ihr Tagebuch aus einer abgeriegelten Stadt machte Fang Fang weltberühmt – und in ihrer Heimat geächtet. Dabei hatte die Schriftstellerin schon vor dem “Wuhan Diary” lebensechte Geschichten aus dem chinesischen Alltag geschildert. Im Mittelpunkt ihrer Geschichten stehe dabei immer das Mitgefühl und Empathie für Menschen, die sonst keine Stimme haben, erzählt Fang Fangs Übersetzer Michael Kahn-Ackermann im Interview mit Ning Wang. Fang Fangs neuer Roman “Wütendes Feuer” ist erneut ein Spiegel der chinesischen Gesellschaft. Angesiedelt in den 1990er-Jahren schildert er die epochalen Umbrüche, die das Land und die Führungspartei bis heute prägen.
Dass die Darstellung schmerzhafter Realitäten in China durch Literaten unerwünscht ist, zählt zu den großen Tragödien der Volksrepublik. Und es offenbart die Angst des chinesischen Staates vor der Wahrheit. Denn sie steut Salz in die Wunden eines Systems, das sich als unverwundbar darstellt. Die Geschichten, die verborgen bleiben, weil die Kommunistische Partei sie nicht hören will, haben das Potenzial, das Verständnis vom Land von außen betrachtet deutlich zu erhöhen. Wenn sie uns nur erreichen würden.
Der ewige Vorwurf der Partei an ihre Kritiker lautet: Ihr versteht China nicht! Das ist entlarvend. Denn wer Teile der Wahrheit unterdrückt und andere des Missverstehens anklagt, der spielt ein falsches Spiel.
Der Zeitrahmen von “Wütendes Feuer” sind die 1990er-Jahre. Was hat sich seitdem in China verändert?
Zunächst muss man fragen, wo hat sich was geändert? Dieser Roman spielt in einem Dorf, vermutlich in der Provinz Hubei, und die Veränderungen, die sich auf dem Land abspielen, sind teilweise andere als die, die sich in den Städten in den letzten 20 bis 30 Jahren abgespielt haben. Wenn man strikt bei diesem Dorf bleibt, dann muss man sagen, dass sich wahrscheinlich an vielen Orten gar nicht so wahnsinnig viel verändert hat. Wie der Fall der verkauften und zu Hause angeketteten Frau gezeigt hat, der ja in den chinesischen sozialen Medien einen unglaublichen Widerhall gefunden hat. (In der Provinz wurde im Februar der Fall einer Frau bekannt, die in jungen Jahren entführt, verkauft und dann mehr als 18 Jahre lang angekettet gelebt hat – Anmerkung d. Redaktion.)
Ist die Reaktion so emotional gewesen, weil durch den Fall Erinnerungen aus den eigenen Familien hochkamen?
Der Fall hat gezeigt, dass die Entführung von jungen Mädchen und Frauen und ihr Verkauf an Familien in weniger entwickelten ländlichen Gebieten nach wie vor floriert. Und dass die Behörden kein offensives Verhältnis dazu einnehmen, sondern ein sehr defensives. Das heißt, sie versuchen solche Informationen möglichst zu vertuschen und das Ganze nicht zum Thema einer öffentlichen Debatte werden zu lassen. Aber es war seit langem bekannt, dass es Frauenhandel innerhalb Chinas gibt und dass man auf junge Mädchen aufpassen muss, damit sie auf dem Land und zum Teil auch in den Städten nicht entführt werden. Angesichts solcher Geschehnisse muss man sagen, dass es durchaus sein kann, dass sich in dem Dorf, in dem die Geschichte dieses Romans spielt, gar nicht so viel gewandelt hat. Was die soziale Struktur betrifft, was den Umgang zwischen den männlichen und weiblichen Familienmitgliedern betrifft und was die Lebensverhältnisse betrifft.
Aber die Menschen in China führen doch ein sehr gutes Leben, verglichen zu vielen anderen Ländern.
Global oder national gesehen ist die Veränderung natürlich immens. Doch zugleich haben sich die Unterschiede der Lebensbedingungen zwischen den großen Städten vor allem im Osten und Süden des Landes und den ländlichen Regionen weiter verschärft, sie sind heute noch unterschiedlicher als damals in den 90er-Jahren. Auch die Lebensgewohnheiten sind weiter entfernt voneinander als damals.
Ist “Wütendes Feuer” eine Kritik an den Verhältnissen?
Ich verstehe den Roman gar nicht so sehr als eine Kritik, sondern als die Beschreibung der Verhältnisse in einem für China sehr wichtigen Teil des Landes, nämlich den ländlichen Regionen, in einer epochalen Umbruchszeit, in der mehr oder weniger alles durcheinander gerät. Also die sozialen Strukturen, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die moralischen Vorstellungen, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen, die Sehnsüchte der jungen Generation.
Was Fang Fang da anprangert, gibt es also noch heute?
Ich glaube, dass dieser Prozess, den Fang Fang da beschreibt, bis in die Gegenwart andauert. Auch wenn sich viel verändert hat, ist dieser Umbruch der Verhältnisse, die Schwierigkeit sich in einer extrem widersprüchlichen Gegenwart zurechtzufinden, das eigentliche Thema dieses Romans. Am Beispiel einer jungen Frau, die in dieser Spannung steht, die etwas möchte, was ihre Eltern sich gar nicht vorstellen können und dabei an den festgefügten Familien-, Moral- und Sozialstrukturen scheitert.
Das Buch ist weniger eine Kritik – die ist implizit auch immer enthalten – als vielmehr eine ziemlich genaue Beschreibung einer sozialen Revolution, die wir hier als Revolution nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie nicht von einer politischen Revolution begleitet wird. Das politische System ist das Gleiche geblieben. Aber sämtliche sozialen Verhältnisse haben sich über einen relativ kurzen Zeitraum revolutionär verändert.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Werken “Wuhan Diary”, “Weiches Begräbnis” und “Wütendes Feuer” von Fang Fang?
Es gibt die Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Haltung der Autorin, die Partei für all jene ergreift, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, die Opfer dieser Veränderungen werden. Deren Schicksal aus politischen Gründen verschwiegen wird. Aber auch aus der fehlenden Bereitschaft der Eltern- und Großelterngenerationen über diese Zeit zu erzählen. Neben den massiven politischen Tabus, die sich in der schulischen Erziehung, in den Medien, in den Publikationen ja auch überall manifestieren, gibt es natürlich das gleiche Phänomen, das wir Deutsche, vor allem meine Generation, gut kennen: eine Elterngeneration, die über ihre Erfahrungen nicht sprechen möchte.
