der Bildungspolitik steht ein turbulentes Wochenende bevor. Vor wenigen Minuten hat das Wissenschaftler-Gremium der KMK eine schonungslose Analyse vorgelegt – mit Empfehlungen, wie die 16 Bildungsminister auf den Lehrermangel reagieren sollten. Sie sprechen von einer “historischen Herausforderung” und zweifeln – zumindest zwischen den Zeilen – die optimistischen Personalprognosen der KMK an.
Mein Kollege Karl-Heinz Reith präsentiert Ihnen die Stellungnahme der SWK in einem kompakten Überblick. Und schon jetzt ist ein Sturm der Entrüstung vorprogrammiert: Lehrerverbände und Gewerkschaften stehen bereit. Denn die Gutachter schonen niemanden, auch nicht die Pädagogen. Größere Klassen, mehr Pflichtstunden, weniger Teilzeit. Da werden einige Lehrer schlucken.
Die politische Einordnung liefert Ihnen Christian Füller. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass der Lehrermangel die Harmonie unter den Bundesländern massiv stört – gerade in Wahlkampfzeiten, wie in Bayern. Statt der viel beschworenen gemeinsamen Strategie, wagen einige Kultusminister und Ministerpräsidenten Alleingänge. Jedes Land kämpft für sich allein – in der Krise sowieso.
Außerdem im Interview: Isabell Probst. Sie berät Lehrer, die müde sind, ausgebrannt, und die Schule verlassen wollen. Im Interview beschreibt die Ausstiegsberaterin, wie die Kultusministerien ihr Personal fesseln – und warum Prämien keine strategische Personalentwicklung ersetzen. Es sind wichtige Impulse, die ich Ihnen heute besonders empfehlen möchte.
Ein Hinweis in eigener Sache: Wenn Ihnen der Bildung.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Starten Sie gut ins Wochenende!
Größere Klassen, mehr Unterrichts-Pflichtstunden, weniger Teilzeitstellen sowie die Weiterbeschäftigung von bereits pensionierten Lehrern: Das sind die Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusminister zur Bekämpfung des gravierenden Lehrermangels.
“Der Lehrermangel bedroht die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung und beeinträchtigt die Qualität des Unterrichts”,
stellen die Wissenschaftler des Beratungsgremiums in ihren heute in Berlin veröffentlichten Empfehlungen an die Länder fest. Sie verweisen auf die Prognose der Kultusminister, wonach bundesweit bis zum Jahr 2030 rund 31.000 Nachwuchspädagogen für die Neu-Einstellung in den Schuldienst fehlen werden. Daneben beziehen sich die SWK-Experten auch auf Berechnungen anderer Wissenschaftler, die von einem noch deutlich höheren Lehrer-Fehlbestand ausgehen: zum Teil von über 150.000 bis zum Jahr 2035 (Stellungnahme zum Download).
Schon jetzt ist absehbar: Mit der Vorstellung der SWK-Empfehlungen wird in der Bildungslandschaft eine kontroverse Diskussion ausbrechen. Die Maßnahmen sind einschneidend. Zum Jahresende präsentiert die SWK das ausführliche Gutachten zum Lehrermangel, die aktuellen ad hoc Empfehlungen wurden auf Wunsch der Kultusminister vorgezogen.
Weiterbeschäftigung nach der Pensionierung: Knapp 40 Prozent der Lehrkräfte sind 50 Jahre und älter. Bereits vor ihrem Ausscheiden sollten sie für die Weiterbeschäftigung angeworben werden. Die SWK verweist auf die hohe Zahl von Frühpensionierungen. Die Schulminister müssten auch die bisherigen Regeln zur Reduktion der Pflichtstundenzahl aus Altersgründen überprüfen.
Weniger Teilzeitarbeit: Fast jeder zweite Lehrer arbeitet nicht in Vollzeit. Die Teilzeitquote in den Schulen liegt bundesweit bei 47 Prozent, in anderen Branchen im Durchschnitt dagegen nur bei 29 Prozent. Vor allem Lehrerinnen nutzen die Teilzeit-Option. Die Wissenschaftler sehen hier “die größte Beschäftigungsreserve”. Selbst eine nur “maßvolle Aufstockung” ihrer Teilzeit-Arbeitszeit hätte “erhebliche Effekte”, so die Gutachter.
