in der internationalen Politik können kleine Ereignisse zu großen Problemen heranwachsen. Erst unterschätzt die Regierung von Litauen, wie ernst China schon kleine Provokationen mit Taiwan-Bezug nimmt. Nun herrscht Aufregung in der Autobranche und in der Bundesregierung. China verweigert die Einfuhr von Teilen des großen Zulieferers Continental, wenn sie Komponenten aus Litauen enthalten. Dort stellt Conti Elektronik für smarte Fahrzeuge her.
Peking rächt sich also am großen EU-Land Deutschland für die Kränkung durch das kleine EU-Land Litauen. Das war zu befürchten: China lässt keinen staatlichen Akt durchgehen, der auf Akzeptanz von Taiwan hindeutet. Da Litauen selbst sich von wirtschaftlichem Druck nur wenig beeindruckt zeigte, hat Peking den Vorgang auf eine andere Ebene gehoben.
Nun steht die Bundesregierung vor der schweren Aufgabe, eine angemessene Antwort zu formulieren. Einen Handels-Angriff auf Conti kann sie nicht einfach hinnehmen. Sie will aber auch nicht voreilig und ungeplant in eine Konfrontation mit China hineinrutschen. Für die wenig praxiserfahrenen Spitzen des Wirtschafts- und des Außenministeriums wird das ein erster Test ihrer Geschicklichkeit.
Trotz allen Ansprüchen an eine neue, durchsetzungsfähige China-Politik: Das Ziel sollte jetzt auch sein, die Autobranche in einer ohnehin schwierigen Lage vor der Eskalation einer Provinzposse zu schützen. Sie braucht ihre Kraft für die Transformation hin zu neuen Antriebsformen – gemeinsam, in allen Wirtschaftsräumen.
Was als Posse um einen baltischen Staat begonnen hat, wird zu einem handfesten Handelskonflikt zwischen Deutschland und China. Der Autozulieferer Continental und mindestens ein weiteres deutsches Unternehmen dürfen schon bald keine Teile mehr nach China einführen, die Vorprodukte aus Litauen enthalten. Das erfuhr China.Table aus Industriekreisen. Auch wenn die Akteure vordergründig noch versuchen, Ruhe auszustrahlen, ringen Wirtschaft und Politik hinter den Kulissen hektisch um die angemessene Reaktion. Es ist schließlich das erste Mal, dass Peking die deutsche Automobilbranche so direkt in einen Handelsstreit hineinzieht. Auslöser des Konflikts war die Gründung eines Taiwan-Büros in Vilnius (China.Table berichtete).
Verbände und Kammern suchen zudem derzeit nach den richtigen Formulierungen, um China zu kritisieren, ohne sich selbst zu sehr in die Schusslinie zu bringen. Offiziell kommentieren derzeit weder Conti noch die Regierungen die Berichte. VW teilte China.Table mit, man beobachte die Lage sehr genau.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) warf Peking ein “verheerendes Eigentor” vor (China.Table berichtete). “Die jüngsten Maßnahmen Chinas gegen Litauen entfalten die Wirkung eines Handelsboykotts mit Auswirkungen auf die ganze EU”, klagte der BDI in einer Botschaft in Richtung der chinesischen Regierung. “Betroffen sind auch Einfuhren aus China, die in deutschen Produktionsniederlassungen in Litauen benötigt werden, und Ausfuhren aus Deutschland nach China, die litauische Komponenten enthalten” Das Vorgehen zeige, dass China bereit sei, sich von “politisch unliebsamen Partnern ökonomisch zu entkoppeln”. Die Handelskammer in Peking wandte sich mit einer ähnlichen Argumentation in einem Brief an das chinesische Handelsministerium.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) beklagte die zunehmende Vermischung von Politik und Wirtschaft. “Zwischenstaatliche Differenzen sollten auf diplomatischem Wege geklärt und nicht auf dem Rücken der Wirtschaft ausgetragen werden”, so eine Sprecherin des VDA. Der Verband setze sich für internationale Kooperation und regelbasierten, freien Handel ein. “Grundsätzlich gilt: Jedes Handels- und Investitionsabkommen kann Abschottung und Konflikt vorbeugen.”
Die Attacke auf einen großen deutschen Autozulieferer zwingt nun auch die neue Bundesregierung dazu, gegenüber China Stellung zu beziehen. Es gibt also auch hier keine außenpolitische Schonfrist für die Ampelkoalition. Ein Lieferverbot für ein Großunternehmen wie Continental ist bereits der Testfall für den Umgang mit einem massiven Konflikt. Denn ein Auto besteht im Wesentlichen aus Teilen von Zulieferern. Wer einen großen Zulieferer trifft, trifft die gesamte Fahrzeugbranche. Auch wenn Conti in Litauen nur einen kleinen Teil seines Sortiments herstellt, könnte ein Mangel an diesen Teilen die ohnehin zerrütteten Lieferketten noch mehr durcheinanderbringen.
Die Wahl von Conti ist jedoch nicht nur handels-, sondern auch geopolitisch naheliegend für China. Der Hauptsitz des Unternehmens liegt in Hannover. In Niedersachsen regiert Stephan Weil von der SPD. Er steht ohnehin unter Druck, weil VW-Chef Herbert Diess den Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen am Heimatstandort ins Spiel gebracht hat. Im kommenden Jahr muss Weil sich Landtagswahlen stellen. Obwohl der niedersächsische Staat nur zwölf Prozent an VW hält, hat die Landesregierung traditionell einigen Einfluss auf den Konzern. Wenn China nun bei Conti ansetzt, könnte dahinter auch der Versuch stecken, auf die SPD Einfluss zu nehmen.
Ex-Kanzler Gerhard Schröder gehört ebenso zur Niedersachsen-SPD wie Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel. Nach chinesischem Blick auf Parteistrukturen handelt es sich hier um Granden ihrer Organisation, die erheblichen Einfluss auf Olaf Scholz haben sollten. Setzt man die SPD in Niedersachsen unter Druck, könnte das den amtierenden Bundeskanzler beeinflussen, könnte das Kalkül lauten. Aus Berliner Sicht ist die gegenteilige Wirkung jedoch mindestens genauso möglich: Der Druck von außen könnte die Bundesregierung zusammenschweißen. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck sitzen Scholz in den entscheidenden Ressorts ohnehin Befürworter von “Dialog und Härte” am Kabinettstisch gegenüber.
Theoretisch würde der EU nun eine Schlüsselrolle in der Beilegung des Konflikts zukommen. Die Bundesregierung will ihre Politik erklärtermaßen besser mit Brüssel und den Partnern auf europäischer Ebene abstimmen. Doch die EU-Kommission zeigt sich hilflos: Ein Mechanismus zur Reaktion auf wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen befindet sich im Aufbau, ist aber noch längst nicht fertig (China.Table berichtete).
Die Situation werde mit dem Druck auf EU-Unternehmen zunehmend komplizierter, sagte am Freitag der für Handel zuständige Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis. Seine Bemerkung fiel auf einer Veranstaltung des European Council on Foreign Relations, einer Denkfabrik. Thema war das geplante Handelsinstrument gegen wirtschaftliche Nötigung – also genau das Instrument, das jetzt nützlich wäre, aber noch fehlt. Es gebe eine “intensive Kontaktaufnahme” mit den chinesischen Behörden, so Dombrovskis.
Zudem werde mit den Litauern und auch mit Vertretern aus anderen EU-Ländern gesprochen, sagte Dombrovskis. Das “Anti-Coercion Instrument” (ACI) steht wegen des Litauen-Streits derzeit ganz oben auf der Tagesordnung. Bei diesem Instrument voranzukommen, sei auch ein wichtiger Punkt auf der Agenda der französischen EU-Ratspräsidentschaft, betonte Frankreichs Vize-Minister für Außenhandel, Franck Riester. Das Beispiel Litauens zeige sehr deutlich, dass die EU wehrhaft sein müsse, so Riester. “Wir unterstützen daher den Vorschlag der Kommission.”
In der aktuellen Situation seien die Optionen sehr begrenzt, gab der EU-Kommissar zu. Es bliebe nur der Gang zur Welthandelsorganisation – und das “nimmt eine Menge Zeit in Anspruch”. Mit dem ACI soll das beschleunigt werden. Welche Register Brüssel hypothetisch für den Litauen-China-Fall ziehen würde, wäre ACI bereits in Kraft, ließ Dombrovskis offen. Die Anwendung des Handelsinstruments müsse von Fall zu Fall konkret überprüft werden. Derzeit versuche die EU mit allen möglichen Mitteln zu reagieren, so der EU-Vize-Kommissionspräsident. Auch über diplomatische Wege. Die generelle Entwicklung der EU-China-Beziehungen sei durchaus besorgniserregend, so der Lette. Das, und auch Entwicklungen mit weiteren Drittstaaten wie Russland, unterstreichen ihm zufolge die Notwendigkeit des EU-Instruments gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen: “Deshalb müssen wir uns besser rüsten.”