Insofern findet eigentlich eine Aufarbeitung so gut wie nicht statt – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmefällen. Öffentlich findet sie schon gar nicht statt, sie wird unterbunden, soweit das irgendwie möglich ist. Und in diese Leerstelle bricht Fang Fangs Literatur, wie auch die Literatur einiger anderer Autoren, ein. Aber es sind nicht sehr viele, die sich dieser vergessenen Schicksale der letzten 70 Jahre annehmen.
Kann Fang Fang auch nach dem “Wuhan Diary” noch in China veröffentlichen?
Es gibt kein offiziell verkündetes Schreibverbot. Das ist nirgendwo schriftlich fixiert, aber faktisch wagt kein einziger Verlag, eine Zeile von ihr zu veröffentlichen, keine Zeitung wagt ein Interview mit ihr zu machen. Damit hat sie faktisch ein Schreibverbot.
Wissen Sie, wie es ihr geht?
Ich habe vor Kurzem mit ihr Kontakt gehabt, das geht derzeit ja nur per Wechat. Es geht ihr, obwohl sie es nicht offen ausspricht, sicherlich nicht sehr gut. Sie wird nach wie vor als Vaterlandsverräterin behandelt. Auch wenn das offiziell nicht ausgesprochen wird.
Mit einer Rehabilitierung ist also nicht zu rechnen?
So lange die ganze Null-Covid-Kampagne anhält und weitergeführt werden muss, wird sie in keiner Weise rehabilitiert werden.
Die junge Protagonistin von “Wütendes Feuer” zündet am Ende ihren übergriffigen Ehemann an. Ist das auch eine Kritik an einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist?
Was an dem Roman auffällt ist, dass darin die Partei gar nicht und staatliche Institutionen kaum vorkommen. Ich glaube, das ist sehr realistisch. Für diesen bäuerlichen Alltag und für das Privatleben der Personen spielen diese eine eher zu vernachlässigende Rolle. Es zeigt sich gerade in diesem Roman, dass die traditionellen familiären Strukturen, die Clan-Strukturen, im Alltag mächtiger sind als die offiziellen staatlichen Strukturen, die ja die Gleichberechtigung von Männern und Frauen immer als ein politisches Ziel vor sich hertragen.
Ich habe den Eindruck, ohne es je mit ihr diskutiert zu haben, dass sie solche gesellschaftlichen Prozesse als etwas Irreversibles betrachtet, also als etwas, das wie ein Naturereignis die Personen ergreift und in alle möglichen und unmöglichen Situationen bringt. Fang Fang bemüht sich, eindeutige Schuldzuweisungen zu vermeiden. Sie beschreibt diese Veränderungen und verstößt dabei gegen das Verbot, über deren Opfer zu sprechen.
Worauf kommt es Fang Fang in ihrem Werk an?
Mitgefühl mit diesen Menschen ist für sie ein elementares, ihre schriftstellerische Tätigkeit leitendes Empfinden. Es geht ihr weniger darum, mit dem Finger auf etwas oder irgendjemanden zu zeigen. Sie will bewusst machen, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die leiden, die diesen Prozessen einigermaßen wehrlos ausgesetzt sind und die teils durch politischen Druck und teils durch den Wunsch zum Vergessen heute überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Dass sie für das Mitfühlen angegriffen wird, ist etwas, worunter auch sie leidet. Das trifft sie sehr schwer. Sie erlebt, dass in solchen Prozessen niemand oder kaum noch Leute mit ihr mitfühlen. Das ist ja eine Erfahrung, die viele Leute in den letzten 50 oder 70 Jahren gemacht haben: In dem Moment, wo sie von offiziellen Stellen kritisiert oder angegriffen werden, wendet sich ihre Umgebung von ihnen ab und es gibt kein Mitgefühl mehr.
Michael Kahn-Ackermann ist Sinologe und Übersetzer. Seit 2012 ist er als China Special Representative für die Mercator-Stiftung tätig. Kahn-Ackermann war davor langjähriger Leiter des Goethe-Instituts in Peking und Gründungsdirektor des ersten Goethe-Instituts in China. Er lebt in Nanjing.
Die Pekinger Zentralregierung blickt mit Sorge auf Hongkong. Zwar hat sich die noch verbliebene politische Opposition so weit zurückgezogen, dass sie praktisch nicht mehr zu vernehmen ist. Doch autoritäre Regierungssysteme fürchten das Wiederaufflammen von gesellschaftlichem Dissens so sehr, dass sie dauerhaft große Teil ihres Geldes, ihres Personals und ihrer Aufmerksamkeit in den Erhalt des Status quo investieren.
Getrieben von der ständigen Sorge, Opfer von Verschwörung zu werden, steht die Stabilität des eigenen Regimes stets ganz oben auf der politischen Agenda. Die laufende Übergabe der Hongkonger Amtsgeschäfte von der Regierung Carrie Lams in die Hände des früheren Polizisten John Lee ist zudem eine heikle Zeit. Die neue Regierung, die am 1. Juli inthronisiert worden ist, muss sich ordnen, die Minister ihr Handeln aufeinander abstimmen und der Verwaltungsapparat unter neuer Führung reibungslos in Gang gehalten werden.
Entsprechend appellierte der Hongkong- und Macau-Beauftragte der Zentralregierung, Xia Baolong, am Montag an die neue Führungsriege, “wachsam zu bleiben”. Xia sprach bei einem Seminar in Peking, zu dem auch Funktionäre aus den früheren Kronkolonien zugeschaltet waren. “Wir müssen entschlossen gegen alle antichinesischen Kräfte vorgehen, die Hongkong und Macau destabilisieren, und dürfen dabei keine Risse hinterlassen”, sagte Xia. Diese Kräfte seien nicht tot. Ähnlich wie Hongkong war auch Macau bis 1999 ausländisch verwaltet, ehe es von Portugal an die Volksrepublik zurückgegeben worden war.
Eine Strategie, um mögliche “Risse” zu kitten, ist die Sinisierung des Bildungssystems. Im vergangenen Monat wurden neue Lehrbücher vorgestellt, die für die neue Hongkonger Staatsbürgerkunde an den Schulen der Stadt verwendet werden. Die Staatsbürgerkunde ist offiziell schon im Herbst vergangenen Jahres eingeführt worden und hat nun einen passenden Rahmen für die Vermittlung der Inhalte bekommen. Das Fach ersetzt die sogenannten Liberal Studies, ein multidisziplinärer Ansatz, der junge Menschen auf Laufbahnen in verschiedenen Sektoren vorbereitet und ihnen dabei kritisches Denken und systematische Problemlösung vermitteln sollte.
Mit dem Ende der Liberal Studies sei aus Hongkonger Klassenzimmern die Wurzel für viel Hass in der Hongkonger Gesellschaft verbannt worden, urteilten chinesische Staatsmedien. Das Fach sei dazu benutzt worden, die Regierung zu verleumden. Viele Lehrer hätten auf diesem Weg ihre giftigen politischen Ansichten in die Klassenzimmer getragen.