Mehrarbeit: Die Ministerien könnten die wöchentliche Unterrichtszeit der Lehrkräfte erhöhen. Entweder im Vorgriff auf spätere Stunden-Entlastung im Alter oder über finanzielle Abgeltungen. Die Wissenschaftler fürchten allerdings für die kommenden 20 Jahre weiterhin einen Mangel an Lehrkräften. Sie plädieren deshalb eher für zusätzliche Bezahlung.
Lehrkräfte aus dem Ausland: Die Verwaltungen sollen Lehrer, die im Ausland ihre Befähigung zur Lehrerarbeit erworben haben, schneller einstellen. Bisher würden laut einer Studie 80 Prozent der Anträge abschlägig entschieden. Auch Lehrer aus dem Ausland, die nur für ein Fach eine Qualifikation erworben hätten, sollten schneller zugelassen werden, vor allem dann, wenn es sich um ein Mangelfach handele.
Gymnasiallehrer: Der Nachwuchs fehlt laut den Wissenschaftlern in den kommenden Jahren vor allem an den Grund-, Haupt- und Mittelschulen, weniger an den Gymnasien. Zum Teil erwarten sie dort sogar ein Überangebot. Die Wissenschaftler empfehlen daher Nachqualifizierungen. Das Wissen der Gymnasiallehrkräfte reiche nicht aus, “lernförderlichen Unterricht in der Grundschule zu ermöglichen”. Das gelte insbesondere nicht in Basisfächern wie Deutsch und Mathematik, heißt es.
Junge Gymnasiallehrer könnten zunächst in den Klassen 3 und 4 der Grundschulen eingesetzt werden, später auch in den Klassen 1 und 2. Die SWK schließt auch befristete Abordnungen in andere Schulformen nicht aus. Als Anreiz eigneten sich demnach der Status “höherer Dienst” sowie die A-13-Besoldung.
Lehramtsstudenten: Kritisch sehen die Wissenschaftler den selbstständigen Einsatz von noch nicht voll ausgebildeten Lehramtsstudenten im Schuldienst. “Das Risiko, dass aufgrund fehlender Kompetenzen Praktiken unreflektiert nachgeahmt werden und sich vermeintlich funktionierende, aber gleichwohl lernhinderliche Routinen einschleifen, ist groß”, heißt es. Gleichwohl könnten die Studierenden bestimmte entlastende Aufgaben übernehmen. Der Vorschlag: eine “Definition klarer Anforderungsprofile” sowie die Beschränkung des Einsatzes von Studierenden im Master- bzw. Hauptstudium auf maximal zehn Unterrichtsstunden pro Woche.
Klassengrößen: Die Wissenschaftler verweisen auf diverse Studien, wonach die Anzahl der Schüler pro Klasse in der Regel keine Auswirkungen auf den Lernerfolg hat. Die Klassengrößen in Deutschland liegen in den Grundschulen im Schnitt bei 21, im Sekundarbereich I (Klasse 5 bis 10) bei rund 24 Schülern – knapp über dem Schnitt der OECD-Industrienationen. Wer Klassengrößen erhöht, sollte allerdings das Raumangebot der jeweiligen Schule berücksichtigen, schreiben die Gutachter. Sie empfehlen, in Grundschulen wie in “Schulen in herausfordernden Lagen” auf größere Klassen zu verzichten.
Die Wissenschaftler empfehlen zudem:
Die Wissenschaftler machen keinen Hehl daraus, dass die jüngsten alarmierenden Befunde über einen dramatischen Leistungsabfall in den Grundschulen wie in den Sekundarschulen I ursächlich mit dem Lehrkräftemangel zusammenhängen. Laut dem jüngsten IQB-Bildungstrend verfehlt rund ein Fünftel der Grundschüler die Mindeststandards in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Und in der Sek I erreichen 24 Prozent der Neuntklässler in Mathematik nicht die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss. Karl-Heinz Reith
Lesen Sie auch: Das Briefing zum SWK-Gutachten “Weiterentwicklung der Grundschule”
Der Beschluss zum Lehrermangel ist im Duktus der Kultusminister gehalten. Das heißt, nicht jeder Bürger kann ihn sofort verstehen. “Gezielte Werbe- und Informationsmaßnahmen in einem anderen Land werden nur im Einverständnis mit dem jeweiligen anderen Land durchgeführt.” So haben es 16 Länder einstimmig beschlossen. Das bedeutet: Kein Land will anderen Ländern weiter Lehrkräfte abjagen. Keine Akquise mehr in fremden Lehrerzimmern.
