Table.Briefing: China

Demografie + Tod eines Schülers

  • Yi Fuxian über Chinas Demografie-Falle
  • Bankier Bao Fan verschwunden
  • Kritik an EU-China-Menschenrechtsdialog
  • EU verbannt Tiktok von Dienstgeräten
  • Berlin fehlen Infos über Chinas Anteil im Mobilfunk
  • Hongkong verschärft Gesetz zu Anwälten
  • Uni-Professor nach Vortrag suspendiert
  • Blick aus China: Der Fall Hu Xinyu
Liebe Leserin, lieber Leser,

dass die Ein-Kind-Politik in China einen heftigen Eingriff dargestellt hat, ist unbestritten. Zwei Generationen mussten darauf verzichten, eine große Familie zu gründen. Nun dürfen Chinesen sogar wieder drei Kinder bekommen, tun es aber nicht. Die Geburtenrate ist extrem niedrig. China vergreist. Und das hat schwerwiegende Folgen, nicht nur für das Land, sondern auch für die Weltwirtschaft. Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch, sagt der Wissenschaftler Yi Fuxian im Interview mit Felix Lee. Die Aussichten seien düster. Und die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basiere auf fehlerhaften Daten.

Zahlen und Statistiken aus China gelten ohnehin als wenig vertrauenswürdig. Am wenigsten unter den Chinesen selbst. Das Misstrauen überträgt sich auch auf andere Aspekte des Regierungshandelns. So wie im Fall eines 15-jährigen Internatsschülers, der am 14. Oktober 2022 als vermisst gemeldet wurde. Sowohl die Schule als auch die örtliche Polizei erklärten, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach ihm zu suchen. Doch die Suche war vermutlich eher flüchtig. Drei Monate später fehlte von Hu Xinyu immer noch jede Spur.

Seine Eltern hatten im Internet schon früh vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet und um Hilfe gebeten. Doch erst eine schaurige Theorie verschaffte dem Fall landesweite Beachtung: Diese besagte, Hu sei möglicherweise das Opfer eines Untergrundnetzwerkes geworden, das Organe stiehlt und an Menschen verkauft, die eine Transplantation benötigen. Gerüchten zufolge seien örtliche Beamte und sogar Angehörige der Schule daran beteiligt gewesen.

Für diese erschreckende Theorie gab es zwar keine Beweise, doch die Netzgemeinde verbreitete sie munter weiter. Der Fall ist ein Beispiel für das gravierendes Problem, das sich die chinesische Regierung selbst zuzuschreiben hat: einen Mangel an Glaubwürdigkeit, heißt es heute bei unserem Blick aus China.

Ihr
Marcel Grzanna
Bild von Marcel  Grzanna

Analyse

“China wird die USA nie übertreffen”

Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.
Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.

Herr Yi, erstmals seit der großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war drohende Überbevölkerung der Grund, warum sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Angaben zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist der niedrigste Wert seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1,0 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber etwa 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. Das heißt: In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass Chinas Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie es nie ein Land erlebt hat.

Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen und können nicht völlig unerwartet sein?

Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der letzten Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte? 

Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raketenexperte Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das erschreckte die chinesische Führung. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro gebärfähiger Frau. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich ging mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er-Jahre die Fertilitätsrate bereits zurück und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss – sie war komplett falsch und völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die restriktive Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, hätte die Bevölkerung maximal einen Höchststand von 1,6 Milliarden erreicht und wäre dann zurückgegangen.

Wenn die Fertilitätsrate von selbst zurückgegangen wäre, hätte es das Problem der Vergreisung aber auch gegeben. 

Ja, aber nicht so abrupt. Um 2030 herum wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn Japan, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf vier Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. Im Jahr 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den Fortune Global 500, im Jahr 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie viel höhere Gesundheits- und Sozialausgaben eine alte Gesellschaft verschlingt.

Und was bedeutet eine solche Entwicklung konkret für China?

Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

Im Gegenteil. Die KP dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute. 

Seit 2016 ist es Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit dem vergangenen Jahr sind es drei. Die Fertilitätsrate geht dennoch weiter zurück. 

Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem aber die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern hat Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Das kostet aber. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind. 

Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

Was bedeutet diese Entwicklung für Chinas Ambitionen, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Das wird natürlich Jahrzehnte dauern.

Und Afrika mit seiner jungen Bevölkerung …

… steht eine große Zukunft bevor. Immer mehr Firmen werden Afrika entdecken und sich dort niederlassen.

Yi Fuxian leitet den Bereich Demografie mit Spezialisierung auf die Themen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Von ihm stammt das Buch “Big Country with an Empty Nest”, in dem er die chinesische Bevölkerungspolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

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News

Milliardär Bao Fan verschwunden

Eine weitere chinesische Wirtschaftspersönlichkeit ist unauffindbar. Diesmal handelt es sich um den Bankier Bao Fan 包凡. “Uns gelingt es nicht mehr, mit Herrn Bao Kontakt aufzunehmen”, teilte die Finanzgruppe China Renaissance am Freitag über die Börse Hongkong mit. Bao ist Gründer der Firma, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist. Ihr Akteinkurs stürzte am Freitag ab.

Der Staat bestellt chinesische Konzernchefs zuweilen zu Schulungen ein, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt jetzt im Gefängnis. Was mit Bao getan haben könnte, ist bislang unbekannt. fin

  • Fosun

EU äußert sich besorgt bei Menschenrechts-Dialog

Die EU und China haben sich erstmals wieder zu einem Austausch über Menschenrechtsangelegenheiten getroffen. Brüssel habe sich bei dem Treffen “ernsthaft besorgt” über

  • Beschränkungen der Grundfreiheiten,
  • Zwangsarbeit und
  • die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz in China

geäußert, wie der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) zu dem 38. Treffen des Menschenrechtsdialogs mitteilte. Die Seite der EU betonte demnach auch die “besonders prekäre Situation von Uiguren, Tibetern und Angehöriger religiöser, ethnischer und sprachlicher Minderheiten”. Die EU verwies nach eigenen Angaben auf den Bericht der ehemaligen Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, über die Menschenrechtslage in Xinjiang.