“Mit den Referenzmaterialien des Bildungsbüros müssen Lehrer an den Schulen nicht zu viele andere Inhalte einbringen”, sagte Tang Fei, Vizepräsident der Hongkonger Lehrer-Gewerkschaft HKFEW, die als Interessenvertretung der Pekinger Zentrale gilt, zur chinesischen Tageszeitung Global Times. Die HKFEW ist mit rund 42.000 Mitgliedern die größte Lehrervereinigung der Stadt, nachdem die jahrelang etablierte Hong Kong Professional Teachers’ Union (HKPTU) mit knapp 100.000 Mitgliedern im vergangenen Jahr aufgelöst worden war. Die HKPTU galt Peking wegen ihrer liberalen Positionen als Dorn im Auge und geriet nach Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes zunehmend unter Druck.
Die neuen Lehrbücher beschäftigen sich eingehend mit der jüngeren Geschichte Hongkongs. Unter anderem wird das sogenannte Basic Law analysiert, das als Mini-Verfassung der Stadt gilt. Auch das Prinzip “one country, two systems” ist wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Weiteres zentrales Element ist die Bedeutung der nationalen Sicherheit. In zwei Jahren wird die neue Staatsbürgerkunde erstmals Prüfungsfach an den Mittelschulen sein.
Der Trend zu pro-chinesischen Bildungsinhalten in Hongkong ist nicht neu und war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, wie die Autoren Sonny Shi-Hing Lo und Chung Fun Steven Hung in ihrem Buch “The Politics of Education Reform in China’s Hong Kong” darstellen.
Die gesamte Bildungsreform in der Sonderverwaltungszone habe das Bildungssystem in einen Prozess gedrängt, durch den es dem System der Volksrepublik immer ähnlicher geworden sei. Der Schwerpunkt der Reform liege auf politischer “Korrektheit” im Verständnis der chinesischen nationalen Sicherheit, Geschichte und Kultur, resümieren die Autoren.
Der Reformprozess hat sich in den vergangenen Jahren stetig beschleunigt, eben weil der Widerstand der politischen Opposition wegen der verschärften Gesetzgebung seit einigen Jahren gebrochen ist. Patriotische Erziehung rückt immer mehr ins Zentrum der schulischen Bildung. Sie soll die Basis liefern, um das von Peking ausgerufene Ziel zu erreichen, die Stadt solle ausschließlich von Patrioten regiert und verwaltet werden. Vordergründig und auf höchsten Ebenen ist das bereits der Fall. Doch die Verwaltung besteht aus Abertausenden Beschäftigten auf unteren Ebenen, denen eine gewünschte politische Gesinnung zwar vorgebetet, deren staatstreue Umsetzung im Alltag jedoch kaum nachgeprüft werden kann.
Die neue Regierung wird mit großer Wahrscheinlichkeit konsequent an der patriotischen Erziehung des Nachwuchses arbeiten. Die neue Bildungsministerin Choi Yuk Lin scheint sinnbildlich für die Entschlossenheit zu stehen. Schon 2012 hatte Choi dem Bildungswesen ihren Stempel aufdrücken wollen, als sie vorschlug, Schulbücher sollten politische Mehr-Parteien-Systeme als Wurzel für Chaos und Unruhe darstellen. Damals war der Widerstand noch zu groß und die Zeit nicht reif. Zehn Jahre später ist Choi am Ziel.
China will einem Medienbericht zufolge die Veröffentlichung eines UN-Berichts zur Menschenrechtslage in Xinjiang verhindern. In einem Brief an Diplomaten in Genf sei gegen die Veröffentlichung des Berichts der UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, geworben worden, berichtete Reuters unter Berufung auf Einblick in das Schreiben. Das Vorgehen wurde demnach von Diplomaten aus drei Ländern bestätigt, die den Brief erhalten haben.
Laut Reuters-Informationen versucht China seit Ende Juni, Unterstützung für das Zurückhalten des Berichts zu sammeln. Mit dem Brief habe China um Zustimmung unter den diplomatischen Vertretungen in Genf geworben. Eine Veröffentlichung des Xinjiang-Berichts würde “die Politisierung und Blockkonfrontation im Bereich der Menschenrechte verstärken und die Glaubwürdigkeit des OHCHR (Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte) untergraben”, argumentiert der Brief.
Unklar war zunächst, ob das Büro von Bachelet den Brief auch erhalten hat. Ein OHCHR-Sprecher lehnte es ab, sich zu der Angelegenheit zu äußern. Es sei ihm zufolge jedoch gängige Praxis, vor Veröffentlichung eine Kopie des Berichtes mit der zuständigen Regierung, in diesem Fall also China, für Kommentare zu teilen. Menschenrechtsgruppen werfen Peking Misshandlungen der uigurischen Einwohner von Xinjiang vor, darunter den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeit in Internierungslagern. China weist die Vorwürfe zurück (China.Table berichtete). niw
Das US-Außenministerium hat in seinem Jahresbericht über Menschenhandel Zwangsarbeit in Chinas “Neuer Seidenstraße” angeprangert. Zwangsarbeit sei der “versteckte Preis” der “Belt and Road”- Initiative (BRI), so das Ministerium. In einigen Projekten der Neuen Seidenstraße komme es zu Vergehen wie:
Die zuständigen Behörden in China hätten demnach keine ausreichende Aufsicht über die Arbeitsbedingungen und würden Missbrauch nicht ausreichend verhindern. Die Auslandsbotschaften hätten es versäumt, ausgebeuteten Arbeitern zu helfen, so das Außenministerium. Das Ministerium sieht dabei auch die Regierungen der Gastländer, in denen BRI-Projekte durchgeführt werden, in der Pflicht. Sie sollten die BRI-Baustellen häufiger inspizieren und ausgebeutete Arbeiter besser schützen.
Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Neuen Seidenstraße sind nicht neu. Im vergangenen Jahr hatte das Business and Human Rights Resource Centre in einer Studie 679 Vorwürfe gegen China und seine Unternehmen zusammengetragen (China.Table berichtete). nib
Die US-Regierung ist optimistisch, dass auch verbündete Staaten und Handelspartner demnächst Gesetze zum Verbot von Importen aus Zwangsarbeit in Xinjiang verabschieden. Eine stellvertretende Staatssekretärin aus dem US-Arbeitsministerium habe mit ihren Amtskollegen aus der EU und Kanada gesprochen, wie die Länder eigene Regulierungen für Waren aus Zwangsarbeit umsetzen könnten, berichtet Reuters.