Das Gute an diesem Beschluss ist, dass er eine gemeinsame Strategie gegen den dramatischen Lehrermangel einleiten könnte. Das Schlechte: Die Kultusminister haben die “Gemeinsamen Leitlinien der Länder zur Deckung des Lehrkräftebedarfs” bereits 2009 gefasst. Das föderale Headhunting ist also kein neues Phänomen. Es offenbart vielmehr das Wesen der Kulturhoheit der Länder: Jeder Kultusminister kämpft für sich allein – in der Krise sowieso.
Und diese Krise muss Sorgen machen. In dem heute veröffentlichten Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) formulieren die Forscher drastisch: “Die Gesellschaft steht vor einer historischen Herausforderung, die größte Anstrengungen erfordert, um den kommenden Generationen von Schüler:innen ein Unterrichtsangebot zu machen.”
Aber sind sich die Kultusminister der Dramatik bewusst? Ihren eigenen Statistiken nach sind sie es nicht. Für das Jahr 2030 gehen sie davon aus, dass 30.600 Lehrkräfte über alle Schulformen hinweg fehlen. Der beste Experte auf diesem Gebiet, der Bildungsökonom Klaus Klemm, taxiert die Lücke viel höher – er prognostiziert 81.000 fehlende Lehrer. Hohe Zeit also, um das Problem gemeinsam anzugehen. Aber davon ist man weit entfernt.
Erst dieser Tage warf die Vize-Präsidentin der KMK, Karin Prien, dem bayerischen Ministerpräsidenten “Shanghaien” vor – so nennt man das gewaltsame Rekrutieren von Matrosen. Markus Söder hatte zuvor angekündigt, anderen Ländern Pädagogen mit Umzugsprämien und Starterpaketen abzuwerben.
Und Söder ist nicht allein. Die Aussicht, dass im Jahr 2035 bis zu 150.000 Lehrkräfte fehlen könnten, hat in den Ländern eine Vielzahl zentrifugaler Maßnahmen ausgelöst.
Lehrer light: Inzwischen sprießen in den Ländern immer neue Lehrerkategorien. Sachsen-Anhalt hat gerade bei einem Bildungsgipfel bekräftigt, dass Horterzieher künftig in Grundschulklassen als Lehrende auftreten können. In Baden-Württemberg stellt die Bildungsministerin neuerdings junge Leute zu einem freiwilligen pädagogischen Jahr ein. Über 500 von ihnen sollen alsbald ihren Dienst in den Schulen antreten.
Und Brandenburg hat sogar einen klingenden Namen für seine ‘Lehrer light‘ erfunden: Bildungsamtsfrauen und -männer sowie Bildungsamtsräte/-rätinnen. Aber wie immer diese Personen am Pult auch heißen, sie haben alle dieselbe Eigenschaft: Kein anderes Bundesland kann sie abwerben, weil sie nirgends sonst als Lehrer anerkannt sind.
Drehen an der Gehaltsschraube: Im Moment beschließt ein Bundesland nach dem andern, allen Lehrkräften – ungeachtet der Schulform – A13 als Einstiegsgehalt zuzuerkennen. Was nach Uniformität klingt, ist in Wahrheit nur ein Notnagel, der föderale Nachteile ausgleichen soll. Wer sich heute der A13-Besoldung verweigert, der hat im Rennen um Lehrer einen Malus, der nicht ausgleichbar ist. Auch die Kopfgelder, die einzelne Länder ausloben, um Lehrer aufs platte Land und in niedere Schulformen zu locken, sind Abwerbe- und Halteprämien.
Multiprofessionelle Teams: Zu den gern geträumten Fantasien guter Schule gehören die multiprofessionellen Teams. Damit ist gemeint, dass sich nicht mehr nur Lehrkräfte um Schüler kümmern. Auch das hat wenig mit guter Schule, aber viel mit Not zu tun. Wenn nun Krankenschwestern und Schulpsychologen, Sozialarbeiter und -pädagogen in Schulen dürfen, dann sieht man: Der Mangel ist so groß, dass jetzt jede Person im Klassenraum zählt.