Baltische Staaten seien wirtschaftliche Nötigung bereits gewöhnt, sagte Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis bei derselben Veranstaltung. Auch Russland bediene sich solcher Methoden. Was China betreffe, stehe man jedoch vor einem gänzlich neuem Phänomen. Worüber die Volksrepublik unzufrieden sei, und die Maßnahmen, die sie infolgedessen ergreife, stünden nicht in einem vernünftigen Verhältnis zueinander, so Landsbergis.
Rückenwind für die Schaffung robuster Handelsinstrumente kommt auch aus der deutschen Wirtschaft. Vor fünf Jahren wäre er noch gegen ein entsprechendes Handelsinstrument gewesen, sagte Wolfgang Niedermark vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Doch die regelbasierte Ordnung im Welthandel sei “kaputt”, so Niedermark. “Die unangenehme Wahrheit ist: Wir müssen damit jetzt leben.”
Wegen der mangelnden Handlungsfähigkeit der EU liegt es nun an Berlin, eine Reaktion zu formulieren. Es steht viel auf dem Spiel. Conti ist ein wichtiger Partner der deutschen Autohersteller. Einfuhrbeschränkung für wichtige Teile können die Produktion durcheinanderbringen, der wegen Omikron ohnehin neue Störungen drohen. Continental unterhält Lieferbeziehungen zur halben Fahrzeugbranche. Kurzfristig können die Autohersteller viele der nötigen Teile zwar aus anderen Quellen beziehen. Die Zulieferer selbst unterhalten meist Kapazitäten für das gleiche Teil an verschiedenen Standorten. Die Autofirmen wiederum beziehen identische Teile heute in vielen Fällen von mehreren Anbietern. Es gibt jedoch andererseits genug Beispiele dafür, wie nach kleinen Lieferausfällen bei den ganz großen Namen der Branche die Bänder stillstanden.
Conti ist in der Öffentlichkeit vor allem als Reifenhersteller bekannt, hat sich jedoch zu einem der größten Autozulieferer der Welt entwickelt. Mit 37 Milliarden Euro Umsatz ist das Unternehmen – je nach Zählweise – der weltweit drittgrößte Autozulieferer nach Bosch und dem Toyota-Partner Denso. Reifen gehören zwar immer noch zum Programm, doch in der Branche ist Conti inzwischen vor allem für Elektronik bekannt, die fürs intelligente Auto wichtig wird.
Der Autozulieferer hat in diesem Bereich seit 2018 gezielt in Litauen investiert, die Produktion läuft seit 2019. Erst in diesem Sommer gab es Unternehmen bekannt, den Standort in Kaunas erneut erweitern zu wollen. Bisher hat das Unternehmen 90 Millionen Euro in das Werk gesteckt. Jetzt sollen weitere 95 Millionen hinzukommen. Die Mitarbeiterzahl steigt dadurch von 1.000 auf 1.500. Das Unternehmen stellt dort Elektronikteile für Autos und Fahrassistenzsysteme her.
Niemand bei Conti konnte zu Beginn des Projekts ahnen, dass ausgerechnet das Werk in Kaunas zum weltpolitischen Spielball werden würde. Litauen hat erst kürzlich die Einrichtung eines “Taiwan-Büros” unter diesem Namen in Vilnius erlaubt. Es hat am 18. November eröffnet. Stein des Anstoßes ist der Name. Die taiwanische Regierung unterhält auch ein Kontaktbüro in Berlin. Es heißt jedoch offiziell “Taipeh-Vertretung” und hält damit den Schein aufrecht, dass hier nur eine Stadt repräsentiert wird, kein Staat.
Auch Litauen ist nun etwas schockiert, wie hart und umfassend China auf das Taiwan-Büro reagiert. “Das zeigt die Bereitschaft, weite Wege zu gehen, um den politischen Kurs von Ländern zu beeinflussen”, sagt Landsbergis. Litauen glaubte, wegen des geringen Asienhandels nicht allzu sehr von China abhängig zu sein. Doch jetzt stellt sich heraus, dass schon die Conti-Arbeitsplätze in Kaunas durchaus in Reichweite Pekings liegen. Finn Mayer-Kuckuk/Amelie Richter
Chinas Sozialkreditsystem hat auf deutsche Unternehmen bislang weniger gravierende Auswirkungen, als zunächst befürchtet wurde. Philipp Senff, Partner der Anwaltskanzlei CMS in Shanghai, zieht eine gemischte Zwischenbilanz. Nicht bestätigen kann Senff, dass das Kreditsystem über “Leben oder Tod” für Unternehmen entscheidet. Genau davor hatte die Europäische Handelskammer in Peking vor der Einführung in einem dramatischen Appell gewarnt. Damals zeigte eine Umfrage der Kammer, dass sieben von zehn deutschen Unternehmen in China noch nicht mit dem System, seiner Wirkungsweise und Zielsetzung vertraut waren.
Viele haben seitdem jedoch ihre Hausaufgaben gemacht, bestätigt Senff. Die bisher sichtbarste Konsequenz des neuen Systems seien sogenannte “schwarze” und “rote” Listen, auf denen jedes Unternehmen landen kann. Schwarze Listen sind Firmen vorbehalten, die Verstöße oder Verbrechen begangen haben. Wer zum Beispiel Steuern hinterzieht oder der Korruption überführt wird, kann bis zu drei Jahre auf einer Blacklist landen.
Firmen, die dagegen etwa sämtliche Umweltauflagen einhalten, werden auf der roten Belohnungsliste genannt. Es gibt also
“Ein Unternehmen, das auf der Schwarzen Liste steht, wird es in der täglichen Praxis gegenüber Behörden deutlich schwerer haben”, erläutert Senff: “Es drohen Nachteile bei der Erteilung von Lizenzen oder Genehmigungen. Auch müssen betroffene Firmen mit deutlich mehr Inspektionen rechnen”. Sie dürfen zudem nicht mehr an Ausschreibungen der chinesischen Regierung teilnehmen.
Von einem Eintrag auf einer Blacklist könne sich zwar nicht ableiten lassen, dass ein Unternehmen nicht mehr am Markt tätig sein darf oder die Produktion einstellen muss. Es handele sich aber dennoch um eine “erhebliche Einschränkung”, wobei das größte Risiko darin bestehe, Kunden zu verlieren. Denn die Informationen sind für jeden im Internet einsehbar. Dieser Online-Pranger habe einen “Erziehungscharakter”, meint Senff.
Um nicht selbst in Schwierigkeiten zu geraten oder ihren Ruf zu gefährden, achten bereits jetzt viele chinesische und auch internationale Unternehmen vorsorglich darauf, keine Geschäfte mit Firmen auf der schwarzen Liste zu machen. Auch deutsche Unternehmen sollten laut Senff prüfen, ob sich unter ihren Zulieferern Unternehmen befinden, die sich auf einer schwarzen Liste befinden. Andererseits sei es etwa möglich, dass die eigenen Kunden Schadenersatzansprüche geltend machen könnten.
Deutsche Konzerne scheinen sich besonders gut auf die neuen Regeln vorbereitet zu haben. Laut Vincent Brussee, einem Forscher am Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin, befindet sich unter ihnen bisher kein einziges Unternehmen, das auf einer chinesischen Blacklist steht. Im Gegenteil tauchen Firmen wie BASF, Siemens oder Volkswagen als Musterschüler auf den Roten Listen auf. “Oft werden sie etwa dafür gelobt, dass sie seit vielen Jahren zuverlässig Steuern zahlen”, sagt Brussee. Als Belohnung können die Firmen etwa mit weniger Prüfungen der Aufseher rechnen.
Derzeit nehmen die Behörden noch vor allem die Bereiche Steuern, Zoll und Umwelt ins Visier. Jedoch gibt es klare Hinweise, dass weitere Felder folgen werden. So warnten Brussee und seine Merics-Kollegin Katja Drinhausen bereits in einer im März veröffentlichten Studie (China.Table berichtete), dass das Sozialkreditsystem in seiner bisherigen Form keinesfalls abgeschlossen sei.
Vom holprigen Start dürfe man sich jedoch nicht täuschen lassen. “Das Sozialkreditsystem ist Teil von Xi Jinpings Vision einer datengesteuerten Regierungsführung”, schreiben die beiden Forscher. Es handele sich um “ein hochflexibles Instrument, das schnell angewendet werden kann, um neue politische Prioritäten zu adressieren”. Die Corona-Pandemie hat das verdeutlicht. Sehr kurzfristig führten einige Regionen neue Regeln ein, die ein Blacklisting für Firmen zur Folge haben konnten, die gegen Corona-Auflagen verstießen. “Ausländische Akteure müssen die Realität eines expandierenden Sozialkreditsystems in China akzeptieren – und Strategien entwickeln, um mit dieser Realität umzugehen”, sagen Brussee und Drinhausen.
Ein wichtiges Problem: “Landesweit einheitliche Regeln, was alles vom Sozialkreditsystem abgedeckt werden darf, fehlen bislang. Dies gibt Lokalbehörden viel Spielraum bei der Umsetzung”, meint Brussee. Weil klare Kriterien fehlten, sei so zumindest theoretisch denkbar, dass die “schwarzen Listen” im Falle einer diplomatischen Krise sogar als Vergeltungsinstrument gegen ausländische Firmen genutzt werden könnten.