“Die Unternehmen zeichnet derzeit etwas aus, das ich als bewusste Ignoranz bezeichnen würde. Sie müssen es nicht wissen, also wissen sie es nicht”, sagte Thea Lee zu Kenntnissen über Zwangsarbeit in der Lieferkette. Der EU-Fokus auf die Entwicklung einer verbindlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen sei ein guter Ausgangspunkt. Auch Kanada und Mexiko arbeiten im Rahmen des trilateralen Handelsabkommens mit den USA auf einen “gemeinsamen nordamerikanischen Standard” zum Verbot von Waren aus Zwangsarbeit hin.
Der Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) der Vereinigten Staaten trat letzten Monat in Kraft, um die Einfuhr von Produkten aus Xinjiang zu unterbinden. Washington wirft China vor, einen Völkermord an ethnischen Uiguren und anderen Muslimen zu begehen und sie in Lagern zur Zwangsarbeit zu zwingen.
Das Gesetz sieht vor, dass Importeure nachweisen müssen, dass Waren oder Bestandteile von Produkten aus der Region nicht mit Zwangsarbeit hergestellt wurden (China.Table berichtete). Bis das nicht belegt ist, werden die Güter von den US-Zollbehörden festgesetzt. Was das für Folgen für die US-Wirtschaft haben wird, ist noch unklar. Möglich wäre etwa, dass die Versorgung der USA mit Solarmodulen gefährdet wird. Ein Großteil der Module wird in China hergestellt – es gibt Berichte, dass dabei auch Zwangsarbeit zum Einsatz kommt. Das Ziel, den US-Energiesektor bis 2035 zu dekarbonisieren wäre durch einen Import-Stopp gefährdet. Einige US-Gesetzgeber hatten bereits darauf hingewiesen, dass drei große chinesische Solarenergieunternehmen nicht auf der Liste verbotener Importeure geführt werden, obwohl es Anzeichen für Zwangsarbeit in ihren Lieferketten gibt. nib/fpe
Die Stadt Hongkong will positiv auf Covid-19 getestete Bürger in der Quarantäne elektronisch überwachen. Die Patienten können ihre Isolationszeit zwar zu Hause absitzen. Doch sie könnten dabei Ortungs-Armbänder tragen, kündigte Gesundheitsminister Lo Chung-mau am Montag an. Gleichzeitig soll die Corona-App nach dem Vorbild Festlandchinas künftig einen Gesundheitscode in Ampelfarben anzeigen, um Kontaktbeschränkungen “besser zu managen”.
Anders als im restlichen China verwendet Hongkong bisher keine Gesundheitscodes, mit der sich der eigene Gefährdungsstatus schnell nachweisen lässt. Zuletzt ist die täglich neu entdeckte Fallzahl in Hongkong jedoch wieder auf über 2.500 gestiegen, nachdem sie im Mai auf unter 100 gesunken war. Hongkongs Regierung steht unter Druck, die Infektionsketten wieder unter Kontrolle zu bekommen. Lo versprach, dass das System nicht die Bewegungen der Bürger aufzeichnen werde. Er schloss es zudem aus, dass die Polizei Codes künftig auf Rot stellt, um Versammlungen aufzulösen. fin
Ihre Karriere als China-Expertin beginnt mit einem Kung-Fu-Kurs. Da ist Antonia Hmaidi gerade einmal fünfzehn Jahre alt, aber schon Abiturientin in Schwäbisch-Hall. Die Hochbegabte hat vier Klassen übersprungen. Studieren will sie noch nicht. Denn trotz der rasanten Schullaufbahn hat sie erst einmal genug von Zahlen und Buchstaben. “Ich bin ein Abenteurertyp”, sagt die 29-Jährige auch heute.
Kampfsport betreibt sie schon seit ihrer frühen Kindheit. Dann reizt es sie, nach der Schule für drei Monate eine Kung-Fu-Schule in China zu besuchen. Die örtliche Bürgerstiftung und Unternehmen helfen bei der Finanzierung. Als sie zurückkommt, nimmt sie in Bochum ihr Studium ostasiatischer Wirtschaft und Politik auf. “Ich bin kein glühender Anhänger der chinesischen Kultur”, sagt sie. “Aber die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge interessieren mich seit meinem ersten Chinabesuch in der Kung-Fu-Schule.”
In Bochum macht sie ihren Bachelor, studiert ein Jahr in Peking und absolviert ihren Master in Internationalen Beziehungen in Genf samt Studienaufenthalt in Neu-Delhi. Die Erfahrungen im Ausland genießt sie. Peking empfindet sie als aufregend. “Man hatte den Eindruck, das Land öffne sich.” Doch das hat sich nicht bewahrheitet. “Damals durften Chinesen noch von der offiziellen Parteilinie abweichen. Das findet man heute kaum mehr”, sagt Hmaidi.
Sie forscht nach ihrer akademischen Karriere, unter anderem für die Bertelsmann Stiftung und lehrt an der Uni Duisburg-Essen. Ein Schwerpunkt: Chinas repressive Sozialkredit-Systeme. Dass Chinas Regierung auch gegenüber Ausländern Druck ausübt, muss sie 2018 erfahren. Im Rahmen eines Vortrags vor dem Chaos Computer Club (CCC) kritisiert sie das Vorgehen der Regierung gegen die Minderheit der Uiguren. “Bekannte aus dem Kultusministerium haben mir anschließend zu verstehen gegeben, dass ich nun besser nicht mehr nach China einreise”, erzählt sie. “Das hat mich überrascht. Ich dachte, ich sei zu unwichtig.”
Seither hat sich Ihre Arbeit verändert. “Meine Forschungen sind ausschließlich datengetrieben”, sagt sie. Der Austausch mit Kollegen in China ist zu riskant. Selbst per Videokonferenz geht nichts. “Ich wüsste nie, ob mein Gesprächspartner die Wahrheit sagt, und wenn er es tut, bringt er sich damit womöglich in Gefahr. Das will ich nicht verantworten”, sagt sie.
Seit Juni dieses Jahres ist Hmaidi in Berlin am Mercator Institut für China-Studien (Merics) angestellt. Hier beschäftigt sie sich unter anderem mit Chinas Streben nach technischer Eigenständigkeit, vor allem mit der Halbleiterproduktion des Landes. “Halbleiter sind ein Schlüssel zur Macht, zum Beispiel wegen ihrer Verwendung in Waffensystemen”, sagt sie.
Sie erforscht zudem Chinas Desinformations- und Hacking-Kampagnen. Das nötige technische Know-how hat sie sich selbst beigebracht. Seit Jahren ist sie Mitglied im CCC. Sie kann Server aufsetzen, Datenbanken installieren und programmieren.