Zudem seien mehrere konkrete Fälle inhaftierter Aktivisten angesprochen worden, darunter der von Gui Minhai und Ilham Tohti, teilte der EEAS mit. China habe sich während des Treffens nach Angaben der europäischen Seite auf die Situation und Behandlung von Flüchtlingen und Migranten sowie Fremdenfeindlichkeit in der EU konzentriert. Der Menschenrechtsdialog war zuvor mehrere Jahre ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen hatten das Treffen wegen ihrer Ansicht nach fehlender nachhaltiger Ergebnisse vorab kritisiert. ari

  • EEAS
  • EU
  • Justiz
  • Menschenrechte

EU-Kommission verbietet Tiktok auf Diensthandys

Die EU-Kommission hat die Nutzung der chinesischen Video-App Tiktok auf Diensthandys für EU-Beamte und -Abgeordnete vorerst untersagt. Die Mitarbeiter haben am Donnerstag entsprechende Anweisungen erhalten, bestätigte Kommissionssprecherin Sonya Gospodinova. Das Verbot sei vorübergehend. Unter welchen Bedingungen es aufgehoben werde, erklärte sie aber nicht. Unklar blieb zudem, ob neue Erkenntnisse über Datenschutz- und Cybersicherheits-Probleme bei Tiktok zu der Entscheidung geführt haben. Es sei das erste Mal überhaupt, dass EU-Bedienstete angewiesen werden, eine App auf den Geräten nicht zu nutzen. Druck vonseiten der USA, diesen Schritt zu gehen, habe es nicht gegeben, betonte Kommissionssprecher Eric Mamer auf Nachfrage.

Über den Vorgang hatte zuerst Euractiv berichtet. Die EU-Angestellten und -abgeordneten wurden demnach in einer E-Mail dazu aufgefordert, die App, die zum chinesischen Bytedance-Konzern gehört, von den Dienstgeräten zu entfernen. Wer der Aufforderung nicht nachkommt, wird ab Mitte März von Angeboten wie dem internen E-Mail-Dienst der EU-Kommission abgeschnitten.

Diensthandys: Verbot der EU-Kommission trifft Tiktok unvorbereitet

“Um die Daten der Kommission zu schützen und die Cybersicherheit zu erhöhen, hat der Verwaltungsrat der Europäischen Kommission beschlossen, die Tiktok-App auf Firmengeräten und privaten Geräten, die bei den mobilen Diensten der Kommission angemeldet sind, zu sperren”, wird aus der E-Mail zitiert. Tiktok-Chef Shou Zi Chew hatte erst kürzlich in Brüssel für mehr Vertrauen für die App geworben. In den USA ist die Nutzung von Tiktok auf Diensthandys bereits für Angestellte von Bundesbehörden und Regierungsangestellte untersagt.

Tiktok traf der Schritt laut eigener Aussage unvorbereitet: “Wir sind überrascht, dass die Kommission uns weder direkt kontaktiert noch eine Erklärung angeboten hat”, teilte ein Sprecher mit. “Wir glauben, dass diese Aussetzung verfehlt ist und auf grundlegenden Missverständnissen beruht.” Es sei um ein Treffen gebeten worden, bei dem Tiktok nach eigenen Angaben klarstellen möchte, wie die Daten der App verwendet werden.

Umgang mit Tiktok in Bundesregierung unklar

In der Bundesregierung ist die Nutzung von Tiktok auf Diensttelefonen nicht wirklich geregelt. Der Überblick fehlt. In jedem Haus sind die jeweiligen IT-Sicherheitsbeauftragten dafür zuständig, dass Software nur dann eingesetzt werden darf, wenn sie die Vorgaben des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik und die Geheimschutzvorschriften einhält.

Ob das bei Tiktok allgemein der Fall ist oder nicht, will das Bundesministerium des Innern auf Anfrage nicht mitteilen. Allerdings, wie ein Sprecher erklärte: Aus dem BMI-internen Netzwerk werden Tiktok-Aufrufe unterbunden – auf Dienst-Smartphones ist die Installation der Software grundsätzlich gesperrt. “Der Administrator erhält eine Benachrichtigung über den möglichen Installationsversuch”, teilt der BMI-Sprecher mit. Zugleich nutzen Teile der Bundesregierung Tiktok auch selbst als Plattform, etwa das Gesundheitsministerium, das fast 150.000 Follower verzeichnet. fst/ari

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  • Technologie
  • Tiktok

Anteil chinesischer Komponenten in deutschen Netzen ist unbekannt

Die Bundesregierung hat nach eigenen Angaben keine vollständigen Informationen darüber, wie viel Hard- und Software von chinesischen Herstellern im deutschen Mobilfunk- und Festnetz verbaut sind. Dazu gebe es keine “abschließenden Informationen”, schrieb die Bundesregierung in einer am Mittwoch veröffentlichten Antwort auf eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag. Darin hatte sich die Fraktion nach dem Einfluss Chinas auf das 5G-Mobilfunknetz in Deutschland erkundigt.

Konkret haben die Unionspolitiker unter anderem nach dem Anteil von Komponenten chinesischer beziehungsweise anderer Hersteller in den Kern-, Zugangs- sowie Antennennetzen diverser Mobilfunknetzbetreiber sowie im deutschen Festnetz gefragt. Ein genereller Ausschluss eines Herstellers von Netzkomponenten vom Aufbau der 5G-Infrastruktur sei nicht vorgesehen, heißt es in der Antwort.

Auf die Frage nach dem Prozentanteil von Komponenten chinesischer Hersteller im Kernnetz des GSM-R-Netzes der Deutschen Bahn schreibt die Bundesregierung, es seien nur 2G-Technologien im Einsatz. Das Kernnetz stamme von keinem chinesischen Hersteller, im Zugangsnetz der DB AG stammten 40 Prozent der Komponenten von dem chinesischen Hersteller Huawei, heißt es in der Antwort weiter. ari

  • Huawei
  • Infrastruktur
  • Technologie
  • Telekommunikation

Hongkong will Einsatz von ausländischen Anwälten beschränken

Die Hongkonger Politik will weitere drastische Eingriffe in das immer weniger unabhängige Rechtssystem der Stadt vornehmen. Auf Geheiß aus Peking schlug das Justizministerium eine entsprechende Verschärfung der aktuellen Gesetzeslage vor. Demnach bliebe es künftig dem Regierungschef der Stadt vorbehalten, ausländische Anwälte in Prozesse bei Verstößen gegen das Nationale Sicherheitsgesetz zuzulassen oder abzulehnen.

Der Entwurf soll am 27. Februar in das Parlament der Stadt eingebracht werden. Grundlage des Entwurfs ist eine Rechtsauslegung des Ständigen Ausschusses von Chinas Nationalem Volkskongress im vergangenen Oktober. Peking hatte die Rechtsauslegung verfasst, nachdem der oppositionelle Hongkonger Verleger und Demokratie-Aktivist Jimmy Lai zu seiner Verteidigung den britischen Strafverteidiger Timothy Owen verpflichtet und das Oberste Gericht in Hongkong den Einspruch des Justizministeriums abgelehnt hatte. grz

  • Hongkong
  • Jimmy Lai
  • Justiz
  • Nationales Sicherheitsgesetz

Selbstkritik nach Uni-Vortrag

Die Pädagogische Hochschule Hefei in der Provinz Anhui hat einen außerordentlichen Professor nach einem mutmaßlich pro-westlichen Vortrag an einer Mittelschule suspendiert. Das berichtet das chinesische Nachrichtenportal The Paper (澎湃新闻).