Die skeptische Haltung westlicher Beobachter teilen viele Chinesen jedoch nicht. Eine Umfrage des Instituts für Chinastudien der FU Berlin ergab bereits 2018, dass 80 Prozent von 2.000 überregional befragten Chinesen das Vorhaben zum Aufbau eines Kreditsystems befürworten, während nur ein Prozent es explizit ablehnte. Denn ob es um Lebensmittelqualität geht, um Geschäftspartner, um Krankenhäuser oder Verkehrsteilnehmer: Viele Chinesen wissen, dass es in ihrem Land in vielen Bereichen noch immer an einem gut entwickelten Rechtssystem und regulierenden Mechanismen fehlt. Das Sozialkreditsystem wird von vielen als Mittel angesehen, um die Einhaltung von Regeln und Gesetzen zu überwachen und wenn nötig zu sanktionieren. Jörn Petring/Gregor Koppenburg
Die Beteiligung an der Parlamentswahl am Sonntag in Hongkong ist im Vergleich zu 2016 dramatisch gesunken. Bis um 21.30 Uhr Ortszeit, eine Stunde vor Schließung der Wahllokale, hatten weniger als 30 Prozent der Bürger:innen ihre Stimme abgegeben. Von den knapp 4,5 Millionen Wahlberechtigten hatten sich demnach weniger als ein Drittel für eine Teilnahme an dem Urnengang entschieden. Bei der Parlamentswahl 2016 waren es immerhin noch knapp 60 Prozent.
Bei der Wahl durften nur Kandidatinnen und Kandidaten antreten, die vorher einen Check durchlaufen hatten und seitens der Behörden als ausreichend “patriotisch” eingestuft worden waren (China.Table berichtete), eine schwammige Kategorie, die auf Geheiß Pekings initiiert worden ist. Wohl auch wegen der geringen Aussichten auf eine entsprechende Einstufung hatten sich nur sehr wenige pro-demokratische Politiker:innen überhaupt zur Wahl gestellt.
Lediglich 20 der 90 Sitze im neuen Parlament werden durch die Abstimmung bestimmt. Der Rest wird durch einen Ausschuss benannt, in dem Peking-loyale Kader sitzen. Die geringe Wahlbeteiligung kann als Zeichen des Protests gegen diese Umstände sowie das drakonische und von Peking auferlegte Nationale Sicherheitsgesetz verstanden werden.
Hongkongs Regierung hatte zuvor noch viel versucht, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Es gab kostenlose Bustickets zu den Wahllokalen und am Samstag verschickten die Behörden Textnachrichten, um die Hongkonger:innen zur Wahl zu bewegen, wie Reuters berichtet. nib
Die neue Regierung Tschechiens schlägt gegenüber Peking einen offensiveren Weg ein als ihre Vorgängerin: Ministerpräsident Petr Fiala wählte für sein Kabinett den China-kritischen Jan Lipavský als Außenminister. Der 36-Jährige aus der tschechischen Piraten-Partei hatte die Volksrepublik vor seinem Amtsantritt Medienberichten zufolge bereits als “Gefahr für die Tschechische Republik” bezeichnet. Er betonte, dass die Außenpolitik seines Landes diese Gefahr “richtig widerspiegeln” müsse. Die Tschechische Republik habe in den jüngsten Verhandlungen mit Russland und China einige ihrer Prinzipien aufgegeben, fügte er hinzu. Ende Oktober versprach Lipavský, “eine erneuerte Menschenrechtstradition zu verfolgen” und gelobte “starke Zusammenarbeit auf EU- und NATO-Ebene”.
Lipavský will zudem die Beziehungen zu Taiwan vertiefen. Taipeh sei “ein wichtiger Wirtschaftspartner der Tschechischen Republik, um ein Vielfaches wichtiger als die Volksrepublik China”, sagte der neue Außenminister den Berichten zufolge im Oktober. Tschechiens Staatschef Miloš Zeman hatte Vorbehalte gegenüber Lipavský als Außenminister, stimmte am Freitag aber seiner Ernennung zu. Zeman gilt Peking als freundlicher zugewandt und hat stets für die wirtschaftlichen Vorteile einer Zusammenarbeit mit China geworben. Tschechiens Verhältnis zu China hatte sich zuletzt zunehmend eingetrübt (China.Table berichtete). ari
China und der Irak haben vereinbart, dass zwei chinesische Unternehmen 1.000 neue Schulen in dem vorderasiatischen Staat bauen. Das Bauunternehmen Power Construction Corporation of China (Powerchina) soll 679 der Schulen bauen, der Rest soll von Sino Tech errichtet werden, wie die South China Morning Post berichtet. Das Bauvorhaben ist Teil eines irakischen Projekts zum Bau von 7.000 Schulen, um die Schäden des jahrelangen Krieges zu beheben. Laut Unicef haben 3,2 Millionen Kinder im Schulalter keinen Zugang zu Bildung, so die SCMP. Chinas Engagement im Nahen Osten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Mittlerweile ist die Volksrepublik der größte Importeur von irakischem Erdöl. China befindet sich laut SCMP in Gesprächen für den Bau weiterer Infrastruktur. Darunter sind Aufträge für Stromleitungen, Datenkabel und Eisenbahnlinien. nib
Die EU wird ab sofort bei der Einfuhr von Stahltürmen für Windkraftanlagen aus China Ausgleichs-Zölle erheben. Eine Untersuchung hatte nach Angaben der EU-Kommission ergeben, dass chinesische Anbieter die Türme zu Dumping-Preisen importierten. Die Zölle belaufen sich je nach Hersteller der Stahltürme auf 7,4 bis 19,2 Prozent. Sie werden zunächst für eine Dauer von fünf Jahren erhoben. Ziel sei es, die wirtschaftlichen Schäden zu beseitigen, die europäische Hersteller von Stahltürmen durch die Dumping-Preise erlitten haben, teilte die Brüsseler Behörde mit.
Laut der EU-Untersuchung war der Marktanteil chinesischer Fabrikanten im Sommer 2019 auf 34 Prozent gestiegen, während er im Jahr 2017 lediglich 25 Prozent betrug. Die chinesischen Hersteller hatten ihre Stahltürme demnach mit einem Preisnachlass verkauft. Der chinesische Anteil an den EU-Importen von Stahltürmen für Windkraftanlagen liegt bei etwa 80 Prozent. nib
China hat in den ersten elf Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 14 Prozent mehr Strom aus Solarenergie und 29 Prozent mehr Strom aus Windenergie gewonnen. Allerdings stieg auch die Stromproduktion aus Kohle und Gas um gut 10 Prozent. Der Anstieg bei Atomenergie lag bei gut 12 Prozent. Die Stromproduktion aus Wasserkraft nahm um zwei Prozent ab, wie Zahlen der nationalen Statistikbehörde zeigen. Ein Teil des Anstiegs bei Kohlestrom und den Erneuerbaren ist jedoch statistischen Effekten zuzuordnen. Im Vorjahreszeitraum war die Stromnachfrage aufgrund der Corona-Pandemie gedrosselt.
Zugleich verdichten sich die Anzeichen, dass die Volksrepublik ihr Ziel für den Ausbau für Solarenergie in diesem Jahr verfehlen wird (China.Table berichtete). Der chinesische Verband der Photovoltaik-Industrie gab bekannt, dass die Kapazität zur Erzeugung von Solarenergie in diesem Jahr um 45 bis 55 Gigawatt steigen wird. 10 Gigawatt weniger als zunächst angestrebt. Die Ursachen dafür seien steigende Rohstoffpreise. Für das nächste Jahr wird eine Zunahme der Solar-Kapazität um 75 Gigawatt angestrebt, wie das Wirtschaftsportal Caixin berichtet. nib
Seit 20 Jahren herrscht in der chinesischen Wirtschaft ein Mythos: Immobilienpreise steigen immer. Mit dem Bauboom sind in China zahlreiche Immobiliengesellschaften entstanden, die ständig wachsen. Evergrande ist ein Musterbeispiel für die robuste Vergangenheit von Chinas Immobilienbranche. Mit der “Success Story” im Immobilienmarkt ist der Konzern mittlerweile auch in verschiedenen anderen Branchen unterwegs: der Konzern unterhält einen Profi-Fußballverein, ist Vermögensverwalter, will E-Autos bauen und ist im Gesundheitswesen aktiv.