Mit ihrer neuen Stelle verknüpft sie nach ihren vielen Reisen nun Sesshaftigkeit. Sie will in Berlin bleiben. “Das ist jetzt erstmal meine Heimat.” Andreas Schulte
ihr Tagebuch aus einer abgeriegelten Stadt machte Fang Fang weltberühmt – und in ihrer Heimat geächtet. Dabei hatte die Schriftstellerin schon vor dem “Wuhan Diary” lebensechte Geschichten aus dem chinesischen Alltag geschildert. Im Mittelpunkt ihrer Geschichten stehe dabei immer das Mitgefühl und Empathie für Menschen, die sonst keine Stimme haben, erzählt Fang Fangs Übersetzer Michael Kahn-Ackermann im Interview mit Ning Wang. Fang Fangs neuer Roman “Wütendes Feuer” ist erneut ein Spiegel der chinesischen Gesellschaft. Angesiedelt in den 1990er-Jahren schildert er die epochalen Umbrüche, die das Land und die Führungspartei bis heute prägen.
Dass die Darstellung schmerzhafter Realitäten in China durch Literaten unerwünscht ist, zählt zu den großen Tragödien der Volksrepublik. Und es offenbart die Angst des chinesischen Staates vor der Wahrheit. Denn sie steut Salz in die Wunden eines Systems, das sich als unverwundbar darstellt. Die Geschichten, die verborgen bleiben, weil die Kommunistische Partei sie nicht hören will, haben das Potenzial, das Verständnis vom Land von außen betrachtet deutlich zu erhöhen. Wenn sie uns nur erreichen würden.
Der ewige Vorwurf der Partei an ihre Kritiker lautet: Ihr versteht China nicht! Das ist entlarvend. Denn wer Teile der Wahrheit unterdrückt und andere des Missverstehens anklagt, der spielt ein falsches Spiel.
Der Zeitrahmen von “Wütendes Feuer” sind die 1990er-Jahre. Was hat sich seitdem in China verändert?
Zunächst muss man fragen, wo hat sich was geändert? Dieser Roman spielt in einem Dorf, vermutlich in der Provinz Hubei, und die Veränderungen, die sich auf dem Land abspielen, sind teilweise andere als die, die sich in den Städten in den letzten 20 bis 30 Jahren abgespielt haben. Wenn man strikt bei diesem Dorf bleibt, dann muss man sagen, dass sich wahrscheinlich an vielen Orten gar nicht so wahnsinnig viel verändert hat. Wie der Fall der verkauften und zu Hause angeketteten Frau gezeigt hat, der ja in den chinesischen sozialen Medien einen unglaublichen Widerhall gefunden hat. (In der Provinz wurde im Februar der Fall einer Frau bekannt, die in jungen Jahren entführt, verkauft und dann mehr als 18 Jahre lang angekettet gelebt hat – Anmerkung d. Redaktion.)
Ist die Reaktion so emotional gewesen, weil durch den Fall Erinnerungen aus den eigenen Familien hochkamen?
Der Fall hat gezeigt, dass die Entführung von jungen Mädchen und Frauen und ihr Verkauf an Familien in weniger entwickelten ländlichen Gebieten nach wie vor floriert. Und dass die Behörden kein offensives Verhältnis dazu einnehmen, sondern ein sehr defensives. Das heißt, sie versuchen solche Informationen möglichst zu vertuschen und das Ganze nicht zum Thema einer öffentlichen Debatte werden zu lassen. Aber es war seit langem bekannt, dass es Frauenhandel innerhalb Chinas gibt und dass man auf junge Mädchen aufpassen muss, damit sie auf dem Land und zum Teil auch in den Städten nicht entführt werden. Angesichts solcher Geschehnisse muss man sagen, dass es durchaus sein kann, dass sich in dem Dorf, in dem die Geschichte dieses Romans spielt, gar nicht so viel gewandelt hat. Was die soziale Struktur betrifft, was den Umgang zwischen den männlichen und weiblichen Familienmitgliedern betrifft und was die Lebensverhältnisse betrifft.
Aber die Menschen in China führen doch ein sehr gutes Leben, verglichen zu vielen anderen Ländern.
Global oder national gesehen ist die Veränderung natürlich immens. Doch zugleich haben sich die Unterschiede der Lebensbedingungen zwischen den großen Städten vor allem im Osten und Süden des Landes und den ländlichen Regionen weiter verschärft, sie sind heute noch unterschiedlicher als damals in den 90er-Jahren. Auch die Lebensgewohnheiten sind weiter entfernt voneinander als damals.
Ist “Wütendes Feuer” eine Kritik an den Verhältnissen?
Ich verstehe den Roman gar nicht so sehr als eine Kritik, sondern als die Beschreibung der Verhältnisse in einem für China sehr wichtigen Teil des Landes, nämlich den ländlichen Regionen, in einer epochalen Umbruchszeit, in der mehr oder weniger alles durcheinander gerät. Also die sozialen Strukturen, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die moralischen Vorstellungen, die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen, die Sehnsüchte der jungen Generation.
Was Fang Fang da anprangert, gibt es also noch heute?
Ich glaube, dass dieser Prozess, den Fang Fang da beschreibt, bis in die Gegenwart andauert. Auch wenn sich viel verändert hat, ist dieser Umbruch der Verhältnisse, die Schwierigkeit sich in einer extrem widersprüchlichen Gegenwart zurechtzufinden, das eigentliche Thema dieses Romans. Am Beispiel einer jungen Frau, die in dieser Spannung steht, die etwas möchte, was ihre Eltern sich gar nicht vorstellen können und dabei an den festgefügten Familien-, Moral- und Sozialstrukturen scheitert.
Das Buch ist weniger eine Kritik – die ist implizit auch immer enthalten – als vielmehr eine ziemlich genaue Beschreibung einer sozialen Revolution, die wir hier als Revolution nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie nicht von einer politischen Revolution begleitet wird. Das politische System ist das Gleiche geblieben. Aber sämtliche sozialen Verhältnisse haben sich über einen relativ kurzen Zeitraum revolutionär verändert.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Werken “Wuhan Diary”, “Weiches Begräbnis” und “Wütendes Feuer” von Fang Fang?
Es gibt die Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Haltung der Autorin, die Partei für all jene ergreift, die nicht im Scheinwerferlicht stehen, die Opfer dieser Veränderungen werden. Deren Schicksal aus politischen Gründen verschwiegen wird. Aber auch aus der fehlenden Bereitschaft der Eltern- und Großelterngenerationen über diese Zeit zu erzählen. Neben den massiven politischen Tabus, die sich in der schulischen Erziehung, in den Medien, in den Publikationen ja auch überall manifestieren, gibt es natürlich das gleiche Phänomen, das wir Deutsche, vor allem meine Generation, gut kennen: eine Elterngeneration, die über ihre Erfahrungen nicht sprechen möchte.
Insofern findet eigentlich eine Aufarbeitung so gut wie nicht statt – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmefällen. Öffentlich findet sie schon gar nicht statt, sie wird unterbunden, soweit das irgendwie möglich ist. Und in diese Leerstelle bricht Fang Fangs Literatur, wie auch die Literatur einiger anderer Autoren, ein. Aber es sind nicht sehr viele, die sich dieser vergessenen Schicksale der letzten 70 Jahre annehmen.
