre profitierten vor allem Männer. In Chinas patriarchaler Gesellschaft gelten sie noch immer als durchsetzungsfähiger und geeigneter für Führungspositionen. Das spiegelt sich auch in der Politik wider: Im zweitmächtigsten Gremium, dem 25-köpfigen Politbüro, saßen in den vergangenen 50 Jahren gerade einmal sechs Frauen.
Weil die chinesische Gesellschaft rapide altert, werden Frauen im heutigen China zudem wieder verstärkt zur Mutterschaft gedrängt. Bereits 2016 hat Peking die Ein-Kind-Politik abgeschafft. Seit dem Mai 2021 dürfen Chinas Frauen sogar drei Kinder bekommen. Nur die wenigsten wagen das jedoch angesichts des hohen finanziellen und gesellschaftlichen Drucks, den Kindern die beste und oftmals teuerste Ausbildung zu bieten.
Gleichzeitig ist die Scheidungsrate in der Volksrepublik in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich angestiegen. Während sich im Jahr 2003, dem Jahr, als China den Scheidungsprozess gesetzlich erleichterte, rund 1,3 Millionen Paare scheiden ließen, waren es 2018 schon 4,5 Millionen. Auch hier versucht die Regierung, mit der klassische Familienstrukturen zu propagieren, um dem Trend zur Scheidung entgegenzuwirken. Seit Anfang 2021 müssen Paare, die sich scheiden lassen wollen, erst durch eine “Abkühlungsphase” gehen: Wenn sie im Zeitraum von 30 und 60 Tagen nicht gemeinsam zu zwei Amtsterminen erscheinen, wird dem Scheidungsantrag nicht stattgegeben. “Immer mehr Frauen wollen gar nicht erst heiraten”, erläutert Fan. “Viele haben erkannt, dass eine Heirat ihnen nur Energie und Eigentum raubt, und das bis zum Lebensende.”
Nach 1990 geborene Chinesinnen wie Fan sind selbstbewusster, selbstständiger und besser ausgebildet als die Generationen vor ihnen. Sie wollen nicht als Menschen zweiter Klasse oder gar als Gebärmaschinen gesehen werden. Von Männern, die sie für intellektuell nicht ebenbürtig halten, schon gar nicht. “Mehr und mehr Frauen realisieren, dass das Patriarchat wirklich existiert und sie benachteiligt”, sagt sie.
In die chinesische Justiz setzt die junge Feministin keine großen Hoffnungen. Laut einer Analyse des Beijing Yuanzhong Gender Development Centre wird eine Mehrheit der Klägerinnen, die wegen sexueller Belästigung vor Gericht gehen, am Ende ihrerseits wegen Verleumdung bestraft. “Wenige Frauen ziehen den juristischen Weg in Betracht, weil sie Angst haben, dass sie ihren Job verlieren oder ihre Karriere vorbei sein wird”, sagt Fan. “Wenn du so einen Prozess wirklich gewinnen willst, musst du tough sein und viele handfeste Beweise vorlegen.” Die Öffentlichmachung sexueller Belästigung auf Social-Media-Kanälen verspreche mehr Erfolg, gehört zu werden. Auch wenn der Prozess “schwierig und schmerzhaft” werden könne, so Fan.
Der Staat pendelt zwischen Entgegenkommen und Repression, um dem Unmut junger Frauenrechtlerinnen wie Fan zu begegnen. Man werde sich jedoch niemals “radikalen feministischen Kampagnen” beugen, schreibt die staatliche Zeitung Global Times in einem Artikel zum neuen Gesetzesentwurf. Trotz solcher politischer Hürden glaubt Fan, dass die “MeToo”-Bewegung in China gerade erst angefangen hat. “Es ist ein Trial-and-Error-Prozess: Was wir bislang erreicht haben, kann uns jederzeit wieder weggenommen werden.”
Human Rights Watch (HRW) und die Coalition to End Forced Labour in the Uyghur Region (EUFL) werfen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) mangelnde Transparenz vor. Der Verband schaffe keine endgültige Gewissheit, ob die Kleidung seines chinesischen Ausrüsters Anta tatsächlich ohne den Einsatz von Zwangsarbeit uigurischer Arbeiter in Xinjiang hergestellt wird. Die Vorwürfe folgen auf das unrühmliche Verhalten des IOC im Fall der Tennisspielerin Peng Shuai (China.Table berichtete).
Seit Monaten drängen EUFL und HRW darauf, das IOC möge detailliert darstellen, wie es die Lieferkette von Anta geprüft habe. Das IOC reagierte im Januar mit einer Stellungnahme. Die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte würden eingehalten. Nach entsprechenden Kontrollen durch Dritte sei das IOC zu diesem Fazit gekommen. Verantwortlich für die Kontrollen seien unabhängige Audit-Institutionen, die für ihre Prüfung den direkten Kontakt mit den Arbeitern gesucht hätten, hieß es. Das Ergebnis: Alles sauber. Anta verwende nicht einmal Baumwolle in der Kleidung, mit der die IOC-Mitglieder ausgestattet werden.
Die Menschenrechtsorganisationen geben sich damit nicht zufrieden und haken weiter nach. Die IOC-Stellungnahme enthalte erhebliche Lücken. Den Ergebnissen der Prüfung mangele es an Transparenz und an einer Analyse der Beschaffungspraktiken von Zulieferern, kritisierten sie. Das IOC hat bislang nicht auf die Forderung nach einer Nachbesserung reagiert.
Seit 2019 und noch bis Ende des Jahres ist Anta der offizielle IOC-Ausrüster. Schon bei den Sommerspielen 2021 in Tokio trugen die Funktionäre dessen Logo auf der Brust. Doch erst mit den Winterspielen in Peking hat sich das IOC zu seiner Sorgfaltspflicht im Rahmen der UN-Leitprinzipien bekannt.