Doch das vermeintliche “Perpetuum mobile” des immer wachsenden Immobilienmarktes ist nur eine Fantasie. Marktanalysten haben mehrmals davor gewarnt, dass die Immobilienblase platzen wird. In jüngster Zeit ist bereits zu merken, dass sich der chinesische Immobilienmarkt abgekühlt hat. Der Anstieg der Immobilienpreise in China hat sich verlangsamt. In manchen Städten sind die Preise auch zurückgegangen. Damit kommt Evergrande zurück auf den Boden der Realität. Hinzu kommen auch die bitteren Ergebnisse der Diversifikationsstrategie: das E-Auto fährt noch nicht, und der Fußballverein Guangzhou Evergrande nähert sich finanziell eher dem FC Barcelona als dem FC Bayern München an. Die Schuldenkrise von Evergrande ist kein “Government-made”, sondern ein im Unternehmen Evergrande entstandenes – oder besser gesagt ein “Market-driven” Ergebnis.
Etliche Gläubiger setzen darauf, dass die chinesische Regierung (auf nationaler oder regionaler Ebene) eingreifen und ein Rettungspaket schnüren wird. Insbesondere Privatpersonen, die Wohnungen von Evergrande gekauft haben, hoffen, dass Evergrande die Bauarbeiten fortsetzen und den Kaufvertrag erfüllen wird. Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist jedoch noch kein Rettungspaket vom Staat angekündigt worden.
Unserer Einschätzung nach wird die chinesische Regierung kein umfassendes Rettungspaket für Evergrande anbieten wollen oder können. Der Umfang der Krise ist noch nicht klar. Zu bedenken ist auch der Dominoeffekt, wenn der Staat mit Steuergeldern ein Unternehmen aus der Krise hilft, dessen Misswirtschaft sehr zu seinem Fall beigetragen hat. In der schwierigen Corona-Zeit hat die chinesische Zentralbank sicherlich dringlichere Herausforderungen zu meistern, als der größte Immobilieninvestor des Landes zu werden.
Es ist aber denkbar, dass sich Staatsunternehmen oder staatlich geführte Investmentfonds in Einzelfällen an einer Restrukturierung der betroffenen Gesellschaft im Evergrande-Konzern beteiligen oder bestimmte Schulden übernehmen könnten. In solchen Fällen sind Staatsunternehmen und staatlich geführte Investmentfonds jedoch normale Marktplayer wie andere potenziellen Investoren bei einem Chapter 11 Verfahren. Nach unserer Einschätzung ist so eine Beteiligung durch Staatsunternehmen oder staatlich geführte Investmentfonds vor allem dann zu erwarten, wenn die Interessen einer größeren Gruppe von Privatpersonen beeinträchtigt werden würden.
Wirtschaftlich ist der Konzern Evergrande am Boden. Rechtlich ergibt sich aber ein hochinteressantes Bild: Einen offiziellen Insolvenzantrag gibt es noch nicht. Das heißt, “by law” lebt Evergrande immer noch.
In China ist das Insolvenzverfahren hauptsächlich im Unternehmensinsolvenzgesetz geregelt, dass am 01.06.2007 in Kraft getreten ist. Wie in Deutschland wird ein Insolvenzverfahren in China beim zuständigen Gericht (People’s Court) auf Antrag eingeleitet. In der Praxis könnte der Investor auf Schwierigkeiten stoßen. Ein Insolvenzverfahren in China ist nicht vergleichbar mit einem solchen Verfahren in Deutschland. Der größte Unterschied der Insolvenzsysteme liegt darin, dass das Konzept “Insolvenzverschleppung” in Festlandchina noch nicht in vergleichbarer Form wie in Deutschland existiert. Das chinesische Unternehmensinsolvenzgesetz sieht keine feste Frist vor, bis wann ein Unternehmen einen Insolvenzantrag stellen muss. Aus deutscher Sicht werden die Insolvenzanträge in China häufig zu spät gestellt. Das ist der gesetzliche Boden, auf dem Evergrande sich immer noch befindet.
Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass Evergrande in der heutigen Form auch Einfluss außerhalb der chinesischen Grenzen hat. Das Unternehmen China Evergrande Group ist an der Hong Kong Stock Exchange gelistet und auf den Cayman Islands registriert. In diesem Fall muss die Gesellschaft die Gesetze der Cayman Islands und die Listing Rules der Hongkonger Börse ebenfalls befolgen. In dieser Hinsicht ist nicht auszuschließen, dass eine Zwangsmaßnahme im Ausland, wie zum Beispiel ein Delisting, früher eintritt als die Insolvenzeröffnung in China.
Was bedeutet die Liquiditätskrise von Evergrande für ausländische Gläubiger? Anders als Gläubiger innerhalb Chinas sind ausländische Gläubiger meist institutionelle Anleger. Das chinesische Insolvenzrecht schließt sicherlich die ausländischen Gläubiger nicht aus. Hierzu gilt der Gleichheitsgrundsatz: weder Nachteil noch Vorteil. Der Vorzug vor chinesischen Gläubigern beziehungsweise Verbrauchern wäre dabei eine Illusion. Hingegen hat man sich auf nervlich aufreibende Gläubigerversammlungen einzustellen. Ob und wie Evergrande – und auch der Staat – die Krise überwinden werden, bleibt spannend. “Too big to fail” existiert im Reich der Mitte nicht.
Jiawei Wang LL.M. ist Legal Counsel und Partner bei Rödl & Partner in Stuttgart. Er hat Rechtswissenschaften in Shanghai sowie in Heidelberg studiert und ist in der Volksrepublik China als Lü Shi (Anwalt chinesischen Rechts) zugelassen. Wang vertritt unter anderem deutsche Industrieunternehmen bei Vertragsverhandlungen und bei Rechtsstreitigkeiten mit chinesischen Geschäftspartnern.
Dalibor Kalina ist neuer Verantwortlicher für das Conti-Reifenersatzgeschäft in der Region Asien-Pazifik. Der 47-Jährige war seit 2015 Leiter des Conti-Pkw-Reifenersatzgeschäfts in China. Er wird zudem Mitglied des Conti Tire Boards. Kalina ersetzt Ferdinand Hoyos (45), der die Aufgabe als Leiter des EMEA-Reifenersatzgeschäftes im Unternehmen übernimmt.
Hilde De Weerdt wird Professorin für chinesische und frühneuzeitliche Globalgeschichte an der Katholischen Universität Leuven in den Niederlanden. Bisher war sie Professorin für Chinesische Geschichte an der Universität Leiden.
Strahlender Sonnenschein draußen? Es geht ein angenehmes Lüftchen? Perfektes Wetter also, um die Wäsche rauszuhängen und in der Sonne zu trocken, oder die Kinder! Keine Sorge. Natürlich wird der Nachwuchs auch in China im realen Leben nicht wirklich an die Leine gehängt. Dafür aber in der Umgangssprache. Dort nämlich ist 晒娃 shài wá – eine Kombination aus 晒 shài (“sonnen, in der Sonne trocknen”) und 娃 wá (umgangssprachlich ein “kleines Kind, Kleinkind”) die gängige Bezeichnung für das Teilen von Baby- und Kinderfotos über Social Media. In unseren Breiten kennt man dieses Verhalten als “Sharenting“, eine Kombi aus “share” (teilen) und “parenting” (Elternschaft).
Die Terrasse zum Trocknen heißt im Reich der Mitte nicht Facebook, sondern “Freundeskreis” (晒朋友圈 shài péngyouquān – “im Wechat-Freundeskreis/den Wechat-Moments sharen/teilen”). Und dort lassen sich natürlich nicht nur Babys “sonnen”, sondern auch
Nimmt das “Sonnenbad” anderer durch deren Dauerpostings überhand und “bürstet” einem beim Scrollen regelrecht den Bildschirm durch (刷屏 shuāpíng “den Screen zupflastern”, auf Chinesisch wörtlich “den Bildschirm durchbürsten”), kann man dem Spuk unter Wechats Privatssphäre-Einstellungen ein Ende setzen. Hier wird unliebsamen Dauerpostern mit einem Wisch der Wind aus den Sonnensegeln genommen. Einfach die entsprechende Option aktivieren, nämlich 不看他/她的朋友圈 bù kàn tā de péngyouquān (“seine/ihre Wechat-Moments nicht ansehen”) und schon werden die Posts des jeweiligen Kontakts nicht mehr angezeigt.
Aber mal ehrlich: Viele von uns Social-Media-Sonnenanbetern haben den Sharing-Impuls doch oft selbst schlecht im Griff. Auch hierfür hat Wechat praktischerweise einen Sonnenschutzschirm integriert, nämlich die Einstellung 不让他/她看 bù ràng tā kàn péngyouquān (“ihm/ihr die Wechat-Moments nicht anzeigen”). So kann man (zum Beispiel berufliche) Kontakte vorsorglich von der eigenen (privaten) Bilderflut verschonen. Sonnenbrandgefahr also erfolgreich gebannt.
Verena Menzel leitet in Peking die Sprachschule New Chinese. Sind Sie neugierig geworden auf weitere chinesische Gimmicks? 24 ausgefallene chinesische Dinge, die einen besonderen Blick auf China geben, hat New Chinese hinter den 24 Türchen des New Chinese Online-Adventskalenders versteckt und wünscht Ihnen damit eine schöne Vorweihnachtszeit!
in der internationalen Politik können kleine Ereignisse zu großen Problemen heranwachsen. Erst unterschätzt die Regierung von Litauen, wie ernst China schon kleine Provokationen mit Taiwan-Bezug nimmt. Nun herrscht Aufregung in der Autobranche und in der Bundesregierung. China verweigert die Einfuhr von Teilen des großen Zulieferers Continental, wenn sie Komponenten aus Litauen enthalten. Dort stellt Conti Elektronik für smarte Fahrzeuge her.