Der Aktionismus verstellt indes den Blick darauf, dass es qualifiziertes professionelles Personal gibt. Nur sind die Länder gewissermaßen blind dafür. Es geht um drei Gruppen pädagogischer Profis:
In diesen drei Gruppen steckt qualitativ und quantitativ das Potenzial vieler Tausend Vollzeitäquivalente. Man könnte den Lehrermangel damit kurzfristig ausgleichen. Und es wäre ein glaubwürdiger Schritt, sagt Lippmann, “der im Moment der größten Lehrerkrise die Kleinstaaterei im Schulbereich ein Stück überwindet.”
Zugleich ist es eine Lösung, die Druck auf die Lehrerschaft nicht weiter erhöht. Denn das, was die SWK vorschlägt, die Erhöhung der Arbeitszeit, die Kürzung der Teilzeitmöglichkeiten und die Streichung von Sabbaticals, bestraft Lehrkräfte geradezu. Das wissen auch die Gutachter: Diese Maßnahmen “bringen eine zusätzliche Belastung” für Lehrer mit sich, schreiben sie. Und zwar für Lehrkräfte, “die in den vergangenen Jahren großes Engagement gezeigt haben.”
Was ist das Problem des Arbeitgebers ‘Staat’ an Schulen?
Die Grundidee des Retention Managements ist Schule vollkommen fremd.
Was ist das denn, Retention Management?
Dass ich als Arbeitgeber, etwa als Kultusminister, meinen Mitarbeitern und Führungskräften etwas bieten muss – gerade in Zeiten des Lehrermangels. Damit es attraktiv ist, zu bleiben. Sonst laufen mir diese Leute davon. In der Wirtschaft ist das selbstverständlich.
Was bedeutet das zum Beispiel?
Ich muss als Kultusminister meinen Beschäftigten im Lehrermangel nicht nur Fortbildung anbieten, sondern auch Chancen, innerhalb der Organisation aufzusteigen und zu gestalten. Lehrkräfte wollen sich ihrer individuellen Stärken gemäß entwickeln – und darin gefördert zu werden.
Und das machen die Kultusminister, sprich die staatliche Personalwirtschaft der Schulen, zu wenig.
Sie machen es gar nicht. Sie verstoßen sogar explizit gegen Grundregeln dieser Idee. Der einzige Bleibeanreiz für Lehrer, wenn man so will, ist die Aussicht auf eine Pension – und ein gutes Gehalt. Das hat vor allem mit dem Beamtenrecht zu tun. Das im Wesentlichen im Tausch von Loyalität gegen Alimentation besteht. Von einem attraktiven Arbeitsplatz ist überhaupt nicht die Rede. Für eine moderne Schule ist das viel zu wenig – um nicht zu sagen: eine Katastrophe.
Übertreiben Sie nicht?
Nein, dieses Tauschgeschäft heißt heute: ‘Entweder Du bleibst – oder wir machen Dich altersarm.‘ Wer nämlich aussteigen will, dem wird in nahezu allen Bundesländern die Pension gekürzt, beziehungsweise seine Pensionsansprüche werden nicht portiert. Auf Deutsch: Man darf sie nicht mitnehmen. Das ist eine harte Sanktion. Viele Lehrpersonen, die zu uns in die Beratung kommen, berichten uns, dass sie sich wie in Geiselhaft fühlen.
Sprechen wir tatsächlich noch von Schule, einem Ort also, wo Blütenträume von Reformpädagogik und Achtsamkeit blühen?
Naja, die reale Situation ist im Moment mehrheitlich eine andere. Es herrscht die Schraubzwinge. Das bedeutet, der Staat als Arbeitgeber bindet, nein fesselt die Leute durch Verbeamtung und den Schweigekodex, der damit einhergeht. Auch intern existieren kaum Ventile, weil die starke Hierarchisierung und Fremdbestimmung dazu führt, dass man unzufriedene Lehrer einfach kaltstellen kann. Die Denke moderner Personalentwicklung ist in Schulen noch gar nicht angekommen.
Aber es werden doch zum Beispiel jetzt die Gehälter flächendeckend auf A 13 erhöht und diverse Sonderprämien angeboten.