Die Forderung, die vorhandenen Informationslücken zu schließen, folgte zeitnah zur Veröffentlichung des jüngsten Berichts der International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen. Deren Expertenkommission hatte Ende vergangener Woche die Lage in Xinjiang scharf kritisiert und die chinesische Regierung aufgefordert, die Arbeitsbedingungen in der Region internationalen Standards anzugleichen.
“Der Ausschuss drückt seine tiefe Besorgnis über die politischen Direktiven aus, die in zahlreichen nationalen und regionalen regulatorischen Dokumenten zum Ausdruck gebracht wird”, heißt es in dem ILO-Bericht. 2020 hatte ein internationales Konsortium von Journalisten im Rahmen der China Cables unter anderem belegt, dass Zwangsarbeit als eine von zahlreichen Maßnahmen zur Sinisierung der uigurischen Bevölkerungsminderheit von den Behörden angeordnet worden ist. Peking hatte die Vorwürfe zurückgewiesen.
Der ILO-Bericht sorgte erwartungsgemäß für kontroverse Reaktionen. Die USA, die den Import von Produkten aus Xinjiang verboten haben, begrüßten den Inhalt des Berichts und forderten China dazu auf, die Zustände zu beheben. Die chinesische Vertretung am Sitz der UN-Menschenrechtskommission in Genf dagegen twitterte: “Als ILO-Mitgliedsstaat ist die chinesische Regierung fest entschlossen, den uneingeschränkten Zugang zu produktiver und frei gewählter Beschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle ethnischen Minderheiten Chinas, einschließlich der Uiguren in Xinjiang, zu respektieren, zu fördern und zu verwirklichen.”
In ihrem Bericht greift die ILO-Expertenkommission im Wesentlichen zahlreiche Vorwürfe des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) der vergangenen beiden Jahre auf. Demnach verletze die Volksrepublik die internationalen Konventionen durch ein “weit verbreitetes und systematisches” Zwangsarbeitsprogramm. Betroffen seien Uiguren, türkische und andere muslimische Minderheiten. Sie würden “unter Verletzung des Rechts auf freie Wahl der Beschäftigung nach Artikel 1 Absatz 2 des Übereinkommens Nr. 122” für landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten in der gesamten Autonomen Region Xinjiang eingesetzt.
Der IGB geht davon aus, dass vor allem die Insassen der Internierungslager in Xinjiang betroffen sind. Seiner Schätzung nach sind dort bis zu 1,8 Millionen Menschen untergebracht. Das sind noch einmal deutlich mehr als die oftmals zitierten eine Million inhaftierten Uiguren. Indikator für die große Zahl sind die wachsenden Ausmaße der Lager. Der IGB hat 39 davon ausgemacht, deren Flächen sich seit 2017 verdreifacht haben.
Doch nicht nur in Xinjiang arbeiten Uiguren unter Zwang. Mindestens 80.000 Mitglieder ethnischer Minderheiten aus der Region wurden laut ILO-Report nach Ost- oder Zentralchina verfrachtet, um dort in Fabriken zu arbeiten. Der Internationale Gewerkschaftsbund geht davon aus, dass den Arbeiter:innen keine Wahl gelassen wird, ob sie ihre Heimat verlassen wollen. Stattdessen würde ihnen und ihren Familien mit Haft gedroht. Zwangsarbeiter:innen stünden zudem unter ständiger Beobachtung, dürften sich nicht frei bewegen und würden mit praktisch unerfüllbare Produktionsquoten unter Druck gesetzt. Dort, wo Löhne gezahlt würden, zögen die Arbeitgeber den allergrößten Teil für Gegenleistungen wie Unterbringung, Verköstigung oder Versicherungen wieder ab.
Der ILO-Report ist Beleg für die steigende Wachsamkeit der Vereinten Nationen zu den Vorgängen in Xinjiang. Die Europäische Union will ihrerseits mit einem Lieferkettengesetz die Zwangsarbeit bekämpfen, tut dies aber nur halbherzig. Ausgerechnet in dieser sensiblen Zeit haben zwei europäische Flughäfen Direktflüge mit der autonomen Region im Nordwesten Chinas aufgenommen. Seit Mitte Januar fliegen mehrmals wöchentlich Frachtmaschinen aus Kashgar im äußersten Westen Xinjiangs nach Budapest und Lüttich.
Die Inter-Parliamentary Alliance on China im Europaparlament äußert sich entrüstet. “Es ist unvorstellbar, dass Flugzeuge mit Waren aus Xinjiang auf direktem Weg nach Belgien gelangen. Wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass von uigurischer Zwangsarbeit verseuchte Waren in unsere Lieferketten gelangen – und nicht den roten Teppich ausrollen“, sagte der belgische Abgeordnete Samuel Cogolati dem Magazin Politico.
Cogolati, der von chinesischer Seite mit einem Einreiseverbot in die Volksrepublik belegt worden ist, hat bei der EU-Kommission bislang erfolglos nachgefragt, welche Firmen mit den Gütern aus Kashgar versorgt werden.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat die Einwohner der Stadt aufgefordert, “zuversichtlich zu bleiben” und die Anti-Corona-Maßnahmen zu unterstützen. “Mit größter Sorge und unerschütterlicher Unterstützung von Präsident Xi Jinping (…) muss sich jetzt die gesamte Gesellschaft zusammentun, um die fünfte Welle der Epidemie zu überstehen und den Geist Hongkongs in vollem Umfang zu zeigen”, sagte Lam. Sie sprach nach eigenen Angaben mit örtlichen Hotelbetreibern, um bis zu 10.000 Hotelzimmer für die Isolation von Patienten mit milden Symptomen und Kontaktpersonen freizugeben. Sicherheitschef Chris Tang sollte demnach den Betrieb der teilnehmenden Isolations-Hotels überwachen, so Lam.