Peking rächt sich also am großen EU-Land Deutschland für die Kränkung durch das kleine EU-Land Litauen. Das war zu befürchten: China lässt keinen staatlichen Akt durchgehen, der auf Akzeptanz von Taiwan hindeutet. Da Litauen selbst sich von wirtschaftlichem Druck nur wenig beeindruckt zeigte, hat Peking den Vorgang auf eine andere Ebene gehoben.
Nun steht die Bundesregierung vor der schweren Aufgabe, eine angemessene Antwort zu formulieren. Einen Handels-Angriff auf Conti kann sie nicht einfach hinnehmen. Sie will aber auch nicht voreilig und ungeplant in eine Konfrontation mit China hineinrutschen. Für die wenig praxiserfahrenen Spitzen des Wirtschafts- und des Außenministeriums wird das ein erster Test ihrer Geschicklichkeit.
Trotz allen Ansprüchen an eine neue, durchsetzungsfähige China-Politik: Das Ziel sollte jetzt auch sein, die Autobranche in einer ohnehin schwierigen Lage vor der Eskalation einer Provinzposse zu schützen. Sie braucht ihre Kraft für die Transformation hin zu neuen Antriebsformen – gemeinsam, in allen Wirtschaftsräumen.
Was als Posse um einen baltischen Staat begonnen hat, wird zu einem handfesten Handelskonflikt zwischen Deutschland und China. Der Autozulieferer Continental und mindestens ein weiteres deutsches Unternehmen dürfen schon bald keine Teile mehr nach China einführen, die Vorprodukte aus Litauen enthalten. Das erfuhr China.Table aus Industriekreisen. Auch wenn die Akteure vordergründig noch versuchen, Ruhe auszustrahlen, ringen Wirtschaft und Politik hinter den Kulissen hektisch um die angemessene Reaktion. Es ist schließlich das erste Mal, dass Peking die deutsche Automobilbranche so direkt in einen Handelsstreit hineinzieht. Auslöser des Konflikts war die Gründung eines Taiwan-Büros in Vilnius (China.Table berichtete).
Verbände und Kammern suchen zudem derzeit nach den richtigen Formulierungen, um China zu kritisieren, ohne sich selbst zu sehr in die Schusslinie zu bringen. Offiziell kommentieren derzeit weder Conti noch die Regierungen die Berichte. VW teilte China.Table mit, man beobachte die Lage sehr genau.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) warf Peking ein “verheerendes Eigentor” vor (China.Table berichtete). “Die jüngsten Maßnahmen Chinas gegen Litauen entfalten die Wirkung eines Handelsboykotts mit Auswirkungen auf die ganze EU”, klagte der BDI in einer Botschaft in Richtung der chinesischen Regierung. “Betroffen sind auch Einfuhren aus China, die in deutschen Produktionsniederlassungen in Litauen benötigt werden, und Ausfuhren aus Deutschland nach China, die litauische Komponenten enthalten” Das Vorgehen zeige, dass China bereit sei, sich von “politisch unliebsamen Partnern ökonomisch zu entkoppeln”. Die Handelskammer in Peking wandte sich mit einer ähnlichen Argumentation in einem Brief an das chinesische Handelsministerium.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) beklagte die zunehmende Vermischung von Politik und Wirtschaft. “Zwischenstaatliche Differenzen sollten auf diplomatischem Wege geklärt und nicht auf dem Rücken der Wirtschaft ausgetragen werden”, so eine Sprecherin des VDA. Der Verband setze sich für internationale Kooperation und regelbasierten, freien Handel ein. “Grundsätzlich gilt: Jedes Handels- und Investitionsabkommen kann Abschottung und Konflikt vorbeugen.”
Die Attacke auf einen großen deutschen Autozulieferer zwingt nun auch die neue Bundesregierung dazu, gegenüber China Stellung zu beziehen. Es gibt also auch hier keine außenpolitische Schonfrist für die Ampelkoalition. Ein Lieferverbot für ein Großunternehmen wie Continental ist bereits der Testfall für den Umgang mit einem massiven Konflikt. Denn ein Auto besteht im Wesentlichen aus Teilen von Zulieferern. Wer einen großen Zulieferer trifft, trifft die gesamte Fahrzeugbranche. Auch wenn Conti in Litauen nur einen kleinen Teil seines Sortiments herstellt, könnte ein Mangel an diesen Teilen die ohnehin zerrütteten Lieferketten noch mehr durcheinanderbringen.
Die Wahl von Conti ist jedoch nicht nur handels-, sondern auch geopolitisch naheliegend für China. Der Hauptsitz des Unternehmens liegt in Hannover. In Niedersachsen regiert Stephan Weil von der SPD. Er steht ohnehin unter Druck, weil VW-Chef Herbert Diess den Abbau von 30.000 Arbeitsplätzen am Heimatstandort ins Spiel gebracht hat. Im kommenden Jahr muss Weil sich Landtagswahlen stellen. Obwohl der niedersächsische Staat nur zwölf Prozent an VW hält, hat die Landesregierung traditionell einigen Einfluss auf den Konzern. Wenn China nun bei Conti ansetzt, könnte dahinter auch der Versuch stecken, auf die SPD Einfluss zu nehmen.
Ex-Kanzler Gerhard Schröder gehört ebenso zur Niedersachsen-SPD wie Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel. Nach chinesischem Blick auf Parteistrukturen handelt es sich hier um Granden ihrer Organisation, die erheblichen Einfluss auf Olaf Scholz haben sollten. Setzt man die SPD in Niedersachsen unter Druck, könnte das den amtierenden Bundeskanzler beeinflussen, könnte das Kalkül lauten. Aus Berliner Sicht ist die gegenteilige Wirkung jedoch mindestens genauso möglich: Der Druck von außen könnte die Bundesregierung zusammenschweißen. Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck sitzen Scholz in den entscheidenden Ressorts ohnehin Befürworter von “Dialog und Härte” am Kabinettstisch gegenüber.
Theoretisch würde der EU nun eine Schlüsselrolle in der Beilegung des Konflikts zukommen. Die Bundesregierung will ihre Politik erklärtermaßen besser mit Brüssel und den Partnern auf europäischer Ebene abstimmen. Doch die EU-Kommission zeigt sich hilflos: Ein Mechanismus zur Reaktion auf wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen befindet sich im Aufbau, ist aber noch längst nicht fertig (China.Table berichtete).
Die Situation werde mit dem Druck auf EU-Unternehmen zunehmend komplizierter, sagte am Freitag der für Handel zuständige Vize-Präsident der Europäischen Kommission, Valdis Dombrovskis. Seine Bemerkung fiel auf einer Veranstaltung des European Council on Foreign Relations, einer Denkfabrik. Thema war das geplante Handelsinstrument gegen wirtschaftliche Nötigung – also genau das Instrument, das jetzt nützlich wäre, aber noch fehlt. Es gebe eine “intensive Kontaktaufnahme” mit den chinesischen Behörden, so Dombrovskis.
Zudem werde mit den Litauern und auch mit Vertretern aus anderen EU-Ländern gesprochen, sagte Dombrovskis. Das “Anti-Coercion Instrument” (ACI) steht wegen des Litauen-Streits derzeit ganz oben auf der Tagesordnung. Bei diesem Instrument voranzukommen, sei auch ein wichtiger Punkt auf der Agenda der französischen EU-Ratspräsidentschaft, betonte Frankreichs Vize-Minister für Außenhandel, Franck Riester. Das Beispiel Litauens zeige sehr deutlich, dass die EU wehrhaft sein müsse, so Riester. “Wir unterstützen daher den Vorschlag der Kommission.”
In der aktuellen Situation seien die Optionen sehr begrenzt, gab der EU-Kommissar zu. Es bliebe nur der Gang zur Welthandelsorganisation – und das “nimmt eine Menge Zeit in Anspruch”. Mit dem ACI soll das beschleunigt werden. Welche Register Brüssel hypothetisch für den Litauen-China-Fall ziehen würde, wäre ACI bereits in Kraft, ließ Dombrovskis offen. Die Anwendung des Handelsinstruments müsse von Fall zu Fall konkret überprüft werden. Derzeit versuche die EU mit allen möglichen Mitteln zu reagieren, so der EU-Vize-Kommissionspräsident. Auch über diplomatische Wege. Die generelle Entwicklung der EU-China-Beziehungen sei durchaus besorgniserregend, so der Lette. Das, und auch Entwicklungen mit weiteren Drittstaaten wie Russland, unterstreichen ihm zufolge die Notwendigkeit des EU-Instruments gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen: “Deshalb müssen wir uns besser rüsten.”