Kann Fang Fang auch nach dem “Wuhan Diary” noch in China veröffentlichen?
Es gibt kein offiziell verkündetes Schreibverbot. Das ist nirgendwo schriftlich fixiert, aber faktisch wagt kein einziger Verlag, eine Zeile von ihr zu veröffentlichen, keine Zeitung wagt ein Interview mit ihr zu machen. Damit hat sie faktisch ein Schreibverbot.
Wissen Sie, wie es ihr geht?
Ich habe vor Kurzem mit ihr Kontakt gehabt, das geht derzeit ja nur per Wechat. Es geht ihr, obwohl sie es nicht offen ausspricht, sicherlich nicht sehr gut. Sie wird nach wie vor als Vaterlandsverräterin behandelt. Auch wenn das offiziell nicht ausgesprochen wird.
Mit einer Rehabilitierung ist also nicht zu rechnen?
So lange die ganze Null-Covid-Kampagne anhält und weitergeführt werden muss, wird sie in keiner Weise rehabilitiert werden.
Die junge Protagonistin von “Wütendes Feuer” zündet am Ende ihren übergriffigen Ehemann an. Ist das auch eine Kritik an einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist?
Was an dem Roman auffällt ist, dass darin die Partei gar nicht und staatliche Institutionen kaum vorkommen. Ich glaube, das ist sehr realistisch. Für diesen bäuerlichen Alltag und für das Privatleben der Personen spielen diese eine eher zu vernachlässigende Rolle. Es zeigt sich gerade in diesem Roman, dass die traditionellen familiären Strukturen, die Clan-Strukturen, im Alltag mächtiger sind als die offiziellen staatlichen Strukturen, die ja die Gleichberechtigung von Männern und Frauen immer als ein politisches Ziel vor sich hertragen.
Ich habe den Eindruck, ohne es je mit ihr diskutiert zu haben, dass sie solche gesellschaftlichen Prozesse als etwas Irreversibles betrachtet, also als etwas, das wie ein Naturereignis die Personen ergreift und in alle möglichen und unmöglichen Situationen bringt. Fang Fang bemüht sich, eindeutige Schuldzuweisungen zu vermeiden. Sie beschreibt diese Veränderungen und verstößt dabei gegen das Verbot, über deren Opfer zu sprechen.
Worauf kommt es Fang Fang in ihrem Werk an?
Mitgefühl mit diesen Menschen ist für sie ein elementares, ihre schriftstellerische Tätigkeit leitendes Empfinden. Es geht ihr weniger darum, mit dem Finger auf etwas oder irgendjemanden zu zeigen. Sie will bewusst machen, dass es große Teile der Bevölkerung gibt, die leiden, die diesen Prozessen einigermaßen wehrlos ausgesetzt sind und die teils durch politischen Druck und teils durch den Wunsch zum Vergessen heute überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden. Dass sie für das Mitfühlen angegriffen wird, ist etwas, worunter auch sie leidet. Das trifft sie sehr schwer. Sie erlebt, dass in solchen Prozessen niemand oder kaum noch Leute mit ihr mitfühlen. Das ist ja eine Erfahrung, die viele Leute in den letzten 50 oder 70 Jahren gemacht haben: In dem Moment, wo sie von offiziellen Stellen kritisiert oder angegriffen werden, wendet sich ihre Umgebung von ihnen ab und es gibt kein Mitgefühl mehr.
Michael Kahn-Ackermann ist Sinologe und Übersetzer. Seit 2012 ist er als China Special Representative für die Mercator-Stiftung tätig. Kahn-Ackermann war davor langjähriger Leiter des Goethe-Instituts in Peking und Gründungsdirektor des ersten Goethe-Instituts in China. Er lebt in Nanjing.
Die Pekinger Zentralregierung blickt mit Sorge auf Hongkong. Zwar hat sich die noch verbliebene politische Opposition so weit zurückgezogen, dass sie praktisch nicht mehr zu vernehmen ist. Doch autoritäre Regierungssysteme fürchten das Wiederaufflammen von gesellschaftlichem Dissens so sehr, dass sie dauerhaft große Teil ihres Geldes, ihres Personals und ihrer Aufmerksamkeit in den Erhalt des Status quo investieren.
Getrieben von der ständigen Sorge, Opfer von Verschwörung zu werden, steht die Stabilität des eigenen Regimes stets ganz oben auf der politischen Agenda. Die laufende Übergabe der Hongkonger Amtsgeschäfte von der Regierung Carrie Lams in die Hände des früheren Polizisten John Lee ist zudem eine heikle Zeit. Die neue Regierung, die am 1. Juli inthronisiert worden ist, muss sich ordnen, die Minister ihr Handeln aufeinander abstimmen und der Verwaltungsapparat unter neuer Führung reibungslos in Gang gehalten werden.
Entsprechend appellierte der Hongkong- und Macau-Beauftragte der Zentralregierung, Xia Baolong, am Montag an die neue Führungsriege, “wachsam zu bleiben”. Xia sprach bei einem Seminar in Peking, zu dem auch Funktionäre aus den früheren Kronkolonien zugeschaltet waren. “Wir müssen entschlossen gegen alle antichinesischen Kräfte vorgehen, die Hongkong und Macau destabilisieren, und dürfen dabei keine Risse hinterlassen”, sagte Xia. Diese Kräfte seien nicht tot. Ähnlich wie Hongkong war auch Macau bis 1999 ausländisch verwaltet, ehe es von Portugal an die Volksrepublik zurückgegeben worden war.
Eine Strategie, um mögliche “Risse” zu kitten, ist die Sinisierung des Bildungssystems. Im vergangenen Monat wurden neue Lehrbücher vorgestellt, die für die neue Hongkonger Staatsbürgerkunde an den Schulen der Stadt verwendet werden. Die Staatsbürgerkunde ist offiziell schon im Herbst vergangenen Jahres eingeführt worden und hat nun einen passenden Rahmen für die Vermittlung der Inhalte bekommen. Das Fach ersetzt die sogenannten Liberal Studies, ein multidisziplinärer Ansatz, der junge Menschen auf Laufbahnen in verschiedenen Sektoren vorbereitet und ihnen dabei kritisches Denken und systematische Problemlösung vermitteln sollte.
Mit dem Ende der Liberal Studies sei aus Hongkonger Klassenzimmern die Wurzel für viel Hass in der Hongkonger Gesellschaft verbannt worden, urteilten chinesische Staatsmedien. Das Fach sei dazu benutzt worden, die Regierung zu verleumden. Viele Lehrer hätten auf diesem Weg ihre giftigen politischen Ansichten in die Klassenzimmer getragen.