Professor Chen Hongyou sagte dem Portal, er fühle sich schuldig, weil einige seiner Aussagen über Ethnien und Geschlechter missverstanden worden seien. Den genauen Inhalt seiner Rede zeichnete The Paper nicht nach. Chen selbst sagt, er habe die Absicht gehabt, die Schüler zu ermutigen, “ihr Schicksal zu ändern und auf die Breite der Gesellschaft und der Welt zuzugehen“.

Aufmerksamkeit in Sozialmedien erhielt der Fall, weil ein Videoausschnitt zeigte, wie ein junger Mann die Bühne betrat, Chen das Mikrofon entriss und diesem vorwarf, den Westen anzupreisen und sich ihm anzubiedern. “Wozu lernen wir hart? Für die große Verjüngung der chinesischen Nation”, brüllte er in Anlehnung an die politische Maxime von Präsident Xi Jinping. “Kreuzt euch nicht mit Amerikanern!“, forderte er die Schüler auf und erntete starken Applaus.

Die Pädagogische Hochschule suspendierte daraufhin Professor Chen, der nun in einer Selbstkritik eigene Fehler formulieren muss. Das Uni-Komitee der Kommunistischen Partei hat eine genaue Untersuchung des Vorfalls und mögliche Konsequenzen angekündigt. Chen hatte sich zuvor die Bezeichnung als herausragendes Mitglied der Kommunistischen Partei” erworben. Sein Lebenslauf wurden inzwischen von der Internetseite der Uni gelöscht. grz

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  • Meinungsfreiheit
  • Menschenrechte
  • Universitäten
  • Zivilgesellschaft

Standpunkt

Der Tod eines Schülers und das Misstrauen gegenüber den Behörden

Ein 15-jähriger Internatsschüler wurde am 14. Oktober 2022 als vermisst gemeldet. Sowohl die Schule als auch die örtliche Polizei in Qianshan in der ostchinesischen Provinz Jiangxi erklärten, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach ihm zu suchen. Doch die Suche war vermutlich eher flüchtig. Drei Monate später fehlte von Hu Xinyu immer noch jede Spur.

Seine Eltern hatten im Internet schon früh vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet und um Hilfe gebeten. Doch erst eine Verschwörungstheorie verschaffte dem Fall landesweite Beachtung: Diese besagte, Hu sei möglicherweise das Opfer eines Untergrundnetzwerkes geworden, das Organe stiehlt und an Menschen verkauft, die eine Transplantation benötigen. Gerüchten zufolge seien örtliche Beamte und sogar Angehörige der Schule daran beteiligt gewesen.

Für diese erschreckende Theorie gab es zwar keine Beweise, doch die Netzgemeinde verbreitete sie munter weiter.

Der Fall ist ein Beispiel für ein gravierendes Problem, das sich die chinesische Regierung selbst zuzuschreiben hat: einen Mangel an Glaubwürdigkeit.

In China sind an jeder Straßenecke Überwachungskameras installiert. Es scheint, als könne die Regierung jeden ausfindig machen und festnehmen, den die Behörden auch nur als ansatzweise gefährlich für die Regierung erachten. Wie konnte es sein, dass sie nicht in der Lage waren, einen Schüler zu finden? Die Öffentlichkeit spekulierte, dass die Behörden der Suche nach einem einfachen Schüler vom Lande einfach keine große Bedeutung zuschrieben, oder, schlimmer noch, dass in der Regierung etwas wirklich Übles im Gange sei.

Der Organhandel wurde beendet (oder nicht?)

China besitzt tatsächlich eine zweifelhafte Bilanz, was die Kontrolle von Organtransplantationen angeht. Der frühere stellvertretende Gesundheitsminister Huang Jiefu räumte ein, dass Kriminellen ohne ihre Zustimmung Organe für Transplantationen entnommen worden sind. Dieses Vorgehen sei jedoch im Jahr 2015 eingestellt worden. Seitdem stammten alle Organe von freiwilligen Spendern.

In der Öffentlichkeit herrscht jedoch weiter die Sorge, dass die Praktik weiter besteht. Wenn ein junger Mann vermisst wird, sagt immer irgendjemand, der arme Kerl sei vielleicht wegen seiner Leber oder Nieren abgeschlachtet worden.

Während die Aufmerksamkeit für den Fall Hu wuchs, heizte ein Artikel zum Gedenken an einen hochrangigen Regierungsbeamten im Ruhestand die Gerüchte über den Organdiebstahl weiter an. Gao Zhanxiang, ein ehemaliger stellvertretender Kulturminister, war im Dezember im Alter von 87 Jahren verstorben, kurz nachdem das Land die Corona-Maßnahmen aufgehoben hatte. Der Artikel lobte Gao für seine optimistische Lebenseinstellung, “obwohl er mehrere Transplantationen erhalten habe”.

Während die Gerüchteküche über Gao brodelte, wurden in den sozialen Medien alte Beiträge über den ehemaligen Finanzminister Jin Renqing ausgegraben. Jin, der im Jahr 2021 im Alter von 77 Jahren starb, soll ein Spenderherz erhalten haben. Das Organ stammte Berichten zufolge von einem 28-jährigen Mann.

Dass hochrangige Partei- und Regierungsbeamte eine erstklassige medizinische Versorgung genießen, ist in China kein Geheimnis. Der Großteil der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen des Landes geht an amtierende oder pensionierte Politiker und Bürokraten, die sich als Diener des Volkes gerieren. Doch die Vorstellung, dass die Mächtigen die Organe der Schwachen entwenden könnten, traf einen wunden Punkt.

Die Menschen glauben der Polizei nicht

Am 28. Januar wurde die Leiche von Hu schließlich in einem Hof nahe dem Schulgelände gefunden. Es hieß, er habe sich mit einem Schnürsenkel erhängt. Auf eine Pressekonferenz gab die Stadtverwaltung das abschließende Ermittlungsergebnis bekannt: Man ginge davon aus, dass Depressionen infolge des akademischen Drucks die Ursache für den Selbstmord waren. Als Beweis wurden Text- und Sprachnachrichten von Hu vorgelegt.