Baltische Staaten seien wirtschaftliche Nötigung bereits gewöhnt, sagte Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis bei derselben Veranstaltung. Auch Russland bediene sich solcher Methoden. Was China betreffe, stehe man jedoch vor einem gänzlich neuem Phänomen. Worüber die Volksrepublik unzufrieden sei, und die Maßnahmen, die sie infolgedessen ergreife, stünden nicht in einem vernünftigen Verhältnis zueinander, so Landsbergis.
Rückenwind für die Schaffung robuster Handelsinstrumente kommt auch aus der deutschen Wirtschaft. Vor fünf Jahren wäre er noch gegen ein entsprechendes Handelsinstrument gewesen, sagte Wolfgang Niedermark vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Doch die regelbasierte Ordnung im Welthandel sei “kaputt”, so Niedermark. “Die unangenehme Wahrheit ist: Wir müssen damit jetzt leben.”
Wegen der mangelnden Handlungsfähigkeit der EU liegt es nun an Berlin, eine Reaktion zu formulieren. Es steht viel auf dem Spiel. Conti ist ein wichtiger Partner der deutschen Autohersteller. Einfuhrbeschränkung für wichtige Teile können die Produktion durcheinanderbringen, der wegen Omikron ohnehin neue Störungen drohen. Continental unterhält Lieferbeziehungen zur halben Fahrzeugbranche. Kurzfristig können die Autohersteller viele der nötigen Teile zwar aus anderen Quellen beziehen. Die Zulieferer selbst unterhalten meist Kapazitäten für das gleiche Teil an verschiedenen Standorten. Die Autofirmen wiederum beziehen identische Teile heute in vielen Fällen von mehreren Anbietern. Es gibt jedoch andererseits genug Beispiele dafür, wie nach kleinen Lieferausfällen bei den ganz großen Namen der Branche die Bänder stillstanden.
Conti ist in der Öffentlichkeit vor allem als Reifenhersteller bekannt, hat sich jedoch zu einem der größten Autozulieferer der Welt entwickelt. Mit 37 Milliarden Euro Umsatz ist das Unternehmen – je nach Zählweise – der weltweit drittgrößte Autozulieferer nach Bosch und dem Toyota-Partner Denso. Reifen gehören zwar immer noch zum Programm, doch in der Branche ist Conti inzwischen vor allem für Elektronik bekannt, die fürs intelligente Auto wichtig wird.
Der Autozulieferer hat in diesem Bereich seit 2018 gezielt in Litauen investiert, die Produktion läuft seit 2019. Erst in diesem Sommer gab es Unternehmen bekannt, den Standort in Kaunas erneut erweitern zu wollen. Bisher hat das Unternehmen 90 Millionen Euro in das Werk gesteckt. Jetzt sollen weitere 95 Millionen hinzukommen. Die Mitarbeiterzahl steigt dadurch von 1.000 auf 1.500. Das Unternehmen stellt dort Elektronikteile für Autos und Fahrassistenzsysteme her.
Niemand bei Conti konnte zu Beginn des Projekts ahnen, dass ausgerechnet das Werk in Kaunas zum weltpolitischen Spielball werden würde. Litauen hat erst kürzlich die Einrichtung eines “Taiwan-Büros” unter diesem Namen in Vilnius erlaubt. Es hat am 18. November eröffnet. Stein des Anstoßes ist der Name. Die taiwanische Regierung unterhält auch ein Kontaktbüro in Berlin. Es heißt jedoch offiziell “Taipeh-Vertretung” und hält damit den Schein aufrecht, dass hier nur eine Stadt repräsentiert wird, kein Staat.
Auch Litauen ist nun etwas schockiert, wie hart und umfassend China auf das Taiwan-Büro reagiert. “Das zeigt die Bereitschaft, weite Wege zu gehen, um den politischen Kurs von Ländern zu beeinflussen”, sagt Landsbergis. Litauen glaubte, wegen des geringen Asienhandels nicht allzu sehr von China abhängig zu sein. Doch jetzt stellt sich heraus, dass schon die Conti-Arbeitsplätze in Kaunas durchaus in Reichweite Pekings liegen. Finn Mayer-Kuckuk/Amelie Richter
Chinas Sozialkreditsystem hat auf deutsche Unternehmen bislang weniger gravierende Auswirkungen, als zunächst befürchtet wurde. Philipp Senff, Partner der Anwaltskanzlei CMS in Shanghai, zieht eine gemischte Zwischenbilanz. Nicht bestätigen kann Senff, dass das Kreditsystem über “Leben oder Tod” für Unternehmen entscheidet. Genau davor hatte die Europäische Handelskammer in Peking vor der Einführung in einem dramatischen Appell gewarnt. Damals zeigte eine Umfrage der Kammer, dass sieben von zehn deutschen Unternehmen in China noch nicht mit dem System, seiner Wirkungsweise und Zielsetzung vertraut waren.
Viele haben seitdem jedoch ihre Hausaufgaben gemacht, bestätigt Senff. Die bisher sichtbarste Konsequenz des neuen Systems seien sogenannte “schwarze” und “rote” Listen, auf denen jedes Unternehmen landen kann. Schwarze Listen sind Firmen vorbehalten, die Verstöße oder Verbrechen begangen haben. Wer zum Beispiel Steuern hinterzieht oder der Korruption überführt wird, kann bis zu drei Jahre auf einer Blacklist landen.
Firmen, die dagegen etwa sämtliche Umweltauflagen einhalten, werden auf der roten Belohnungsliste genannt. Es gibt also
“Ein Unternehmen, das auf der Schwarzen Liste steht, wird es in der täglichen Praxis gegenüber Behörden deutlich schwerer haben”, erläutert Senff: “Es drohen Nachteile bei der Erteilung von Lizenzen oder Genehmigungen. Auch müssen betroffene Firmen mit deutlich mehr Inspektionen rechnen”. Sie dürfen zudem nicht mehr an Ausschreibungen der chinesischen Regierung teilnehmen.
Von einem Eintrag auf einer Blacklist könne sich zwar nicht ableiten lassen, dass ein Unternehmen nicht mehr am Markt tätig sein darf oder die Produktion einstellen muss. Es handele sich aber dennoch um eine “erhebliche Einschränkung”, wobei das größte Risiko darin bestehe, Kunden zu verlieren. Denn die Informationen sind für jeden im Internet einsehbar. Dieser Online-Pranger habe einen “Erziehungscharakter”, meint Senff.
Um nicht selbst in Schwierigkeiten zu geraten oder ihren Ruf zu gefährden, achten bereits jetzt viele chinesische und auch internationale Unternehmen vorsorglich darauf, keine Geschäfte mit Firmen auf der schwarzen Liste zu machen. Auch deutsche Unternehmen sollten laut Senff prüfen, ob sich unter ihren Zulieferern Unternehmen befinden, die sich auf einer schwarzen Liste befinden. Andererseits sei es etwa möglich, dass die eigenen Kunden Schadenersatzansprüche geltend machen könnten.
Deutsche Konzerne scheinen sich besonders gut auf die neuen Regeln vorbereitet zu haben. Laut Vincent Brussee, einem Forscher am Mercator Institute for China Studies (Merics) in Berlin, befindet sich unter ihnen bisher kein einziges Unternehmen, das auf einer chinesischen Blacklist steht. Im Gegenteil tauchen Firmen wie BASF, Siemens oder Volkswagen als Musterschüler auf den Roten Listen auf. “Oft werden sie etwa dafür gelobt, dass sie seit vielen Jahren zuverlässig Steuern zahlen”, sagt Brussee. Als Belohnung können die Firmen etwa mit weniger Prüfungen der Aufseher rechnen.
Derzeit nehmen die Behörden noch vor allem die Bereiche Steuern, Zoll und Umwelt ins Visier. Jedoch gibt es klare Hinweise, dass weitere Felder folgen werden. So warnten Brussee und seine Merics-Kollegin Katja Drinhausen bereits in einer im März veröffentlichten Studie (China.Table berichtete), dass das Sozialkreditsystem in seiner bisherigen Form keinesfalls abgeschlossen sei.
Vom holprigen Start dürfe man sich jedoch nicht täuschen lassen. “Das Sozialkreditsystem ist Teil von Xi Jinpings Vision einer datengesteuerten Regierungsführung”, schreiben die beiden Forscher. Es handele sich um “ein hochflexibles Instrument, das schnell angewendet werden kann, um neue politische Prioritäten zu adressieren”. Die Corona-Pandemie hat das verdeutlicht. Sehr kurzfristig führten einige Regionen neue Regeln ein, die ein Blacklisting für Firmen zur Folge haben konnten, die gegen Corona-Auflagen verstießen. “Ausländische Akteure müssen die Realität eines expandierenden Sozialkreditsystems in China akzeptieren – und Strategien entwickeln, um mit dieser Realität umzugehen”, sagen Brussee und Drinhausen.