Chinas Präsident Xi Jinping hatte sich am Dienstag direkt an die Führung Hongkongs gewandt und öffentlich Anweisungen gegeben. Die “übergeordnete Mission” müsse darin bestehen, die Verbreitung des Coronavirus in Hongkong zu stabilisieren und zu kontrollieren, sagte Xi laut Staatsmedien. China hatte zudem angekündigt, Hongkong mit Test- und Quarantänekapazitäten zu unterstützen und Antigen-Tests sowie Schutzausrüstung und Lebensmittel zu schicken. Die South China Morning Post berichtete am Mittwoch, die Zentralregierung habe eine ranghohe Koordinierungsgruppe gebildet. Diese soll die Aufsicht über die Coronavirus-Maßnahmen in Hongkong übernehmen.
Die hochansteckende Omikron-Variante hat die Finanzmetropole derzeit fest im Griff. Die Krankenhäuser sind voll ausgelastet oder überlastet, einige Patienten mussten bei kaltem und regnerischem Wetter in behelfsmäßigen Räumen und im Freien neben Kliniken behandelt werden. Die Behörden kommen bei Tests und der Nachverfolgung von Infektionsfällen nicht mehr hinterher (China.Table berichtete).
Die Gesundheitsbehörden meldeten am Donnerstag einen Rekord von 6.100 bestätigten Neuinfektionen und weitere 6.3000 vorläufige positive Fälle – ein massiver Anstieg von rund 100 neu registrierten Fällen pro Tag Anfang Februar, aber immer noch niedriger als in anderen Großstädten weltweit. Ein weiterer Anstieg von Neuinfektionen wird jedoch erwartet. rtr/ari
Drei Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China ist im Inselstaat Salomonen im Südpazifik neue Gewalt gegen chinesische Staatsbürger ausgebrochen. In der Hauptstadt Honiara wurde am Wochenende ein Gebäude in Brand gesetzt und zerstört. Eine Person wurde leicht verletzt. Erstmals waren vor drei Monaten bei Protesten zahlreiche Geschäfte und Einrichtungen chinesischer Herkunft von gewalttätigen Demonstranten angezündet worden.
Hintergrund der Eskalation sind Korruptionsvorwürfe gegen Premierminister Manasseh Sogavare. Ihm wird vorgeworfen, Parlamentsmitglieder mit Geldzahlungen beeinflusst zu haben. Die Mittel stammen aus einem nationalen Entwicklungsfonds, der von China finanziert wird.
Zu den Demonstrationen im vergangenen November hatte eine Gruppe namens Malaita for Democracy aufgerufen. Sie hat ihren Sitz in der Provinz Malaita, eine halbe Flugstunde von der Hauptstadt Honiara entfernt. Die Gruppe ist eine pro-taiwanische Vereinigung örtlicher Politiker, die sich gegen den “switch” ausgesprochen hatte. Damit ist die Beendigung diplomatischer Beziehungen zu dem Inselstaat Taiwan und die gleichzeitige Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Peking im Jahr 2019 gemeint.
Die Salomonen sind ein Inselstaat mit 680.000 Einwohnern im Südpazifik, östlich von Papua-Neuguinea. Die Region gewinnt durch das Kräftemessen der USA und China zunehmend an geostrategischer Bedeutung. Nach dem “switch” hatte auch die US-Regierung kürzlich angekündigt, ihre Beziehungen zu den Salomonen vertiefen zu wollen. grz
Wenn Wolfgang Niedermark von China spricht, schwingt Bedauern mit. Seit Oktober 2020 ist der 56-jährige Gelsenkirchener Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Beruflich wie privat hat er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Dynamik Chinas während vieler Jahre vor Ort mitverfolgt. “Da ich viele positive Erlebnisse mit den Menschen Chinas erleben durfte”, sagt er, “treibt mich das auf die Seite jener, die voller Sympathie und mit guter Laune mit China zusammenarbeiten wollen”.
Andererseits, und das sei das große “Aber”, habe der nationalistische Kurs der Kommunistischen Partei vieles so stark verschlechtert, dass es schwierig sei, diese positive Grundhaltung zu behalten. “Der totalitäre Kurs unter Xi Jinping treibt uns, wie vielen anderen, die Sorgenfalten auf die Stirn.”
Von Asien war Niedermark bereits während seines Studiums der Wirtschaftsgeografie an der Universität Münster angetan. Insbesondere von Indien war er begeistert, das er als Student mit dem Rucksack bereiste. In Indien hatte er sich mit seiner Frau verlobt, die Kinder habe das Paar später auf die Reisen durch Südostasien “mitgeschleppt”. Sie seien eine “pazifische Familie”, sagt er, hätten in Seoul und Hongkong gelebt und sich dort sehr wohlgefühlt.
Ursprünglich wollte Niedermark vor allem in Indien arbeiten, doch in China habe es schließlich mehr Dynamik gegeben. Ab 1998 leitete er die Geschäfte des Ostasiatischen Vereins in Hamburg und war zudem Mitglied in der Geschäftsführung des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
Intensiv mit China und seinen Menschen in Kontakt kam er erstmals 2003, als er am Aufbau des Zeitschriftengeschäfts für die heutige Bauer Media Group in Asien mitwirkte. “Das war eine faszinierende Erfahrung”, sagt er. “Die Chinesen hatten damals eine unglaubliche Begeisterung für unsere Themen aus dem Westen, eine Lust und Neugier aufeinander.” Umgekehrt erging es Niedermark genauso. Die gleiche Erfahrung machte er während der dreijährigen Kampagne “Deutschland und China gemeinsam in Bewegung” zur Expo 2010 in Schanghai.