Diese Schlussfolgerung ließ die Fragen aber nicht verstummen. Kurz nach der Konferenz tauchten in den sozialen Medien Videos auf, die die offizielle Version infrage stellten und in denen die Stärke von Schnürsenkeln getestet wurden.

Hinzukam, dass die Familie von Hu nicht bei der Pressekonferenz anwesend war. Wie die meisten staatlichen Pressekonferenzen in China wirkte auch diese genaustens durchchoreografiert. Sämtliche Fragen schienen den kooperativen Journalisten im Voraus zugewiesen worden zu sein.

Li Lianying, Hus Mutter, galt als die Hauptstimme der Familie. Nach der Pressekonferenz wurden alle ihre Beiträge in den sozialen Medien ohne Angabe von Gründen gelöscht. Von Hus Familie und Mitschülern waren keine weiteren Kommentare zu hören, was wiederum Gerüchte aufkommen ließ, dass ihre Kommunikation mit der Außenwelt streng überwacht werde und die Familie möglicherweise sogar unter Hausarrest stehe.

Hus Familie wurde zum Schweigen gebracht

Auch das ist eine typische Vorgehensweise von Chinas Regierungen auf allen Ebenen, negative Vorfälle zu umgehen: Der Versuch, sie zu kontrollieren. Ihnen ist vermutlich bewusst, dass es innerhalb der Regierung gewisse Dinge gibt, die bei genauerem Hinsehen auffliegen würden. Daher versuchen sie instinktiv – in der Hoffnung, das Problem unauffällig zu lösen – die Dinge zu vertuschen. Ist das nicht möglich, beginnen sie, den Informationsfluss zu kontrollieren und alle zu überwachen, die sich gegen den Willen der Regierung äußern könnten.

Die Welt hat erlebt, wie die Regierung die Informationen über Covid sowohl zu Beginn des Ausbruchs der Krankheit als auch nach dem Ende der Pandemie gehandhabt hat.

Die Behörden gehen davon aus, dass die Menschen mit der Zeit und einem gewissen Grad an Überwachung das Interesse an negativen Vorfällen verlieren. Im besten Fall bricht ein aufsehenerregendes und für die Regierung unbedenkliches Ereignis wie ein Krieg oder ein Erdbeben irgendwo auf der Welt aus und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit ab. Geschieht dies nicht, könnte auch ein Skandal um einen chinesischen Filmstar oder Entertainer als Ablenkung inszeniert werden.

Dieser Ansatz funktioniert häufig. So ist die öffentliche Diskussion um den Fall Hu tatsächlich nach und nach verstummt. Aber viele Tragödien und die Art und Weise, wie die Regierung damit umgegangen ist, bleiben so manchem im Gedächtnis. Die Skepsis bleibt. Beim nächsten großen Vorfall wird sich das ganze Prozedere dann einfach wiederholen.

Die Glaubwürdigkeit der Regierung steht also immer im Zweifel. Außer in einem speziellen Fall: der nationalistischen Propaganda über Themen wie Taiwan oder irgendeinen heimtückischen Staat.

  • Bildung
  • Gesellschaft

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

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    • Bankier Bao Fan verschwunden
    • Kritik an EU-China-Menschenrechtsdialog
    • EU verbannt Tiktok von Dienstgeräten
    • Berlin fehlen Infos über Chinas Anteil im Mobilfunk
    • Hongkong verschärft Gesetz zu Anwälten
    • Uni-Professor nach Vortrag suspendiert
    • Blick aus China: Der Fall Hu Xinyu
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    dass die Ein-Kind-Politik in China einen heftigen Eingriff dargestellt hat, ist unbestritten. Zwei Generationen mussten darauf verzichten, eine große Familie zu gründen. Nun dürfen Chinesen sogar wieder drei Kinder bekommen, tun es aber nicht. Die Geburtenrate ist extrem niedrig. China vergreist. Und das hat schwerwiegende Folgen, nicht nur für das Land, sondern auch für die Weltwirtschaft. Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch, sagt der Wissenschaftler Yi Fuxian im Interview mit Felix Lee. Die Aussichten seien düster. Und die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basiere auf fehlerhaften Daten.

    Zahlen und Statistiken aus China gelten ohnehin als wenig vertrauenswürdig. Am wenigsten unter den Chinesen selbst. Das Misstrauen überträgt sich auch auf andere Aspekte des Regierungshandelns. So wie im Fall eines 15-jährigen Internatsschülers, der am 14. Oktober 2022 als vermisst gemeldet wurde. Sowohl die Schule als auch die örtliche Polizei erklärten, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach ihm zu suchen. Doch die Suche war vermutlich eher flüchtig. Drei Monate später fehlte von Hu Xinyu immer noch jede Spur.

    Seine Eltern hatten im Internet schon früh vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet und um Hilfe gebeten. Doch erst eine schaurige Theorie verschaffte dem Fall landesweite Beachtung: Diese besagte, Hu sei möglicherweise das Opfer eines Untergrundnetzwerkes geworden, das Organe stiehlt und an Menschen verkauft, die eine Transplantation benötigen. Gerüchten zufolge seien örtliche Beamte und sogar Angehörige der Schule daran beteiligt gewesen.

    Für diese erschreckende Theorie gab es zwar keine Beweise, doch die Netzgemeinde verbreitete sie munter weiter. Der Fall ist ein Beispiel für das gravierendes Problem, das sich die chinesische Regierung selbst zuzuschreiben hat: einen Mangel an Glaubwürdigkeit, heißt es heute bei unserem Blick aus China.

    Ihr
    Marcel Grzanna
    Bild von Marcel  Grzanna

    Analyse

    “China wird die USA nie übertreffen”

    Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.
    Yi Fuxian ist Experte für Demografie an der University of Wisconsin-Madison.

    Herr Yi, erstmals seit der großen Hungersnot von 1961 ist Chinas Bevölkerung im vergangenen Jahr geschrumpft, neun Jahre früher als prognostiziert. Ist das aus Sicht der kommunistischen Führung nicht ein Grund zum Feiern? Schließlich war drohende Überbevölkerung der Grund, warum sie 1980 die Ein-Kind-Politik einführte.