Ja, so versucht man Lehramtsstudenten zu ködern. Aber das sind keine Lockmittel im Jahr 2023. Und wenn sie funktionieren, dann ziehen sie die Falschen an.
Von welchen Kandidaten für Lehrerstudium und Lehramt sprechen wir?
Bei der sogenannten Generation Z zieht so etwas nicht. Die vermeintlichen Attraktionen, die da aus der Versenkung geholt werden, entsprechen den Motiven der Boomer, der Generation der Jahrgänge 1960 und 1970. Die definieren sich über lange Gehaltszettel und treues Hochdienen. Sie begeben sich dafür aber in Wahrheit in ein lehensherrschaftliches Verständnis. Der Staat sagt: ‘Wir bieten Dir Schutz und Schirm. Und dafür hast Du widerspruchslos Heeresfolge zu leisten.’ Daraus befreien sich nur die Mutigsten.
Was wären Faktoren, die die Generation Z interessant findet?
Für die Menschen aus der Generation 1996 ff. gehören zur Attraktivität des Arbeitsplatzes ‘Schule’ sinnstiftende Karriere- und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie wünschen sich, dass sie in Teams arbeiten können, in denen ein positives Arbeitsklima herrscht.
Das gibt es doch allenfalls an ein paar wenigen Schulen, oder?
Genau. Der Widerspruch zwischen dem, was die Generation Z will – also einen Arbeitsplatz, an dem von 9 bis 17 Uhr nach positiven Regeln gearbeitet wird und danach echte Freizeit gilt -, das gibt es im Lehrerberuf praktisch nicht. Dort herrscht eine völlige Entgrenzung. Oder dass die Zusammenarbeit von flachen Hierarchien und dem dienenden Führungsverständnis der ,Servant Leadership’ geprägt ist. Das ist durch die fremdbestimmte Behördenstruktur jedoch nicht angelegt. Vor allem nicht in solchen Notsituation wie jetzt, wo wir eine historische Krise im Personalbestand erleben.
Das bedeutet, dass wir nicht nur im Loch des Lehrermangels sitzen, das sich die Kultusminister gegraben haben. Sondern dass die obendrein keinen Schlüssel haben, wie man da wieder rauskommt. Sehen Sie in dem neuen Vor-Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission andere Ansätze?
Ich finde nach erster Lektüre dieses Gutachten erstaunlich differenziert – in seinen Details. Aber zunächst ist es natürlich eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede. Man versteht die Bestandslehrerschaft als Verfügungsmasse, die effizienter ausgewrungen werden muss. Den Kultusministern wird als Arbeitgeber empfohlen, die Möglichkeit der Teilzeit, der Altersteilzeit und Sabbatjahre einzuschränken. Das sorgt aber dafür, dass ein Teil der Lehrerschaft die Auswege innerhalb des Systems suchen wird.
Was heißt das?
Sich krankschreiben zu lassen oder früher auszuscheiden. Die ersten Not-Maßnahmen des Gutachtens wirken also meines Erachtens sogar kontraproduktiv. Nur: Wir müssen uns als Gesellschaft eingestehen, das geht im Moment gar nicht anders. Die ausgequetschte Zitrone muss weiter ausgequetscht werden.
Was ist gut an diesem Gutachten?
Zunächst einmal, dass man keine Schönfärberei mehr betreibt, sondern von realistischen Prognosen ausgeht. Das falsche Bild von rund 30.000 fehlenden Lehrkräften bis 2030 wird nicht mehr gemalt. Zudem ist darin ein Wunsch- und Zielbild formuliert, das in meinen Augen einen Paradigmenwechsel bedeutet.
Nämlich?
Es wird zum Beispiel auf multiprofessionelle Teams und Verwaltungskräfte gesetzt, um Lehrern die Arbeit im Kerngeschäft zu erleichtern. Außerdem werden moderne Ansätze aus Schul- und Unterrichtsentwicklung und auch Unterstützersysteme wie Supervision und Gesundheitsmanagement eingefordert. Die Autorinnen und Autoren des Gutachtens sind sich also bewusst, dass eine neue Generation von Lehrerstudierenden auf uns zukommt. Diese Generation braucht eine andere Ansprache und will andere Arbeitsbedingungen. Gegen den aktuellen Notstand hilft das – leider nicht.