In Hongkong übernahm Niedermark 2016 die Leitung der Außenhandelskammer, nachdem er bei der BASF AG für mehrere Jahre das Berliner Büro geleitet hatte. Hongkong war lange ein Sehnsuchtsort: “Ich mag Orte, wo Ost und West zusammenfließen.” Doch nachdem er mit seiner Frau und den beiden Söhnen dorthin gezogen war, konnte er hautnah miterleben, wie das Prinzip “ein Land, zwei Systeme” abgeschafft wurde.
Als Beispiel dient eine Anekdote: Im ersten Jahr in Hongkong hätten ihn höfliche Verkehrspolizisten fast entschuldigend mit einer Buße versehen. Vier Jahre später wurde er von einer Streife herausgewunken, obwohl er kein klares Verkehrsdelikt begangen hatte. “Sie beschimpften mich als eingebildeten Ausländer.” Das sei nur eine von vielen Geschichten davon, wie nationalistische Töne in China die Atmosphäre vergiftet haben.
Diese Verhärtung habe sich auch in den politischen Beziehungen niedergeschlagen: “Das liegt weniger an uns im Westen, sondern daran, dass sich China heute anders präsentiert“, sagt Niedermark. Das könne man bereits seit einigen Jahren beobachten. Bloß: Wie man umgehen soll, darauf habe Deutschland, ja der ganze Westen, noch keine klaren Antworten gefunden. “Wir befinden uns in einer Zwischenphase, in der die alten Verhältnisse zwar noch leidlich funktionieren, neue Umgangs- und Kooperationsformen aber noch nicht geboren sind.” Durch diese Phase der Missverständnisse und des Misstrauens müsse man nun durch, sagt Niedermark, bevor man hoffentlich wieder ein konstruktives Miteinander finde. Adrian Meyer
die Mär von den unpolitischen Olympischen Winterspielen hat China jahrelang verbissen verteidigt. Am Donnerstag, nur drei Tage vor dem Ende des Mummenschanzes, fielen auf der Zielgeraden dann doch noch die Hüllen. Eine Sprecherin des Organisationskomitees BOCOG erklärte vor der internationalen Presseschar den Inselstaat Taiwan zu einem “untrennbaren Teil” der Volksrepublik und bezeichnete die Beweise für die systematische Zwangsarbeit von Uiguren in Xinjiang als “Lüge”.
Die Aussagen waren eine Ohrfeige für das Internationale Olympische Komitee. So lange hatte sich der Verband mit seinem deutschen Präsidenten Thomas Bach schützend vor das Gastgeberland gestellt, Pekings Propaganda nachgeplappert und im Fall Peng Shuai sogar darauf verzichtet, Chinas Führung um Aufklärung zu bitten.
Überraschend ist das alles nicht. Und Schadenfreude ist fehl am Platz. Dafür sind die Hintergründe viel zu tragisch. Und dennoch bietet der Moment, in dem das BOCOG die Contenance verlor, der Welt eine Lehre. Wer sich auf eine autokratische Regierung verlässt, um sein eigenes Gesicht zu wahren, der begibt sich auf ganz dünnes Eis. Nicht nur bei Olympischen Winterspielen.
Dass es eine Frau war, die dem IOC in den Rücken fiel, hat auch ein bisschen symbolische Bedeutung. Denn wer im patriarchischen China als Frau Karriere machen möchte, ist gut beraten, im Sinne der Männer zu reden und zu handeln. Wer hingegen mehr Rechte für Frauen einfordert, gerät schnell in Schwierigkeiten, wie uns heute Fabian Peltsch berichtet.
Im Januar 2021 wurde die chinesische Stand-Up-Komikerin Yang Li schlagartig für ihren Ausspruch berühmt, Männer seien “普確信” Pǔ quèxìn: “mittelmäßig, aber selbstbewusst”. Auf Chinas Social-Media-Plattformen wurde der Satz innerhalb weniger Stunden zur feministischen Parole. Gleichzeitig brach ein Shitstorm über Li herein, der sie auch einige Werbeverträge kostete. Der Tenor: Li würde mit ihrer Comedy “Männerhass” schüren. Auch sonst kochen beim Thema Gleichberechtigung in China die Gemüter schnell hoch. Zuletzt sorgte der Fall einer von ihrem Ehemann angeketteten, psychisch kranken Frau in der Stadt Xuzhou für landesweite Empörung. Frauen würden oft nicht einmal als menschliche Wesen behandelt, las man in Kommentarspalten von chinesischen Social-Media-Kanälen wie Weibo.
Noch nie wurden Geschlechterdebatten und Gleichstellungsfragen in China so öffentlich verhandelt wie in den vergangenen drei Jahren. Wie in westlichen Ländern werden Gewissheiten in Zweifel gezogen. Feministisch angehauchte Fernsehshows wie “Hear Her” 听见她说” kritisieren ungesunde Schönheitsideale und verzerrte Selbstwahrnehmungen junger Frauen. Die Popsängerin Tan Weiwei adressierte in ihrem Lied “Xiǎo juān 小娟” reale Fälle häuslicher Gewalt, während sich die Rapperin Yamy auf ihrem Weibo-Kanal offen über sexuelle Belästigung im chinesischen Showbusiness echauffierte.
Feminismus ist heute zu einem gewissen Grad Teil der chinesischen Popkultur. Die Künstlerinnen bewegen sich jedoch auf einem schmalen Grat. Die chinesische Regierung bewertet eine feministische Massenbewegung als Gefahr für die soziale Stabilität. Insbesondere die unter dem Hashtag “MeToo” um die Welt gegangene Solidaritätswelle mit Opfern von Missbrauch und Übergriffen bezeichnet Peking als “Werkzeug ausländischer Kräfte”, mit dem das chinesische System unterwandert werden soll.