    Nein, überhaupt nicht. Die Zahl der Geburten ist offiziellen Angaben zufolge erstmals unter die Zehnmillionengrenze gefallen. Das ist der niedrigste Wert seit 1790. Damals lag die Einwohnerzahl aber bei rund 300 Millionen, heute sind es über eine Milliarde. Jede Frau im gebärfähigen Alter hat zuletzt im Schnitt nur noch 1,0 bis 1,1 Kinder zur Welt gebracht, nicht 1,8 – womit die Regierung gerechnet hatte. Pro Frau sind aber etwa 2,1 Kinder erforderlich, um die Einwohnerzahl eines Landes auf gleichem Niveau zu halten. Das heißt: In China wird jede Generation nur noch halb so groß sein wie die vorige. Und selbst diese niedrige Zahl ist geschönt. Ich gehe davon aus, dass Chinas Einwohnerzahl schon seit 2018 zurückgeht und die eigentliche Fertilitätsrate bei 0,8 liegt. China vergreist in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, wie es nie ein Land erlebt hat.

    Wenn die Bevölkerung neun Jahre früher als vorgesehen schrumpft, sind die Probleme doch nur vorgezogen und können nicht völlig unerwartet sein?

    Die Aussichten sind viel düsterer als erwartet. Die gesamte Wirtschafts-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik Chinas basierte auf fehlerhaften Daten. Alles muss nun neu ausgerichtet werden. Das zeigen auch die aktuellen Wirtschaftsdaten: Viele führen das geringere Wirtschaftswachstum auf die strengen Covid-Maßnahmen der letzten Jahre zurück. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die Wirtschaft wächst langsamer, weil die Bevölkerung schrumpft. Diese Entwicklung erleben wir auch in anderen Ländern. Anders jedoch als überalterte Industrieländer wie Japan oder Deutschland, hat China bei weitem noch nicht den notwendigen Wohlstand erreicht, um ein stabiles Sozialsystem aufgebaut zu haben. China altert, bevor es reich geworden ist.

    Aber waren die sozialen Verwerfungen nicht abzusehen, als China die Ein-Kind-Politik einführte? 

    Die Führung lag mit ihren Annahmen aus den Achtzigerjahren schlicht falsch. Der Gedanke damals war: China ist arm, für eine Milliarde Menschen gibt es nicht genug zu essen. Es kam zu Hungersnöten. Der Raketenexperte Song Jian sagte voraus, Chinas Bevölkerung würde bis 2080 mehr als 4,2 Milliarden Menschen zählen. Das erschreckte die chinesische Führung. Die Fertilitätsrate lag 1970 noch bei durchschnittlich 5,8 Kindern pro gebärfähiger Frau. Was die Führung damals nicht bedacht hatte: Mit steigender Bildung, besserem Gesundheitssystem und wachsendem Wohlstand geht die Fertilitätsrate von selbst zurück. Tatsächlich ging mit dem Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1970er-Jahre die Fertilitätsrate bereits zurück und lag 1979 nur noch bei durchschnittlich 2,75. Die Ein-Kind-Politik mitsamt ihren sozialen Verwerfungen – Zwangsabtreibungen, Männerüberschuss – sie war komplett falsch und völlig unnötig. Selbst wenn China 1980 die restriktive Ein-Kind-Politik nicht eingeführt hätte, hätte die Bevölkerung maximal einen Höchststand von 1,6 Milliarden erreicht und wäre dann zurückgegangen.

    Wenn die Fertilitätsrate von selbst zurückgegangen wäre, hätte es das Problem der Vergreisung aber auch gegeben. 

    Ja, aber nicht so abrupt. Um 2030 herum wird ein Drittel der Bevölkerung älter als 60 Jahre alt sein. Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung schrumpft bereits seit 2012. Wir sehen die Entwicklung am Nachbarn Japan, wo die Einwohnerzahl ebenfalls sinkt. Japans Anteil an den weltweiten Exporten des verarbeitenden Gewerbes ist von 16 Prozent im Jahr 1986 auf vier Prozent im Jahr 2021 zurückgegangen. Im Jahr 1995 zählten 149 japanische Unternehmen zu den Fortune Global 500, im Jahr 2022 nur noch 47. In Japan ist zudem zu beobachten, wie viel höhere Gesundheits- und Sozialausgaben eine alte Gesellschaft verschlingt.

    Und was bedeutet eine solche Entwicklung konkret für China?

    Universitäten und Hochschulen werden geschlossen, Chinas Innovation wird geschwächt. Schon jetzt fehlt es vielen Fabriken an Arbeitskräften. Chinas schrumpfende Erwerbsbevölkerung und die Rezession im verarbeitenden Gewerbe werden wiederum zu hohen Arbeitskosten führen. Damit steigen die Preise. Die zuletzt hohe Inflation in Europa und den USA könnte zum Teil bereits mit dem Rückgang der Erwerbsbevölkerung in China zusammenhängen. Mit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung werden zugleich auch die Inlandsnachfrage und die Importe aus dem Westen zurückgehen. Mit der fehlenden Nachfrage nach Eigenheimen könnte die ohnehin aufgeblähte Immobilienblase platzen und möglicherweise eine globale Finanzkrise auslösen, die schlimmere Auswirkungen hätte als die von 2008.

    Gefährdet diese Krise das Machtmonopol der kommunistischen Führung?

    Im Gegenteil. Die KP dürfte sich sicherer fühlen, weil es China an ausreichend jungen Menschen fehlen wird, um gegen die Regierung zu protestieren. Auf die Straße gehen vor allem junge Leute. 

    Seit 2016 ist es Paaren erlaubt, zwei Kinder zu bekommen, seit dem vergangenen Jahr sind es drei. Die Fertilitätsrate geht dennoch weiter zurück. 

    Ein Grund sind die hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere in den Metropolen. Vor allem aber die hohen Ausgaben für Bildung und Kindererziehung belasten viele junge Eltern stark. In allen ostasiatischen Ländern hat Bildung und Karriere heutzutage einen hohen Stellenwert. In China ist das aber besonders extrem. Alle wollen nur das Beste für ihr Kind. Das kostet aber. Deswegen entscheiden sich die meisten nur für ein Kind. 

    Vielleicht dauert es einfach etwas, bis ein Umdenken stattfindet und die Menschen wieder über mehr Kinder nachdenken.

    Ich bin da skeptisch. Die Ein-Kind-Politik hat den Blick der Chinesen auf Nachwuchs so fundamental verändert, dass die Idee, mehrere Kinder zu kriegen, vielen fremd ist. Zwei Generationen lang wurde ihnen vom Kindergarten an eingetrichtert, dass die Ein-Kind-Familie das Ideal darstellt. Die Menschen kennen nichts anderes als Einzelkinder.

    Was bedeutet diese Entwicklung für Chinas Ambitionen, zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen?