Ein wichtiges Problem: “Landesweit einheitliche Regeln, was alles vom Sozialkreditsystem abgedeckt werden darf, fehlen bislang. Dies gibt Lokalbehörden viel Spielraum bei der Umsetzung”, meint Brussee. Weil klare Kriterien fehlten, sei so zumindest theoretisch denkbar, dass die “schwarzen Listen” im Falle einer diplomatischen Krise sogar als Vergeltungsinstrument gegen ausländische Firmen genutzt werden könnten.
Die skeptische Haltung westlicher Beobachter teilen viele Chinesen jedoch nicht. Eine Umfrage des Instituts für Chinastudien der FU Berlin ergab bereits 2018, dass 80 Prozent von 2.000 überregional befragten Chinesen das Vorhaben zum Aufbau eines Kreditsystems befürworten, während nur ein Prozent es explizit ablehnte. Denn ob es um Lebensmittelqualität geht, um Geschäftspartner, um Krankenhäuser oder Verkehrsteilnehmer: Viele Chinesen wissen, dass es in ihrem Land in vielen Bereichen noch immer an einem gut entwickelten Rechtssystem und regulierenden Mechanismen fehlt. Das Sozialkreditsystem wird von vielen als Mittel angesehen, um die Einhaltung von Regeln und Gesetzen zu überwachen und wenn nötig zu sanktionieren. Jörn Petring/Gregor Koppenburg
Die Beteiligung an der Parlamentswahl am Sonntag in Hongkong ist im Vergleich zu 2016 dramatisch gesunken. Bis um 21.30 Uhr Ortszeit, eine Stunde vor Schließung der Wahllokale, hatten weniger als 30 Prozent der Bürger:innen ihre Stimme abgegeben. Von den knapp 4,5 Millionen Wahlberechtigten hatten sich demnach weniger als ein Drittel für eine Teilnahme an dem Urnengang entschieden. Bei der Parlamentswahl 2016 waren es immerhin noch knapp 60 Prozent.
Bei der Wahl durften nur Kandidatinnen und Kandidaten antreten, die vorher einen Check durchlaufen hatten und seitens der Behörden als ausreichend “patriotisch” eingestuft worden waren (China.Table berichtete), eine schwammige Kategorie, die auf Geheiß Pekings initiiert worden ist. Wohl auch wegen der geringen Aussichten auf eine entsprechende Einstufung hatten sich nur sehr wenige pro-demokratische Politiker:innen überhaupt zur Wahl gestellt.
Lediglich 20 der 90 Sitze im neuen Parlament werden durch die Abstimmung bestimmt. Der Rest wird durch einen Ausschuss benannt, in dem Peking-loyale Kader sitzen. Die geringe Wahlbeteiligung kann als Zeichen des Protests gegen diese Umstände sowie das drakonische und von Peking auferlegte Nationale Sicherheitsgesetz verstanden werden.
Hongkongs Regierung hatte zuvor noch viel versucht, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Es gab kostenlose Bustickets zu den Wahllokalen und am Samstag verschickten die Behörden Textnachrichten, um die Hongkonger:innen zur Wahl zu bewegen, wie Reuters berichtet. nib
Die neue Regierung Tschechiens schlägt gegenüber Peking einen offensiveren Weg ein als ihre Vorgängerin: Ministerpräsident Petr Fiala wählte für sein Kabinett den China-kritischen Jan Lipavský als Außenminister. Der 36-Jährige aus der tschechischen Piraten-Partei hatte die Volksrepublik vor seinem Amtsantritt Medienberichten zufolge bereits als “Gefahr für die Tschechische Republik” bezeichnet. Er betonte, dass die Außenpolitik seines Landes diese Gefahr “richtig widerspiegeln” müsse. Die Tschechische Republik habe in den jüngsten Verhandlungen mit Russland und China einige ihrer Prinzipien aufgegeben, fügte er hinzu. Ende Oktober versprach Lipavský, “eine erneuerte Menschenrechtstradition zu verfolgen” und gelobte “starke Zusammenarbeit auf EU- und NATO-Ebene”.
Lipavský will zudem die Beziehungen zu Taiwan vertiefen. Taipeh sei “ein wichtiger Wirtschaftspartner der Tschechischen Republik, um ein Vielfaches wichtiger als die Volksrepublik China”, sagte der neue Außenminister den Berichten zufolge im Oktober. Tschechiens Staatschef Miloš Zeman hatte Vorbehalte gegenüber Lipavský als Außenminister, stimmte am Freitag aber seiner Ernennung zu. Zeman gilt Peking als freundlicher zugewandt und hat stets für die wirtschaftlichen Vorteile einer Zusammenarbeit mit China geworben. Tschechiens Verhältnis zu China hatte sich zuletzt zunehmend eingetrübt (China.Table berichtete). ari
China und der Irak haben vereinbart, dass zwei chinesische Unternehmen 1.000 neue Schulen in dem vorderasiatischen Staat bauen. Das Bauunternehmen Power Construction Corporation of China (Powerchina) soll 679 der Schulen bauen, der Rest soll von Sino Tech errichtet werden, wie die South China Morning Post berichtet. Das Bauvorhaben ist Teil eines irakischen Projekts zum Bau von 7.000 Schulen, um die Schäden des jahrelangen Krieges zu beheben. Laut Unicef haben 3,2 Millionen Kinder im Schulalter keinen Zugang zu Bildung, so die SCMP. Chinas Engagement im Nahen Osten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Mittlerweile ist die Volksrepublik der größte Importeur von irakischem Erdöl. China befindet sich laut SCMP in Gesprächen für den Bau weiterer Infrastruktur. Darunter sind Aufträge für Stromleitungen, Datenkabel und Eisenbahnlinien. nib
Die EU wird ab sofort bei der Einfuhr von Stahltürmen für Windkraftanlagen aus China Ausgleichs-Zölle erheben. Eine Untersuchung hatte nach Angaben der EU-Kommission ergeben, dass chinesische Anbieter die Türme zu Dumping-Preisen importierten. Die Zölle belaufen sich je nach Hersteller der Stahltürme auf 7,4 bis 19,2 Prozent. Sie werden zunächst für eine Dauer von fünf Jahren erhoben. Ziel sei es, die wirtschaftlichen Schäden zu beseitigen, die europäische Hersteller von Stahltürmen durch die Dumping-Preise erlitten haben, teilte die Brüsseler Behörde mit.
Laut der EU-Untersuchung war der Marktanteil chinesischer Fabrikanten im Sommer 2019 auf 34 Prozent gestiegen, während er im Jahr 2017 lediglich 25 Prozent betrug. Die chinesischen Hersteller hatten ihre Stahltürme demnach mit einem Preisnachlass verkauft. Der chinesische Anteil an den EU-Importen von Stahltürmen für Windkraftanlagen liegt bei etwa 80 Prozent. nib
China hat in den ersten elf Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 14 Prozent mehr Strom aus Solarenergie und 29 Prozent mehr Strom aus Windenergie gewonnen. Allerdings stieg auch die Stromproduktion aus Kohle und Gas um gut 10 Prozent. Der Anstieg bei Atomenergie lag bei gut 12 Prozent. Die Stromproduktion aus Wasserkraft nahm um zwei Prozent ab, wie Zahlen der nationalen Statistikbehörde zeigen. Ein Teil des Anstiegs bei Kohlestrom und den Erneuerbaren ist jedoch statistischen Effekten zuzuordnen. Im Vorjahreszeitraum war die Stromnachfrage aufgrund der Corona-Pandemie gedrosselt.
Zugleich verdichten sich die Anzeichen, dass die Volksrepublik ihr Ziel für den Ausbau für Solarenergie in diesem Jahr verfehlen wird (China.Table berichtete). Der chinesische Verband der Photovoltaik-Industrie gab bekannt, dass die Kapazität zur Erzeugung von Solarenergie in diesem Jahr um 45 bis 55 Gigawatt steigen wird. 10 Gigawatt weniger als zunächst angestrebt. Die Ursachen dafür seien steigende Rohstoffpreise. Für das nächste Jahr wird eine Zunahme der Solar-Kapazität um 75 Gigawatt angestrebt, wie das Wirtschaftsportal Caixin berichtet. nib
Seit 20 Jahren herrscht in der chinesischen Wirtschaft ein Mythos: Immobilienpreise steigen immer. Mit dem Bauboom sind in China zahlreiche Immobiliengesellschaften entstanden, die ständig wachsen. Evergrande ist ein Musterbeispiel für die robuste Vergangenheit von Chinas Immobilienbranche. Mit der “Success Story” im Immobilienmarkt ist der Konzern mittlerweile auch in verschiedenen anderen Branchen unterwegs: der Konzern unterhält einen Profi-Fußballverein, ist Vermögensverwalter, will E-Autos bauen und ist im Gesundheitswesen aktiv.