Als die Bewegung in China Anfang 2018 an Fahrt aufnahm, nachdem eine ehemalige Studentin der Shanghai University of Finance and Economics einen Professor beschuldigt hatte, sie sexuell belästigt zu haben, löschten die Zensoren binnen weniger Wochen reihenweise Social-Media-Accounts bekannter Feministinnen und feministische Diskussionsgruppen. Der bekannteste “MeToo”-Fall um die Tennisspielerin Peng Shuai hat Chinas Mächtigen dann noch einmal klargemacht, wie schnell Anschuldigungen der sexuellen Belästigung zur Staatsaffäre ausarten können.
Um die Gemüter abzukühlen und das Gleichstellungs-Narrativ nicht dem Volk zu überlassen, hat Chinas Ständiger Ausschuss des Nationalen Volkskongresses Ende Dezember eine Überarbeitung des chinesischen Frauenrechtsgesetzes vorgelegt. Der Entwurf, der auf dem 1992 verabschiedeten und 2005 zum letzten Mal überarbeiteten Gesetz zum Schutz der Rechte und Interessen der Frau (LPWRI) basiert, sieht unter anderem vor, dass Arbeitgeber weibliche Bewerber in Einstellungsgesprächen nicht mehr nach ihrem Heiratsstatus oder Kinderwunsch fragen dürfen – eine in China nach wie vor gängige Praxis.
Auch wird erstmals in einem chinesischen Gesetz versucht, eine klare Definition für sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzulegen. Diese beinhaltet nicht nur körperliche Übergriffe, sondern auch verbale und nonverbale Anzüglichkeiten sowie das Verbreiten privater Bilder und Dateien. Unternehmen und Bildungseinrichtungen werden angehalten, Verantwortliche auszubilden, die die Regelungen durchsetzen und Workshops zum Thema anbieten. Dazu sollen Hotlines und Postfächer eingerichtet werden, um Fälle sexueller Belästigung zu melden.
Insgesamt enthält der Entwurf Überarbeitungen von 48 Paragrafen und 24 neue Ergänzungen. Bis zur endgültigen Verabschiedung im nächsten Jahr muss er noch zwei weitere Prüfungen durchlaufen. Ein Beitrag des staatlichen Fernsehsenders CCTV feiert das Update schon jetzt als großen Meilenstein für Chinas Frauen. In chinesischen Online-Foren löste die Ankündigung dagegen einen regelrechten Geschlechterkampf aus. Zahlreiche User:innen erklärten, das geplante Gesetz benachteilige Männer. Andere schrieben, das Gesetz rühre nicht an die Wurzel des Problems: Die tief verankerten patriarchalen Strukturen in China.
Zu den Kritikerinnen des Gesetzes gehört Eloise Fan. Die 29-jährige Feministin arbeitet seit acht Jahren in der Werbeindustrie in Shanghai und betreibt nebenher das Musiklabel Scandal, das feministischen Künstlerinnen eine Plattform bieten will. “Es braucht noch viel mehr Schritte, um das toxische Umfeld, in dem Chinas Frauen sich bewegen, von Grund auf zu verändern”, sagt sie gegenüber China.Table. Trotz ihrer Stellung als Creative Director erlebe sie am Arbeitsplatz immer wieder Sexismus, vor allem durch direkte Vorgesetzte, die anzügliche oder frauenverachtende Kommentare von sich geben oder weibliche Angestellte von wichtigen Entscheidungsprozessen ausschließen. Ihre eigenen Ideen würden oft als “zu feministisch” abgelehnt, sagt Fan. “Meine langjährigen Erfahrungen in der Industrie haben mir gezeigt, dass auch ein Jobwechsel daran nichts ändern wird.”
China hat grundsätzlich eine gute Ausgangsposition für Gleichstellung im Wirtschaftsleben: Der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen lag in China laut Zahlen der Weltbank im Jahr 2019 bei 43,7 Prozent – so hoch wie in keinem anderen Land des Asien-Pazifik-Raums. Doch der nähere Blick auf die Zahlen offenbart dann doch erhebliche Geschlechterunterschiede. Zwar gibt es nirgends auf der Welt so viele Milliardärinnen wie in China, für die gleiche Arbeit bei vergleichbarer Qualifikation und Erfahrung verdienen Frauen aber immer noch durchschnittlich 36 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
Zwischen 2008 und 2021 ist die Volksrepublik im Ranking des WTO Global Gender Gap Reports von Platz 57 auf Platz 107 abgerutscht. Sprich: Vom chinesischen Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre profitierten vor allem Männer. In Chinas patriarchaler Gesellschaft gelten sie noch immer als durchsetzungsfähiger und geeigneter für Führungspositionen. Das spiegelt sich auch in der Politik wider: Im zweitmächtigsten Gremium, dem 25-köpfigen Politbüro, saßen in den vergangenen 50 Jahren gerade einmal sechs Frauen.
Weil die chinesische Gesellschaft rapide altert, werden Frauen im heutigen China zudem wieder verstärkt zur Mutterschaft gedrängt. Bereits 2016 hat Peking die Ein-Kind-Politik abgeschafft. Seit dem Mai 2021 dürfen Chinas Frauen sogar drei Kinder bekommen. Nur die wenigsten wagen das jedoch angesichts des hohen finanziellen und gesellschaftlichen Drucks, den Kindern die beste und oftmals teuerste Ausbildung zu bieten.
Gleichzeitig ist die Scheidungsrate in der Volksrepublik in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich angestiegen. Während sich im Jahr 2003, dem Jahr, als China den Scheidungsprozess gesetzlich erleichterte, rund 1,3 Millionen Paare scheiden ließen, waren es 2018 schon 4,5 Millionen. Auch hier versucht die Regierung, mit der klassische Familienstrukturen zu propagieren, um dem Trend zur Scheidung entgegenzuwirken. Seit Anfang 2021 müssen Paare, die sich scheiden lassen wollen, erst durch eine “Abkühlungsphase” gehen: Wenn sie im Zeitraum von 30 und 60 Tagen nicht gemeinsam zu zwei Amtsterminen erscheinen, wird dem Scheidungsantrag nicht stattgegeben. “Immer mehr Frauen wollen gar nicht erst heiraten”, erläutert Fan. “Viele haben erkannt, dass eine Heirat ihnen nur Energie und Eigentum raubt, und das bis zum Lebensende.”