    Zwischen 2031 und 2035 wird China in allen demografischen Parametern schlechter abschneiden als die USA. Und je älter die Bevölkerung, desto langsamer wächst die Wirtschaft. Chinas Wirtschaftsleistung pro Kopf wird bis dahin aber weniger als 30 Prozent der US-Wirtschaftsleistung erreicht haben. Die Volksrepublik wird die Vereinigten Staaten wirtschaftlich also wahrscheinlich nie übertreffen. Indien hingegen hat China bereits bei der Zahl der Einwohner eingeholt und wird auch Chinas Wirtschaft und sogar die US-Wirtschaft überholen. Das wird natürlich Jahrzehnte dauern.

    Und Afrika mit seiner jungen Bevölkerung …

    … steht eine große Zukunft bevor. Immer mehr Firmen werden Afrika entdecken und sich dort niederlassen.

    Yi Fuxian leitet den Bereich Demografie mit Spezialisierung auf die Themen Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of Wisconsin-Madison in den USA. Von ihm stammt das Buch “Big Country with an Empty Nest”, in dem er die chinesische Bevölkerungspolitik kritisierte. Das Buch war auf dem chinesischen Festland bis 2013 verboten.

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    News

    Milliardär Bao Fan verschwunden

    Eine weitere chinesische Wirtschaftspersönlichkeit ist unauffindbar. Diesmal handelt es sich um den Bankier Bao Fan 包凡. “Uns gelingt es nicht mehr, mit Herrn Bao Kontakt aufzunehmen”, teilte die Finanzgruppe China Renaissance am Freitag über die Börse Hongkong mit. Bao ist Gründer der Firma, die vor allem im Investmentbanking und der Vermögensverwaltung tätig ist. Ihr Akteinkurs stürzte am Freitag ab.

    Der Staat bestellt chinesische Konzernchefs zuweilen zu Schulungen ein, wenn sie ihm zu mächtig oder aufmüpfig erscheinen. Zuletzt war vor zwei Jahren Jack Ma verschwunden, der Gründer von Alibaba. Davor waren bereits Guo Guangchang von Fosun oder Ren Zhiqiang von der Huayuan Real Estate Group zeitweilig unauffindbar. Ren hatte Xi Jinping wegen seiner Corona-Politik einen Clown genannt und sitzt jetzt im Gefängnis. Was mit Bao getan haben könnte, ist bislang unbekannt. fin

    • Fosun

    EU äußert sich besorgt bei Menschenrechts-Dialog

    Die EU und China haben sich erstmals wieder zu einem Austausch über Menschenrechtsangelegenheiten getroffen. Brüssel habe sich bei dem Treffen “ernsthaft besorgt” über

    • Beschränkungen der Grundfreiheiten,
    • Zwangsarbeit und
    • die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz in China

    geäußert, wie der Europäische Auswärtige Dienst (EEAS) zu dem 38. Treffen des Menschenrechtsdialogs mitteilte. Die Seite der EU betonte demnach auch die “besonders prekäre Situation von Uiguren, Tibetern und Angehöriger religiöser, ethnischer und sprachlicher Minderheiten”. Die EU verwies nach eigenen Angaben auf den Bericht der ehemaligen Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Michelle Bachelet, über die Menschenrechtslage in Xinjiang.

    Zudem seien mehrere konkrete Fälle inhaftierter Aktivisten angesprochen worden, darunter der von Gui Minhai und Ilham Tohti, teilte der EEAS mit. China habe sich während des Treffens nach Angaben der europäischen Seite auf die Situation und Behandlung von Flüchtlingen und Migranten sowie Fremdenfeindlichkeit in der EU konzentriert. Der Menschenrechtsdialog war zuvor mehrere Jahre ausgesetzt. Menschenrechtsorganisationen hatten das Treffen wegen ihrer Ansicht nach fehlender nachhaltiger Ergebnisse vorab kritisiert. ari

    • EEAS
    • EU
    • Justiz
    • Menschenrechte

    EU-Kommission verbietet Tiktok auf Diensthandys

    Die EU-Kommission hat die Nutzung der chinesischen Video-App Tiktok auf Diensthandys für EU-Beamte und -Abgeordnete vorerst untersagt. Die Mitarbeiter haben am Donnerstag entsprechende Anweisungen erhalten, bestätigte Kommissionssprecherin Sonya Gospodinova. Das Verbot sei vorübergehend. Unter welchen Bedingungen es aufgehoben werde, erklärte sie aber nicht. Unklar blieb zudem, ob neue Erkenntnisse über Datenschutz- und Cybersicherheits-Probleme bei Tiktok zu der Entscheidung geführt haben. Es sei das erste Mal überhaupt, dass EU-Bedienstete angewiesen werden, eine App auf den Geräten nicht zu nutzen. Druck vonseiten der USA, diesen Schritt zu gehen, habe es nicht gegeben, betonte Kommissionssprecher Eric Mamer auf Nachfrage.

    Über den Vorgang hatte zuerst Euractiv berichtet. Die EU-Angestellten und -abgeordneten wurden demnach in einer E-Mail dazu aufgefordert, die App, die zum chinesischen Bytedance-Konzern gehört, von den Dienstgeräten zu entfernen. Wer der Aufforderung nicht nachkommt, wird ab Mitte März von Angeboten wie dem internen E-Mail-Dienst der EU-Kommission abgeschnitten.

    Diensthandys: Verbot der EU-Kommission trifft Tiktok unvorbereitet

    “Um die Daten der Kommission zu schützen und die Cybersicherheit zu erhöhen, hat der Verwaltungsrat der Europäischen Kommission beschlossen, die Tiktok-App auf Firmengeräten und privaten Geräten, die bei den mobilen Diensten der Kommission angemeldet sind, zu sperren”, wird aus der E-Mail zitiert. Tiktok-Chef Shou Zi Chew hatte erst kürzlich in Brüssel für mehr Vertrauen für die App geworben. In den USA ist die Nutzung von Tiktok auf Diensthandys bereits für Angestellte von Bundesbehörden und Regierungsangestellte untersagt.

    Tiktok traf der Schritt laut eigener Aussage unvorbereitet: “Wir sind überrascht, dass die Kommission uns weder direkt kontaktiert noch eine Erklärung angeboten hat”, teilte ein Sprecher mit. “Wir glauben, dass diese Aussetzung verfehlt ist und auf grundlegenden Missverständnissen beruht.” Es sei um ein Treffen gebeten worden, bei dem Tiktok nach eigenen Angaben klarstellen möchte, wie die Daten der App verwendet werden.

    Umgang mit Tiktok in Bundesregierung unklar

    In der Bundesregierung ist die Nutzung von Tiktok auf Diensttelefonen nicht wirklich geregelt. Der Überblick fehlt. In jedem Haus sind die jeweiligen IT-Sicherheitsbeauftragten dafür zuständig, dass Software nur dann eingesetzt werden darf, wenn sie die Vorgaben des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik und die Geheimschutzvorschriften einhält.