“Mit den Referenzmaterialien des Bildungsbüros müssen Lehrer an den Schulen nicht zu viele andere Inhalte einbringen”, sagte Tang Fei, Vizepräsident der Hongkonger Lehrer-Gewerkschaft HKFEW, die als Interessenvertretung der Pekinger Zentrale gilt, zur chinesischen Tageszeitung Global Times. Die HKFEW ist mit rund 42.000 Mitgliedern die größte Lehrervereinigung der Stadt, nachdem die jahrelang etablierte Hong Kong Professional Teachers’ Union (HKPTU) mit knapp 100.000 Mitgliedern im vergangenen Jahr aufgelöst worden war. Die HKPTU galt Peking wegen ihrer liberalen Positionen als Dorn im Auge und geriet nach Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes zunehmend unter Druck.
Die neuen Lehrbücher beschäftigen sich eingehend mit der jüngeren Geschichte Hongkongs. Unter anderem wird das sogenannte Basic Law analysiert, das als Mini-Verfassung der Stadt gilt. Auch das Prinzip “one country, two systems” ist wichtiger Bestandteil des Lehrplans. Weiteres zentrales Element ist die Bedeutung der nationalen Sicherheit. In zwei Jahren wird die neue Staatsbürgerkunde erstmals Prüfungsfach an den Mittelschulen sein.
Der Trend zu pro-chinesischen Bildungsinhalten in Hongkong ist nicht neu und war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, wie die Autoren Sonny Shi-Hing Lo und Chung Fun Steven Hung in ihrem Buch “The Politics of Education Reform in China’s Hong Kong” darstellen.
Die gesamte Bildungsreform in der Sonderverwaltungszone habe das Bildungssystem in einen Prozess gedrängt, durch den es dem System der Volksrepublik immer ähnlicher geworden sei. Der Schwerpunkt der Reform liege auf politischer “Korrektheit” im Verständnis der chinesischen nationalen Sicherheit, Geschichte und Kultur, resümieren die Autoren.
Der Reformprozess hat sich in den vergangenen Jahren stetig beschleunigt, eben weil der Widerstand der politischen Opposition wegen der verschärften Gesetzgebung seit einigen Jahren gebrochen ist. Patriotische Erziehung rückt immer mehr ins Zentrum der schulischen Bildung. Sie soll die Basis liefern, um das von Peking ausgerufene Ziel zu erreichen, die Stadt solle ausschließlich von Patrioten regiert und verwaltet werden. Vordergründig und auf höchsten Ebenen ist das bereits der Fall. Doch die Verwaltung besteht aus Abertausenden Beschäftigten auf unteren Ebenen, denen eine gewünschte politische Gesinnung zwar vorgebetet, deren staatstreue Umsetzung im Alltag jedoch kaum nachgeprüft werden kann.
Die neue Regierung wird mit großer Wahrscheinlichkeit konsequent an der patriotischen Erziehung des Nachwuchses arbeiten. Die neue Bildungsministerin Choi Yuk Lin scheint sinnbildlich für die Entschlossenheit zu stehen. Schon 2012 hatte Choi dem Bildungswesen ihren Stempel aufdrücken wollen, als sie vorschlug, Schulbücher sollten politische Mehr-Parteien-Systeme als Wurzel für Chaos und Unruhe darstellen. Damals war der Widerstand noch zu groß und die Zeit nicht reif. Zehn Jahre später ist Choi am Ziel.
China will einem Medienbericht zufolge die Veröffentlichung eines UN-Berichts zur Menschenrechtslage in Xinjiang verhindern. In einem Brief an Diplomaten in Genf sei gegen die Veröffentlichung des Berichts der UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, geworben worden, berichtete Reuters unter Berufung auf Einblick in das Schreiben. Das Vorgehen wurde demnach von Diplomaten aus drei Ländern bestätigt, die den Brief erhalten haben.
Laut Reuters-Informationen versucht China seit Ende Juni, Unterstützung für das Zurückhalten des Berichts zu sammeln. Mit dem Brief habe China um Zustimmung unter den diplomatischen Vertretungen in Genf geworben. Eine Veröffentlichung des Xinjiang-Berichts würde “die Politisierung und Blockkonfrontation im Bereich der Menschenrechte verstärken und die Glaubwürdigkeit des OHCHR (Amt der Hohen Kommissarin für Menschenrechte) untergraben”, argumentiert der Brief.
Unklar war zunächst, ob das Büro von Bachelet den Brief auch erhalten hat. Ein OHCHR-Sprecher lehnte es ab, sich zu der Angelegenheit zu äußern. Es sei ihm zufolge jedoch gängige Praxis, vor Veröffentlichung eine Kopie des Berichtes mit der zuständigen Regierung, in diesem Fall also China, für Kommentare zu teilen. Menschenrechtsgruppen werfen Peking Misshandlungen der uigurischen Einwohner von Xinjiang vor, darunter den massenhaften Einsatz von Zwangsarbeit in Internierungslagern. China weist die Vorwürfe zurück (China.Table berichtete). niw
Das US-Außenministerium hat in seinem Jahresbericht über Menschenhandel Zwangsarbeit in Chinas “Neuer Seidenstraße” angeprangert. Zwangsarbeit sei der “versteckte Preis” der “Belt and Road”- Initiative (BRI), so das Ministerium. In einigen Projekten der Neuen Seidenstraße komme es zu Vergehen wie:
Die zuständigen Behörden in China hätten demnach keine ausreichende Aufsicht über die Arbeitsbedingungen und würden Missbrauch nicht ausreichend verhindern. Die Auslandsbotschaften hätten es versäumt, ausgebeuteten Arbeitern zu helfen, so das Außenministerium. Das Ministerium sieht dabei auch die Regierungen der Gastländer, in denen BRI-Projekte durchgeführt werden, in der Pflicht. Sie sollten die BRI-Baustellen häufiger inspizieren und ausgebeutete Arbeiter besser schützen.
Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Neuen Seidenstraße sind nicht neu. Im vergangenen Jahr hatte das Business and Human Rights Resource Centre in einer Studie 679 Vorwürfe gegen China und seine Unternehmen zusammengetragen (China.Table berichtete). nib
Die US-Regierung ist optimistisch, dass auch verbündete Staaten und Handelspartner demnächst Gesetze zum Verbot von Importen aus Zwangsarbeit in Xinjiang verabschieden. Eine stellvertretende Staatssekretärin aus dem US-Arbeitsministerium habe mit ihren Amtskollegen aus der EU und Kanada gesprochen, wie die Länder eigene Regulierungen für Waren aus Zwangsarbeit umsetzen könnten, berichtet Reuters.
