CEO.Economics
Erscheinungsdatum: 09. Mai 2025

Ist Deutschland gar kein Exportland?

Als früherer Exportweltmeister, heute Platz drei hinter China und den USA, hat Deutschland über Jahrzehnte hinweg so stark von der Globalisierung profitiert wie kaum ein anderes Land. Heute, da die Globalisierung stockt oder sich gar im Rückwärtsgang befindet und aus dem Ruder gelaufene Zollauseinandersetzungen geführt werden, leidet kaum ein anderes Land so stark wie Deutschland unter diesem Deglobalisierungstrend. Das ist die allgemeine Lesart.

Die Begründung liegt auf der Hand: Mit einer Exportquote von in der Spitze 46 Prozent – aktuell liegt sie leicht niedriger – geht rechnerisch fast jedes zweite hierzulande produzierte Gut ins Ausland. Das ist mit weitem Abstand ein Spitzenwert unter vergleichbaren Ländern. Die entsprechenden Werte für Frankreich, Italien oder Großbritannien liegen alle deutlich niedriger. Ebenso die Exportquote Chinas mit 20 Prozent, ganz zu schweigen von der der USA von nur gut zehn Prozent. Die USA sind eine ziemlich geschlossene Volkswirtschaft. In der Regel weisen nur kleinere Länder, die noch stärker in der internationalen Arbeitsteilung spezialisiert sind, eine noch höhere Auslandsorientierung auf als Deutschland. Wird der Zugang zu ausländischen Märkten nun restriktiver, wird in Deutschland die ganze Volkswirtschaft deutlich stärker in Mitleidenschaft gezogen als das in anderen Ländern der Fall. Das ist sehr einleuchtend.

Wir sollten diese Perspektive, die die Wahrnehmung der Struktur der deutschen Volkswirtschaft seit Jahrzehnten prägt, jedoch unbedingt weiten. Warum? Niemand würde auf die Idee kommen, Nordrhein-Westfalen deshalb als exportorientiert zu bezeichnen, weil die dortigen Unternehmen besonders viel ins benachbarte Niedersachsen liefern. Wenn hingegen die baden-württembergische Wirtschaft einen regen Austausch etwa mit der Nachbarregion Grand Est in Frankreich treibt, sprechen wir von Exporten. Hier wird Gleiches statistisch ungleich behandelt, denn in beiden Fällen handelt sich um Geschäfte, die innerhalb eines Binnenmarktes getätigt werden.

Der Europäische Binnenmarkt umfasst über alle EU-Länder hinweg 450 Millionen Bürger und eine Wirtschaftsleistung von 17 Billionen Euro. Er ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass all die globalen Turbulenzen dieser Zeiten hier nicht zu zusätzlichen Kosten oder Risiken führen. Die institutionellen Bedingungen in der EU sind stabil. Betrachtet man nun all jene Waren und Dienstleistungen, die innerhalb der EU – mit oder ohne nationalen Grenzübertritt – gehandelt werden, nicht als Exporte, sondern als Inlandsgeschäfte, so stellt sich die Außenhandelsorientierung Deutschlands ganz anders dar. Unsere Exportquote liegt dann mit 20 Prozent weniger als halb so hoch wie in klassischer Sichtweise.

Es liegt eine große wirtschaftspolitische Chance in der EU, um sich gegenüber weiterem weltwirtschaftlichen Durcheinander zu wappnen. Denn das Potenzial des Europäischen Binnenmarktes ist bei Weitem nicht ausgeschöpft. So beziffert eine Studie des Internationalen Währungsfonds aus dem Jahr 2024 bei Waren die Handelskosten innerhalb des Binnenmarktes auf einen Wert, der einem Zollsatz von 44 Prozent entspricht. Zum Vergleich: Zwischen den US-Bundesstaaten sind es nur 15 Prozent. Darüber hinaus ist der EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen bei weitem nicht vollendet. Hier schätzt die genannte Studie die Kosten sogar auf ein Zolläquivalent in Höhe von 110 Prozent.

Der Europäische Binnenmarkt bietet also noch viel Spielraum zur weiteren Integration und damit großes Potenzial, um innerhalb Europas weitere Handelsgewinne zu realisieren. Angesichts der Unklarheiten über die künftige Weltwirtschaftsordnung und der begrenzten Möglichkeiten Deutschlands und Europas, diese maßgeblich zu beeinflussen, kann die Vertiefung des Europäischen Binnenmarktes durchaus als politischer Imperativ formuliert werden. Sie wäre eine gute Investition in Wachstum und Resilienz gleichermaßen.

Zurück zur Ausgangsfrage: Natürlich ist Deutschland ein Exportland (und ebenso ein Importland, mit all den Risiken auf der Beschaffungsseite). Den Blick zu weiten, Europa als integrierten Markt zu gestalten und zu begreifen, wird uns weniger verwundbar machen, als wenn wir weiter darauf beharren, dass wir ja eigentlich Exportweltmeister sind.

Michael Böhmer ist Chefvolkswirt des Forschungs- und Beratungsunternehmens Prognos. Er lebt in München.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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