    Ob das bei Tiktok allgemein der Fall ist oder nicht, will das Bundesministerium des Innern auf Anfrage nicht mitteilen. Allerdings, wie ein Sprecher erklärte: Aus dem BMI-internen Netzwerk werden Tiktok-Aufrufe unterbunden – auf Dienst-Smartphones ist die Installation der Software grundsätzlich gesperrt. “Der Administrator erhält eine Benachrichtigung über den möglichen Installationsversuch”, teilt der BMI-Sprecher mit. Zugleich nutzen Teile der Bundesregierung Tiktok auch selbst als Plattform, etwa das Gesundheitsministerium, das fast 150.000 Follower verzeichnet. fst/ari

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    Anteil chinesischer Komponenten in deutschen Netzen ist unbekannt

    Die Bundesregierung hat nach eigenen Angaben keine vollständigen Informationen darüber, wie viel Hard- und Software von chinesischen Herstellern im deutschen Mobilfunk- und Festnetz verbaut sind. Dazu gebe es keine “abschließenden Informationen”, schrieb die Bundesregierung in einer am Mittwoch veröffentlichten Antwort auf eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag. Darin hatte sich die Fraktion nach dem Einfluss Chinas auf das 5G-Mobilfunknetz in Deutschland erkundigt.

    Konkret haben die Unionspolitiker unter anderem nach dem Anteil von Komponenten chinesischer beziehungsweise anderer Hersteller in den Kern-, Zugangs- sowie Antennennetzen diverser Mobilfunknetzbetreiber sowie im deutschen Festnetz gefragt. Ein genereller Ausschluss eines Herstellers von Netzkomponenten vom Aufbau der 5G-Infrastruktur sei nicht vorgesehen, heißt es in der Antwort.

    Auf die Frage nach dem Prozentanteil von Komponenten chinesischer Hersteller im Kernnetz des GSM-R-Netzes der Deutschen Bahn schreibt die Bundesregierung, es seien nur 2G-Technologien im Einsatz. Das Kernnetz stamme von keinem chinesischen Hersteller, im Zugangsnetz der DB AG stammten 40 Prozent der Komponenten von dem chinesischen Hersteller Huawei, heißt es in der Antwort weiter. ari

    • Huawei
    • Infrastruktur
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    • Telekommunikation

    Hongkong will Einsatz von ausländischen Anwälten beschränken

    Die Hongkonger Politik will weitere drastische Eingriffe in das immer weniger unabhängige Rechtssystem der Stadt vornehmen. Auf Geheiß aus Peking schlug das Justizministerium eine entsprechende Verschärfung der aktuellen Gesetzeslage vor. Demnach bliebe es künftig dem Regierungschef der Stadt vorbehalten, ausländische Anwälte in Prozesse bei Verstößen gegen das Nationale Sicherheitsgesetz zuzulassen oder abzulehnen.

    Der Entwurf soll am 27. Februar in das Parlament der Stadt eingebracht werden. Grundlage des Entwurfs ist eine Rechtsauslegung des Ständigen Ausschusses von Chinas Nationalem Volkskongress im vergangenen Oktober. Peking hatte die Rechtsauslegung verfasst, nachdem der oppositionelle Hongkonger Verleger und Demokratie-Aktivist Jimmy Lai zu seiner Verteidigung den britischen Strafverteidiger Timothy Owen verpflichtet und das Oberste Gericht in Hongkong den Einspruch des Justizministeriums abgelehnt hatte. grz

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    Selbstkritik nach Uni-Vortrag

    Die Pädagogische Hochschule Hefei in der Provinz Anhui hat einen außerordentlichen Professor nach einem mutmaßlich pro-westlichen Vortrag an einer Mittelschule suspendiert. Das berichtet das chinesische Nachrichtenportal The Paper (澎湃新闻).

    Professor Chen Hongyou sagte dem Portal, er fühle sich schuldig, weil einige seiner Aussagen über Ethnien und Geschlechter missverstanden worden seien. Den genauen Inhalt seiner Rede zeichnete The Paper nicht nach. Chen selbst sagt, er habe die Absicht gehabt, die Schüler zu ermutigen, “ihr Schicksal zu ändern und auf die Breite der Gesellschaft und der Welt zuzugehen“.

    Aufmerksamkeit in Sozialmedien erhielt der Fall, weil ein Videoausschnitt zeigte, wie ein junger Mann die Bühne betrat, Chen das Mikrofon entriss und diesem vorwarf, den Westen anzupreisen und sich ihm anzubiedern. “Wozu lernen wir hart? Für die große Verjüngung der chinesischen Nation”, brüllte er in Anlehnung an die politische Maxime von Präsident Xi Jinping. “Kreuzt euch nicht mit Amerikanern!“, forderte er die Schüler auf und erntete starken Applaus.

    Die Pädagogische Hochschule suspendierte daraufhin Professor Chen, der nun in einer Selbstkritik eigene Fehler formulieren muss. Das Uni-Komitee der Kommunistischen Partei hat eine genaue Untersuchung des Vorfalls und mögliche Konsequenzen angekündigt. Chen hatte sich zuvor die Bezeichnung als herausragendes Mitglied der Kommunistischen Partei” erworben. Sein Lebenslauf wurden inzwischen von der Internetseite der Uni gelöscht. grz

    • Bildung
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    • Menschenrechte
    • Universitäten
    • Zivilgesellschaft

    Standpunkt

    Der Tod eines Schülers und das Misstrauen gegenüber den Behörden

    Ein 15-jähriger Internatsschüler wurde am 14. Oktober 2022 als vermisst gemeldet. Sowohl die Schule als auch die örtliche Polizei in Qianshan in der ostchinesischen Provinz Jiangxi erklärten, sie hätten alles in ihrer Macht Stehende getan, um nach ihm zu suchen. Doch die Suche war vermutlich eher flüchtig. Drei Monate später fehlte von Hu Xinyu immer noch jede Spur.

    Seine Eltern hatten im Internet schon früh vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet und um Hilfe gebeten. Doch erst eine Verschwörungstheorie verschaffte dem Fall landesweite Beachtung: Diese besagte, Hu sei möglicherweise das Opfer eines Untergrundnetzwerkes geworden, das Organe stiehlt und an Menschen verkauft, die eine Transplantation benötigen. Gerüchten zufolge seien örtliche Beamte und sogar Angehörige der Schule daran beteiligt gewesen.