Nach 1990 geborene Chinesinnen wie Fan sind selbstbewusster, selbstständiger und besser ausgebildet als die Generationen vor ihnen. Sie wollen nicht als Menschen zweiter Klasse oder gar als Gebärmaschinen gesehen werden. Von Männern, die sie für intellektuell nicht ebenbürtig halten, schon gar nicht. “Mehr und mehr Frauen realisieren, dass das Patriarchat wirklich existiert und sie benachteiligt”, sagt sie.
In die chinesische Justiz setzt die junge Feministin keine großen Hoffnungen. Laut einer Analyse des Beijing Yuanzhong Gender Development Centre wird eine Mehrheit der Klägerinnen, die wegen sexueller Belästigung vor Gericht gehen, am Ende ihrerseits wegen Verleumdung bestraft. “Wenige Frauen ziehen den juristischen Weg in Betracht, weil sie Angst haben, dass sie ihren Job verlieren oder ihre Karriere vorbei sein wird”, sagt Fan. “Wenn du so einen Prozess wirklich gewinnen willst, musst du tough sein und viele handfeste Beweise vorlegen.” Die Öffentlichmachung sexueller Belästigung auf Social-Media-Kanälen verspreche mehr Erfolg, gehört zu werden. Auch wenn der Prozess “schwierig und schmerzhaft” werden könne, so Fan.
Der Staat pendelt zwischen Entgegenkommen und Repression, um dem Unmut junger Frauenrechtlerinnen wie Fan zu begegnen. Man werde sich jedoch niemals “radikalen feministischen Kampagnen” beugen, schreibt die staatliche Zeitung Global Times in einem Artikel zum neuen Gesetzesentwurf. Trotz solcher politischer Hürden glaubt Fan, dass die “MeToo”-Bewegung in China gerade erst angefangen hat. “Es ist ein Trial-and-Error-Prozess: Was wir bislang erreicht haben, kann uns jederzeit wieder weggenommen werden.”
Human Rights Watch (HRW) und die Coalition to End Forced Labour in the Uyghur Region (EUFL) werfen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) mangelnde Transparenz vor. Der Verband schaffe keine endgültige Gewissheit, ob die Kleidung seines chinesischen Ausrüsters Anta tatsächlich ohne den Einsatz von Zwangsarbeit uigurischer Arbeiter in Xinjiang hergestellt wird. Die Vorwürfe folgen auf das unrühmliche Verhalten des IOC im Fall der Tennisspielerin Peng Shuai (China.Table berichtete).
Seit Monaten drängen EUFL und HRW darauf, das IOC möge detailliert darstellen, wie es die Lieferkette von Anta geprüft habe. Das IOC reagierte im Januar mit einer Stellungnahme. Die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte würden eingehalten. Nach entsprechenden Kontrollen durch Dritte sei das IOC zu diesem Fazit gekommen. Verantwortlich für die Kontrollen seien unabhängige Audit-Institutionen, die für ihre Prüfung den direkten Kontakt mit den Arbeitern gesucht hätten, hieß es. Das Ergebnis: Alles sauber. Anta verwende nicht einmal Baumwolle in der Kleidung, mit der die IOC-Mitglieder ausgestattet werden.
Die Menschenrechtsorganisationen geben sich damit nicht zufrieden und haken weiter nach. Die IOC-Stellungnahme enthalte erhebliche Lücken. Den Ergebnissen der Prüfung mangele es an Transparenz und an einer Analyse der Beschaffungspraktiken von Zulieferern, kritisierten sie. Das IOC hat bislang nicht auf die Forderung nach einer Nachbesserung reagiert.
Seit 2019 und noch bis Ende des Jahres ist Anta der offizielle IOC-Ausrüster. Schon bei den Sommerspielen 2021 in Tokio trugen die Funktionäre dessen Logo auf der Brust. Doch erst mit den Winterspielen in Peking hat sich das IOC zu seiner Sorgfaltspflicht im Rahmen der UN-Leitprinzipien bekannt.
Die Forderung, die vorhandenen Informationslücken zu schließen, folgte zeitnah zur Veröffentlichung des jüngsten Berichts der International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen. Deren Expertenkommission hatte Ende vergangener Woche die Lage in Xinjiang scharf kritisiert und die chinesische Regierung aufgefordert, die Arbeitsbedingungen in der Region internationalen Standards anzugleichen.
“Der Ausschuss drückt seine tiefe Besorgnis über die politischen Direktiven aus, die in zahlreichen nationalen und regionalen regulatorischen Dokumenten zum Ausdruck gebracht wird”, heißt es in dem ILO-Bericht. 2020 hatte ein internationales Konsortium von Journalisten im Rahmen der China Cables unter anderem belegt, dass Zwangsarbeit als eine von zahlreichen Maßnahmen zur Sinisierung der uigurischen Bevölkerungsminderheit von den Behörden angeordnet worden ist. Peking hatte die Vorwürfe zurückgewiesen.
Der ILO-Bericht sorgte erwartungsgemäß für kontroverse Reaktionen. Die USA, die den Import von Produkten aus Xinjiang verboten haben, begrüßten den Inhalt des Berichts und forderten China dazu auf, die Zustände zu beheben. Die chinesische Vertretung am Sitz der UN-Menschenrechtskommission in Genf dagegen twitterte: “Als ILO-Mitgliedsstaat ist die chinesische Regierung fest entschlossen, den uneingeschränkten Zugang zu produktiver und frei gewählter Beschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle ethnischen Minderheiten Chinas, einschließlich der Uiguren in Xinjiang, zu respektieren, zu fördern und zu verwirklichen.”