“Die Unternehmen zeichnet derzeit etwas aus, das ich als bewusste Ignoranz bezeichnen würde. Sie müssen es nicht wissen, also wissen sie es nicht”, sagte Thea Lee zu Kenntnissen über Zwangsarbeit in der Lieferkette. Der EU-Fokus auf die Entwicklung einer verbindlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen sei ein guter Ausgangspunkt. Auch Kanada und Mexiko arbeiten im Rahmen des trilateralen Handelsabkommens mit den USA auf einen “gemeinsamen nordamerikanischen Standard” zum Verbot von Waren aus Zwangsarbeit hin.
Der Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) der Vereinigten Staaten trat letzten Monat in Kraft, um die Einfuhr von Produkten aus Xinjiang zu unterbinden. Washington wirft China vor, einen Völkermord an ethnischen Uiguren und anderen Muslimen zu begehen und sie in Lagern zur Zwangsarbeit zu zwingen.
Das Gesetz sieht vor, dass Importeure nachweisen müssen, dass Waren oder Bestandteile von Produkten aus der Region nicht mit Zwangsarbeit hergestellt wurden (China.Table berichtete). Bis das nicht belegt ist, werden die Güter von den US-Zollbehörden festgesetzt. Was das für Folgen für die US-Wirtschaft haben wird, ist noch unklar. Möglich wäre etwa, dass die Versorgung der USA mit Solarmodulen gefährdet wird. Ein Großteil der Module wird in China hergestellt – es gibt Berichte, dass dabei auch Zwangsarbeit zum Einsatz kommt. Das Ziel, den US-Energiesektor bis 2035 zu dekarbonisieren wäre durch einen Import-Stopp gefährdet. Einige US-Gesetzgeber hatten bereits darauf hingewiesen, dass drei große chinesische Solarenergieunternehmen nicht auf der Liste verbotener Importeure geführt werden, obwohl es Anzeichen für Zwangsarbeit in ihren Lieferketten gibt. nib/fpe
Die Stadt Hongkong will positiv auf Covid-19 getestete Bürger in der Quarantäne elektronisch überwachen. Die Patienten können ihre Isolationszeit zwar zu Hause absitzen. Doch sie könnten dabei Ortungs-Armbänder tragen, kündigte Gesundheitsminister Lo Chung-mau am Montag an. Gleichzeitig soll die Corona-App nach dem Vorbild Festlandchinas künftig einen Gesundheitscode in Ampelfarben anzeigen, um Kontaktbeschränkungen “besser zu managen”.
Anders als im restlichen China verwendet Hongkong bisher keine Gesundheitscodes, mit der sich der eigene Gefährdungsstatus schnell nachweisen lässt. Zuletzt ist die täglich neu entdeckte Fallzahl in Hongkong jedoch wieder auf über 2.500 gestiegen, nachdem sie im Mai auf unter 100 gesunken war. Hongkongs Regierung steht unter Druck, die Infektionsketten wieder unter Kontrolle zu bekommen. Lo versprach, dass das System nicht die Bewegungen der Bürger aufzeichnen werde. Er schloss es zudem aus, dass die Polizei Codes künftig auf Rot stellt, um Versammlungen aufzulösen. fin
Ihre Karriere als China-Expertin beginnt mit einem Kung-Fu-Kurs. Da ist Antonia Hmaidi gerade einmal fünfzehn Jahre alt, aber schon Abiturientin in Schwäbisch-Hall. Die Hochbegabte hat vier Klassen übersprungen. Studieren will sie noch nicht. Denn trotz der rasanten Schullaufbahn hat sie erst einmal genug von Zahlen und Buchstaben. “Ich bin ein Abenteurertyp”, sagt die 29-Jährige auch heute.
Kampfsport betreibt sie schon seit ihrer frühen Kindheit. Dann reizt es sie, nach der Schule für drei Monate eine Kung-Fu-Schule in China zu besuchen. Die örtliche Bürgerstiftung und Unternehmen helfen bei der Finanzierung. Als sie zurückkommt, nimmt sie in Bochum ihr Studium ostasiatischer Wirtschaft und Politik auf. “Ich bin kein glühender Anhänger der chinesischen Kultur”, sagt sie. “Aber die wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge interessieren mich seit meinem ersten Chinabesuch in der Kung-Fu-Schule.”
In Bochum macht sie ihren Bachelor, studiert ein Jahr in Peking und absolviert ihren Master in Internationalen Beziehungen in Genf samt Studienaufenthalt in Neu-Delhi. Die Erfahrungen im Ausland genießt sie. Peking empfindet sie als aufregend. “Man hatte den Eindruck, das Land öffne sich.” Doch das hat sich nicht bewahrheitet. “Damals durften Chinesen noch von der offiziellen Parteilinie abweichen. Das findet man heute kaum mehr”, sagt Hmaidi.
Sie forscht nach ihrer akademischen Karriere, unter anderem für die Bertelsmann Stiftung und lehrt an der Uni Duisburg-Essen. Ein Schwerpunkt: Chinas repressive Sozialkredit-Systeme. Dass Chinas Regierung auch gegenüber Ausländern Druck ausübt, muss sie 2018 erfahren. Im Rahmen eines Vortrags vor dem Chaos Computer Club (CCC) kritisiert sie das Vorgehen der Regierung gegen die Minderheit der Uiguren. “Bekannte aus dem Kultusministerium haben mir anschließend zu verstehen gegeben, dass ich nun besser nicht mehr nach China einreise”, erzählt sie. “Das hat mich überrascht. Ich dachte, ich sei zu unwichtig.”
Seither hat sich Ihre Arbeit verändert. “Meine Forschungen sind ausschließlich datengetrieben”, sagt sie. Der Austausch mit Kollegen in China ist zu riskant. Selbst per Videokonferenz geht nichts. “Ich wüsste nie, ob mein Gesprächspartner die Wahrheit sagt, und wenn er es tut, bringt er sich damit womöglich in Gefahr. Das will ich nicht verantworten”, sagt sie.
Seit Juni dieses Jahres ist Hmaidi in Berlin am Mercator Institut für China-Studien (Merics) angestellt. Hier beschäftigt sie sich unter anderem mit Chinas Streben nach technischer Eigenständigkeit, vor allem mit der Halbleiterproduktion des Landes. “Halbleiter sind ein Schlüssel zur Macht, zum Beispiel wegen ihrer Verwendung in Waffensystemen”, sagt sie.
Sie erforscht zudem Chinas Desinformations- und Hacking-Kampagnen. Das nötige technische Know-how hat sie sich selbst beigebracht. Seit Jahren ist sie Mitglied im CCC. Sie kann Server aufsetzen, Datenbanken installieren und programmieren.
Mit ihrer neuen Stelle verknüpft sie nach ihren vielen Reisen nun Sesshaftigkeit. Sie will in Berlin bleiben. “Das ist jetzt erstmal meine Heimat.” Andreas Schulte