Doch das vermeintliche “Perpetuum mobile” des immer wachsenden Immobilienmarktes ist nur eine Fantasie. Marktanalysten haben mehrmals davor gewarnt, dass die Immobilienblase platzen wird. In jüngster Zeit ist bereits zu merken, dass sich der chinesische Immobilienmarkt abgekühlt hat. Der Anstieg der Immobilienpreise in China hat sich verlangsamt. In manchen Städten sind die Preise auch zurückgegangen. Damit kommt Evergrande zurück auf den Boden der Realität. Hinzu kommen auch die bitteren Ergebnisse der Diversifikationsstrategie: das E-Auto fährt noch nicht, und der Fußballverein Guangzhou Evergrande nähert sich finanziell eher dem FC Barcelona als dem FC Bayern München an. Die Schuldenkrise von Evergrande ist kein “Government-made”, sondern ein im Unternehmen Evergrande entstandenes – oder besser gesagt ein “Market-driven” Ergebnis.
Etliche Gläubiger setzen darauf, dass die chinesische Regierung (auf nationaler oder regionaler Ebene) eingreifen und ein Rettungspaket schnüren wird. Insbesondere Privatpersonen, die Wohnungen von Evergrande gekauft haben, hoffen, dass Evergrande die Bauarbeiten fortsetzen und den Kaufvertrag erfüllen wird. Bis zum jetzigen Zeitpunkt ist jedoch noch kein Rettungspaket vom Staat angekündigt worden.
Unserer Einschätzung nach wird die chinesische Regierung kein umfassendes Rettungspaket für Evergrande anbieten wollen oder können. Der Umfang der Krise ist noch nicht klar. Zu bedenken ist auch der Dominoeffekt, wenn der Staat mit Steuergeldern ein Unternehmen aus der Krise hilft, dessen Misswirtschaft sehr zu seinem Fall beigetragen hat. In der schwierigen Corona-Zeit hat die chinesische Zentralbank sicherlich dringlichere Herausforderungen zu meistern, als der größte Immobilieninvestor des Landes zu werden.
Es ist aber denkbar, dass sich Staatsunternehmen oder staatlich geführte Investmentfonds in Einzelfällen an einer Restrukturierung der betroffenen Gesellschaft im Evergrande-Konzern beteiligen oder bestimmte Schulden übernehmen könnten. In solchen Fällen sind Staatsunternehmen und staatlich geführte Investmentfonds jedoch normale Marktplayer wie andere potenziellen Investoren bei einem Chapter 11 Verfahren. Nach unserer Einschätzung ist so eine Beteiligung durch Staatsunternehmen oder staatlich geführte Investmentfonds vor allem dann zu erwarten, wenn die Interessen einer größeren Gruppe von Privatpersonen beeinträchtigt werden würden.
Wirtschaftlich ist der Konzern Evergrande am Boden. Rechtlich ergibt sich aber ein hochinteressantes Bild: Einen offiziellen Insolvenzantrag gibt es noch nicht. Das heißt, “by law” lebt Evergrande immer noch.
In China ist das Insolvenzverfahren hauptsächlich im Unternehmensinsolvenzgesetz geregelt, dass am 01.06.2007 in Kraft getreten ist. Wie in Deutschland wird ein Insolvenzverfahren in China beim zuständigen Gericht (People’s Court) auf Antrag eingeleitet. In der Praxis könnte der Investor auf Schwierigkeiten stoßen. Ein Insolvenzverfahren in China ist nicht vergleichbar mit einem solchen Verfahren in Deutschland. Der größte Unterschied der Insolvenzsysteme liegt darin, dass das Konzept “Insolvenzverschleppung” in Festlandchina noch nicht in vergleichbarer Form wie in Deutschland existiert. Das chinesische Unternehmensinsolvenzgesetz sieht keine feste Frist vor, bis wann ein Unternehmen einen Insolvenzantrag stellen muss. Aus deutscher Sicht werden die Insolvenzanträge in China häufig zu spät gestellt. Das ist der gesetzliche Boden, auf dem Evergrande sich immer noch befindet.
Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass Evergrande in der heutigen Form auch Einfluss außerhalb der chinesischen Grenzen hat. Das Unternehmen China Evergrande Group ist an der Hong Kong Stock Exchange gelistet und auf den Cayman Islands registriert. In diesem Fall muss die Gesellschaft die Gesetze der Cayman Islands und die Listing Rules der Hongkonger Börse ebenfalls befolgen. In dieser Hinsicht ist nicht auszuschließen, dass eine Zwangsmaßnahme im Ausland, wie zum Beispiel ein Delisting, früher eintritt als die Insolvenzeröffnung in China.
Was bedeutet die Liquiditätskrise von Evergrande für ausländische Gläubiger? Anders als Gläubiger innerhalb Chinas sind ausländische Gläubiger meist institutionelle Anleger. Das chinesische Insolvenzrecht schließt sicherlich die ausländischen Gläubiger nicht aus. Hierzu gilt der Gleichheitsgrundsatz: weder Nachteil noch Vorteil. Der Vorzug vor chinesischen Gläubigern beziehungsweise Verbrauchern wäre dabei eine Illusion. Hingegen hat man sich auf nervlich aufreibende Gläubigerversammlungen einzustellen. Ob und wie Evergrande – und auch der Staat – die Krise überwinden werden, bleibt spannend. “Too big to fail” existiert im Reich der Mitte nicht.
Jiawei Wang LL.M. ist Legal Counsel und Partner bei Rödl & Partner in Stuttgart. Er hat Rechtswissenschaften in Shanghai sowie in Heidelberg studiert und ist in der Volksrepublik China als Lü Shi (Anwalt chinesischen Rechts) zugelassen. Wang vertritt unter anderem deutsche Industrieunternehmen bei Vertragsverhandlungen und bei Rechtsstreitigkeiten mit chinesischen Geschäftspartnern.
Dalibor Kalina ist neuer Verantwortlicher für das Conti-Reifenersatzgeschäft in der Region Asien-Pazifik. Der 47-Jährige war seit 2015 Leiter des Conti-Pkw-Reifenersatzgeschäfts in China. Er wird zudem Mitglied des Conti Tire Boards. Kalina ersetzt Ferdinand Hoyos (45), der die Aufgabe als Leiter des EMEA-Reifenersatzgeschäftes im Unternehmen übernimmt.
Hilde De Weerdt wird Professorin für chinesische und frühneuzeitliche Globalgeschichte an der Katholischen Universität Leuven in den Niederlanden. Bisher war sie Professorin für Chinesische Geschichte an der Universität Leiden.
Strahlender Sonnenschein draußen? Es geht ein angenehmes Lüftchen? Perfektes Wetter also, um die Wäsche rauszuhängen und in der Sonne zu trocken, oder die Kinder! Keine Sorge. Natürlich wird der Nachwuchs auch in China im realen Leben nicht wirklich an die Leine gehängt. Dafür aber in der Umgangssprache. Dort nämlich ist 晒娃 shài wá – eine Kombination aus 晒 shài (“sonnen, in der Sonne trocknen”) und 娃 wá (umgangssprachlich ein “kleines Kind, Kleinkind”) die gängige Bezeichnung für das Teilen von Baby- und Kinderfotos über Social Media. In unseren Breiten kennt man dieses Verhalten als “Sharenting“, eine Kombi aus “share” (teilen) und “parenting” (Elternschaft).
Die Terrasse zum Trocknen heißt im Reich der Mitte nicht Facebook, sondern “Freundeskreis” (晒朋友圈 shài péngyouquān – “im Wechat-Freundeskreis/den Wechat-Moments sharen/teilen”). Und dort lassen sich natürlich nicht nur Babys “sonnen”, sondern auch
Nimmt das “Sonnenbad” anderer durch deren Dauerpostings überhand und “bürstet” einem beim Scrollen regelrecht den Bildschirm durch (刷屏 shuāpíng “den Screen zupflastern”, auf Chinesisch wörtlich “den Bildschirm durchbürsten”), kann man dem Spuk unter Wechats Privatssphäre-Einstellungen ein Ende setzen. Hier wird unliebsamen Dauerpostern mit einem Wisch der Wind aus den Sonnensegeln genommen. Einfach die entsprechende Option aktivieren, nämlich 不看他/她的朋友圈 bù kàn tā de péngyouquān (“seine/ihre Wechat-Moments nicht ansehen”) und schon werden die Posts des jeweiligen Kontakts nicht mehr angezeigt.
Aber mal ehrlich: Viele von uns Social-Media-Sonnenanbetern haben den Sharing-Impuls doch oft selbst schlecht im Griff. Auch hierfür hat Wechat praktischerweise einen Sonnenschutzschirm integriert, nämlich die Einstellung 不让他/她看 bù ràng tā kàn péngyouquān (“ihm/ihr die Wechat-Moments nicht anzeigen”). So kann man (zum Beispiel berufliche) Kontakte vorsorglich von der eigenen (privaten) Bilderflut verschonen. Sonnenbrandgefahr also erfolgreich gebannt.
Verena Menzel leitet in Peking die Sprachschule New Chinese. Sind Sie neugierig geworden auf weitere chinesische Gimmicks? 24 ausgefallene chinesische Dinge, die einen besonderen Blick auf China geben, hat New Chinese hinter den 24 Türchen des New Chinese Online-Adventskalenders versteckt und wünscht Ihnen damit eine schöne Vorweihnachtszeit!