In ihrem Bericht greift die ILO-Expertenkommission im Wesentlichen zahlreiche Vorwürfe des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) der vergangenen beiden Jahre auf. Demnach verletze die Volksrepublik die internationalen Konventionen durch ein “weit verbreitetes und systematisches” Zwangsarbeitsprogramm. Betroffen seien Uiguren, türkische und andere muslimische Minderheiten. Sie würden “unter Verletzung des Rechts auf freie Wahl der Beschäftigung nach Artikel 1 Absatz 2 des Übereinkommens Nr. 122” für landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten in der gesamten Autonomen Region Xinjiang eingesetzt.
Der IGB geht davon aus, dass vor allem die Insassen der Internierungslager in Xinjiang betroffen sind. Seiner Schätzung nach sind dort bis zu 1,8 Millionen Menschen untergebracht. Das sind noch einmal deutlich mehr als die oftmals zitierten eine Million inhaftierten Uiguren. Indikator für die große Zahl sind die wachsenden Ausmaße der Lager. Der IGB hat 39 davon ausgemacht, deren Flächen sich seit 2017 verdreifacht haben.
Doch nicht nur in Xinjiang arbeiten Uiguren unter Zwang. Mindestens 80.000 Mitglieder ethnischer Minderheiten aus der Region wurden laut ILO-Report nach Ost- oder Zentralchina verfrachtet, um dort in Fabriken zu arbeiten. Der Internationale Gewerkschaftsbund geht davon aus, dass den Arbeiter:innen keine Wahl gelassen wird, ob sie ihre Heimat verlassen wollen. Stattdessen würde ihnen und ihren Familien mit Haft gedroht. Zwangsarbeiter:innen stünden zudem unter ständiger Beobachtung, dürften sich nicht frei bewegen und würden mit praktisch unerfüllbare Produktionsquoten unter Druck gesetzt. Dort, wo Löhne gezahlt würden, zögen die Arbeitgeber den allergrößten Teil für Gegenleistungen wie Unterbringung, Verköstigung oder Versicherungen wieder ab.
Der ILO-Report ist Beleg für die steigende Wachsamkeit der Vereinten Nationen zu den Vorgängen in Xinjiang. Die Europäische Union will ihrerseits mit einem Lieferkettengesetz die Zwangsarbeit bekämpfen, tut dies aber nur halbherzig. Ausgerechnet in dieser sensiblen Zeit haben zwei europäische Flughäfen Direktflüge mit der autonomen Region im Nordwesten Chinas aufgenommen. Seit Mitte Januar fliegen mehrmals wöchentlich Frachtmaschinen aus Kashgar im äußersten Westen Xinjiangs nach Budapest und Lüttich.
Die Inter-Parliamentary Alliance on China im Europaparlament äußert sich entrüstet. “Es ist unvorstellbar, dass Flugzeuge mit Waren aus Xinjiang auf direktem Weg nach Belgien gelangen. Wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass von uigurischer Zwangsarbeit verseuchte Waren in unsere Lieferketten gelangen – und nicht den roten Teppich ausrollen“, sagte der belgische Abgeordnete Samuel Cogolati dem Magazin Politico.
Cogolati, der von chinesischer Seite mit einem Einreiseverbot in die Volksrepublik belegt worden ist, hat bei der EU-Kommission bislang erfolglos nachgefragt, welche Firmen mit den Gütern aus Kashgar versorgt werden.
Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam hat die Einwohner der Stadt aufgefordert, “zuversichtlich zu bleiben” und die Anti-Corona-Maßnahmen zu unterstützen. “Mit größter Sorge und unerschütterlicher Unterstützung von Präsident Xi Jinping (…) muss sich jetzt die gesamte Gesellschaft zusammentun, um die fünfte Welle der Epidemie zu überstehen und den Geist Hongkongs in vollem Umfang zu zeigen”, sagte Lam. Sie sprach nach eigenen Angaben mit örtlichen Hotelbetreibern, um bis zu 10.000 Hotelzimmer für die Isolation von Patienten mit milden Symptomen und Kontaktpersonen freizugeben. Sicherheitschef Chris Tang sollte demnach den Betrieb der teilnehmenden Isolations-Hotels überwachen, so Lam.
Chinas Präsident Xi Jinping hatte sich am Dienstag direkt an die Führung Hongkongs gewandt und öffentlich Anweisungen gegeben. Die “übergeordnete Mission” müsse darin bestehen, die Verbreitung des Coronavirus in Hongkong zu stabilisieren und zu kontrollieren, sagte Xi laut Staatsmedien. China hatte zudem angekündigt, Hongkong mit Test- und Quarantänekapazitäten zu unterstützen und Antigen-Tests sowie Schutzausrüstung und Lebensmittel zu schicken. Die South China Morning Post berichtete am Mittwoch, die Zentralregierung habe eine ranghohe Koordinierungsgruppe gebildet. Diese soll die Aufsicht über die Coronavirus-Maßnahmen in Hongkong übernehmen.
Die hochansteckende Omikron-Variante hat die Finanzmetropole derzeit fest im Griff. Die Krankenhäuser sind voll ausgelastet oder überlastet, einige Patienten mussten bei kaltem und regnerischem Wetter in behelfsmäßigen Räumen und im Freien neben Kliniken behandelt werden. Die Behörden kommen bei Tests und der Nachverfolgung von Infektionsfällen nicht mehr hinterher (China.Table berichtete).