    Für diese erschreckende Theorie gab es zwar keine Beweise, doch die Netzgemeinde verbreitete sie munter weiter.

    Der Fall ist ein Beispiel für ein gravierendes Problem, das sich die chinesische Regierung selbst zuzuschreiben hat: einen Mangel an Glaubwürdigkeit.

    In China sind an jeder Straßenecke Überwachungskameras installiert. Es scheint, als könne die Regierung jeden ausfindig machen und festnehmen, den die Behörden auch nur als ansatzweise gefährlich für die Regierung erachten. Wie konnte es sein, dass sie nicht in der Lage waren, einen Schüler zu finden? Die Öffentlichkeit spekulierte, dass die Behörden der Suche nach einem einfachen Schüler vom Lande einfach keine große Bedeutung zuschrieben, oder, schlimmer noch, dass in der Regierung etwas wirklich Übles im Gange sei.

    Der Organhandel wurde beendet (oder nicht?)

    China besitzt tatsächlich eine zweifelhafte Bilanz, was die Kontrolle von Organtransplantationen angeht. Der frühere stellvertretende Gesundheitsminister Huang Jiefu räumte ein, dass Kriminellen ohne ihre Zustimmung Organe für Transplantationen entnommen worden sind. Dieses Vorgehen sei jedoch im Jahr 2015 eingestellt worden. Seitdem stammten alle Organe von freiwilligen Spendern.

    In der Öffentlichkeit herrscht jedoch weiter die Sorge, dass die Praktik weiter besteht. Wenn ein junger Mann vermisst wird, sagt immer irgendjemand, der arme Kerl sei vielleicht wegen seiner Leber oder Nieren abgeschlachtet worden.

    Während die Aufmerksamkeit für den Fall Hu wuchs, heizte ein Artikel zum Gedenken an einen hochrangigen Regierungsbeamten im Ruhestand die Gerüchte über den Organdiebstahl weiter an. Gao Zhanxiang, ein ehemaliger stellvertretender Kulturminister, war im Dezember im Alter von 87 Jahren verstorben, kurz nachdem das Land die Corona-Maßnahmen aufgehoben hatte. Der Artikel lobte Gao für seine optimistische Lebenseinstellung, “obwohl er mehrere Transplantationen erhalten habe”.

    Während die Gerüchteküche über Gao brodelte, wurden in den sozialen Medien alte Beiträge über den ehemaligen Finanzminister Jin Renqing ausgegraben. Jin, der im Jahr 2021 im Alter von 77 Jahren starb, soll ein Spenderherz erhalten haben. Das Organ stammte Berichten zufolge von einem 28-jährigen Mann.

    Dass hochrangige Partei- und Regierungsbeamte eine erstklassige medizinische Versorgung genießen, ist in China kein Geheimnis. Der Großteil der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen des Landes geht an amtierende oder pensionierte Politiker und Bürokraten, die sich als Diener des Volkes gerieren. Doch die Vorstellung, dass die Mächtigen die Organe der Schwachen entwenden könnten, traf einen wunden Punkt.

    Die Menschen glauben der Polizei nicht

    Am 28. Januar wurde die Leiche von Hu schließlich in einem Hof nahe dem Schulgelände gefunden. Es hieß, er habe sich mit einem Schnürsenkel erhängt. Auf eine Pressekonferenz gab die Stadtverwaltung das abschließende Ermittlungsergebnis bekannt: Man ginge davon aus, dass Depressionen infolge des akademischen Drucks die Ursache für den Selbstmord waren. Als Beweis wurden Text- und Sprachnachrichten von Hu vorgelegt.

    Diese Schlussfolgerung ließ die Fragen aber nicht verstummen. Kurz nach der Konferenz tauchten in den sozialen Medien Videos auf, die die offizielle Version infrage stellten und in denen die Stärke von Schnürsenkeln getestet wurden.

    Hinzukam, dass die Familie von Hu nicht bei der Pressekonferenz anwesend war. Wie die meisten staatlichen Pressekonferenzen in China wirkte auch diese genaustens durchchoreografiert. Sämtliche Fragen schienen den kooperativen Journalisten im Voraus zugewiesen worden zu sein.

    Li Lianying, Hus Mutter, galt als die Hauptstimme der Familie. Nach der Pressekonferenz wurden alle ihre Beiträge in den sozialen Medien ohne Angabe von Gründen gelöscht. Von Hus Familie und Mitschülern waren keine weiteren Kommentare zu hören, was wiederum Gerüchte aufkommen ließ, dass ihre Kommunikation mit der Außenwelt streng überwacht werde und die Familie möglicherweise sogar unter Hausarrest stehe.

    Hus Familie wurde zum Schweigen gebracht

    Auch das ist eine typische Vorgehensweise von Chinas Regierungen auf allen Ebenen, negative Vorfälle zu umgehen: Der Versuch, sie zu kontrollieren. Ihnen ist vermutlich bewusst, dass es innerhalb der Regierung gewisse Dinge gibt, die bei genauerem Hinsehen auffliegen würden. Daher versuchen sie instinktiv – in der Hoffnung, das Problem unauffällig zu lösen – die Dinge zu vertuschen. Ist das nicht möglich, beginnen sie, den Informationsfluss zu kontrollieren und alle zu überwachen, die sich gegen den Willen der Regierung äußern könnten.

    Die Welt hat erlebt, wie die Regierung die Informationen über Covid sowohl zu Beginn des Ausbruchs der Krankheit als auch nach dem Ende der Pandemie gehandhabt hat.

    Die Behörden gehen davon aus, dass die Menschen mit der Zeit und einem gewissen Grad an Überwachung das Interesse an negativen Vorfällen verlieren. Im besten Fall bricht ein aufsehenerregendes und für die Regierung unbedenkliches Ereignis wie ein Krieg oder ein Erdbeben irgendwo auf der Welt aus und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit ab. Geschieht dies nicht, könnte auch ein Skandal um einen chinesischen Filmstar oder Entertainer als Ablenkung inszeniert werden.

    Dieser Ansatz funktioniert häufig. So ist die öffentliche Diskussion um den Fall Hu tatsächlich nach und nach verstummt. Aber viele Tragödien und die Art und Weise, wie die Regierung damit umgegangen ist, bleiben so manchem im Gedächtnis. Die Skepsis bleibt. Beim nächsten großen Vorfall wird sich das ganze Prozedere dann einfach wiederholen.

    Die Glaubwürdigkeit der Regierung steht also immer im Zweifel. Außer in einem speziellen Fall: der nationalistischen Propaganda über Themen wie Taiwan oder irgendeinen heimtückischen Staat.

    • Bildung
    • Gesellschaft

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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