Die Gesundheitsbehörden meldeten am Donnerstag einen Rekord von 6.100 bestätigten Neuinfektionen und weitere 6.3000 vorläufige positive Fälle – ein massiver Anstieg von rund 100 neu registrierten Fällen pro Tag Anfang Februar, aber immer noch niedriger als in anderen Großstädten weltweit. Ein weiterer Anstieg von Neuinfektionen wird jedoch erwartet. rtr/ari
Drei Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Volksrepublik China ist im Inselstaat Salomonen im Südpazifik neue Gewalt gegen chinesische Staatsbürger ausgebrochen. In der Hauptstadt Honiara wurde am Wochenende ein Gebäude in Brand gesetzt und zerstört. Eine Person wurde leicht verletzt. Erstmals waren vor drei Monaten bei Protesten zahlreiche Geschäfte und Einrichtungen chinesischer Herkunft von gewalttätigen Demonstranten angezündet worden.
Hintergrund der Eskalation sind Korruptionsvorwürfe gegen Premierminister Manasseh Sogavare. Ihm wird vorgeworfen, Parlamentsmitglieder mit Geldzahlungen beeinflusst zu haben. Die Mittel stammen aus einem nationalen Entwicklungsfonds, der von China finanziert wird.
Zu den Demonstrationen im vergangenen November hatte eine Gruppe namens Malaita for Democracy aufgerufen. Sie hat ihren Sitz in der Provinz Malaita, eine halbe Flugstunde von der Hauptstadt Honiara entfernt. Die Gruppe ist eine pro-taiwanische Vereinigung örtlicher Politiker, die sich gegen den “switch” ausgesprochen hatte. Damit ist die Beendigung diplomatischer Beziehungen zu dem Inselstaat Taiwan und die gleichzeitige Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Peking im Jahr 2019 gemeint.
Die Salomonen sind ein Inselstaat mit 680.000 Einwohnern im Südpazifik, östlich von Papua-Neuguinea. Die Region gewinnt durch das Kräftemessen der USA und China zunehmend an geostrategischer Bedeutung. Nach dem “switch” hatte auch die US-Regierung kürzlich angekündigt, ihre Beziehungen zu den Salomonen vertiefen zu wollen. grz
Wenn Wolfgang Niedermark von China spricht, schwingt Bedauern mit. Seit Oktober 2020 ist der 56-jährige Gelsenkirchener Mitglied der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Beruflich wie privat hat er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche Dynamik Chinas während vieler Jahre vor Ort mitverfolgt. “Da ich viele positive Erlebnisse mit den Menschen Chinas erleben durfte”, sagt er, “treibt mich das auf die Seite jener, die voller Sympathie und mit guter Laune mit China zusammenarbeiten wollen”.
Andererseits, und das sei das große “Aber”, habe der nationalistische Kurs der Kommunistischen Partei vieles so stark verschlechtert, dass es schwierig sei, diese positive Grundhaltung zu behalten. “Der totalitäre Kurs unter Xi Jinping treibt uns, wie vielen anderen, die Sorgenfalten auf die Stirn.”
Von Asien war Niedermark bereits während seines Studiums der Wirtschaftsgeografie an der Universität Münster angetan. Insbesondere von Indien war er begeistert, das er als Student mit dem Rucksack bereiste. In Indien hatte er sich mit seiner Frau verlobt, die Kinder habe das Paar später auf die Reisen durch Südostasien “mitgeschleppt”. Sie seien eine “pazifische Familie”, sagt er, hätten in Seoul und Hongkong gelebt und sich dort sehr wohlgefühlt.
Ursprünglich wollte Niedermark vor allem in Indien arbeiten, doch in China habe es schließlich mehr Dynamik gegeben. Ab 1998 leitete er die Geschäfte des Ostasiatischen Vereins in Hamburg und war zudem Mitglied in der Geschäftsführung des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
Intensiv mit China und seinen Menschen in Kontakt kam er erstmals 2003, als er am Aufbau des Zeitschriftengeschäfts für die heutige Bauer Media Group in Asien mitwirkte. “Das war eine faszinierende Erfahrung”, sagt er. “Die Chinesen hatten damals eine unglaubliche Begeisterung für unsere Themen aus dem Westen, eine Lust und Neugier aufeinander.” Umgekehrt erging es Niedermark genauso. Die gleiche Erfahrung machte er während der dreijährigen Kampagne “Deutschland und China gemeinsam in Bewegung” zur Expo 2010 in Schanghai.
In Hongkong übernahm Niedermark 2016 die Leitung der Außenhandelskammer, nachdem er bei der BASF AG für mehrere Jahre das Berliner Büro geleitet hatte. Hongkong war lange ein Sehnsuchtsort: “Ich mag Orte, wo Ost und West zusammenfließen.” Doch nachdem er mit seiner Frau und den beiden Söhnen dorthin gezogen war, konnte er hautnah miterleben, wie das Prinzip “ein Land, zwei Systeme” abgeschafft wurde.
Als Beispiel dient eine Anekdote: Im ersten Jahr in Hongkong hätten ihn höfliche Verkehrspolizisten fast entschuldigend mit einer Buße versehen. Vier Jahre später wurde er von einer Streife herausgewunken, obwohl er kein klares Verkehrsdelikt begangen hatte. “Sie beschimpften mich als eingebildeten Ausländer.” Das sei nur eine von vielen Geschichten davon, wie nationalistische Töne in China die Atmosphäre vergiftet haben.
Diese Verhärtung habe sich auch in den politischen Beziehungen niedergeschlagen: “Das liegt weniger an uns im Westen, sondern daran, dass sich China heute anders präsentiert“, sagt Niedermark. Das könne man bereits seit einigen Jahren beobachten. Bloß: Wie man umgehen soll, darauf habe Deutschland, ja der ganze Westen, noch keine klaren Antworten gefunden. “Wir befinden uns in einer Zwischenphase, in der die alten Verhältnisse zwar noch leidlich funktionieren, neue Umgangs- und Kooperationsformen aber noch nicht geboren sind.” Durch diese Phase der Missverständnisse und des Misstrauens müsse man nun durch, sagt Niedermark, bevor man hoffentlich wieder ein konstruktives Miteinander finde. Adrian Meyer