Isabell Probst berät Lehrerinnen und Lehrer, die schulmüde sind.
Schon am Tag der Veröffentlichung protestiert der erste Lehrerverband gegen die SWK-Empfehlungen. Jahrelang hätten die Kultusminister den Lehrermangel kleingerechnet, moniert unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). “Die jetzt vorgelegten Maßnahmen sind ein Ausdruck der Hilfslosigkeit“, sagt ihre Vorsitzende Maike Finnern und verweist auf den 15-Punkte-Plan der Gewerkschaft.
Die GEW fürchtet eine Spirale der Überlastung – sollten die Kultusminister den Empfehlungen ihres Beratergremiums folgen. “Das ist blanker Hohn”, sagt Finnern. Die Gewerkschaft vermisst in dem Papier unter anderem Vorschläge für eine Reform der Lehrerausbildung. Hier verweise die SWK lediglich auf ihr bevorstehendes Gutachten zur Lehrkräftebildung. Moritz Baumann
Wie sich die Schulen auf den Lehrermangel einstellen, erfahren Eltern meist nur aus zweiter Hand – über ihre Kinder. Doch es ist allemal ein guter Indikator. Eine repräsentative Umfrage zeigt nun, dass über 60 Prozent der Eltern schulpflichtiger Kinder den Personalmangel in den Schulen wahrnehmen – weil etwa Unterricht ausfällt oder sich ihre Kinder mit Vertretungsstunden begnügen müssen.
Umfrageergebnisse: Download
Im Auftrag des Nachhilfeinstituts Studienkreis hat forsa im Januar 2023 auch konkrete Folgen der Personallücken abgefragt. Die Umfrage differenziert dabei nicht zwischen den einzelnen Bundesländern.
Viele Bundesländer setzen inzwischen auf Quereinsteiger und Studenten, die – mal mehr, mal weniger eigenständig – unterrichten. Eine gute Maßnahme, sagen 75 Prozent der Eltern. Gleichzeitig sprechen sich 40 Prozent der Befragten für mehr digitale Angebote wie Lernvideos zum Selbstlernen aus.
Nur beim Lehrplan, da sollen die Ministerien nicht kürzen: Etwa 80 Prozent der Eltern lehnen die Idee ab, Lern- und Prüfungsinhalte zu reduzieren, beispielsweise durch weniger Schulfächer. Größere Klassen fallen als Notmaßnahme ebenfalls durch. Nur drei Prozent der Befragten hält dies für einen geeigneten Lösungsansatz – allerdings spricht forsa in der Umfrage auch von 40 Kindern pro Klasse. Da schreckt schon die Frage ab. Moritz Baumann
der Bildungspolitik steht ein turbulentes Wochenende bevor. Vor wenigen Minuten hat das Wissenschaftler-Gremium der KMK eine schonungslose Analyse vorgelegt – mit Empfehlungen, wie die 16 Bildungsminister auf den Lehrermangel reagieren sollten. Sie sprechen von einer “historischen Herausforderung” und zweifeln – zumindest zwischen den Zeilen – die optimistischen Personalprognosen der KMK an.
Mein Kollege Karl-Heinz Reith präsentiert Ihnen die Stellungnahme der SWK in einem kompakten Überblick. Und schon jetzt ist ein Sturm der Entrüstung vorprogrammiert: Lehrerverbände und Gewerkschaften stehen bereit. Denn die Gutachter schonen niemanden, auch nicht die Pädagogen. Größere Klassen, mehr Pflichtstunden, weniger Teilzeit. Da werden einige Lehrer schlucken.
Die politische Einordnung liefert Ihnen Christian Füller. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass der Lehrermangel die Harmonie unter den Bundesländern massiv stört – gerade in Wahlkampfzeiten, wie in Bayern. Statt der viel beschworenen gemeinsamen Strategie, wagen einige Kultusminister und Ministerpräsidenten Alleingänge. Jedes Land kämpft für sich allein – in der Krise sowieso.
Außerdem im Interview: Isabell Probst. Sie berät Lehrer, die müde sind, ausgebrannt, und die Schule verlassen wollen. Im Interview beschreibt die Ausstiegsberaterin, wie die Kultusministerien ihr Personal fesseln – und warum Prämien keine strategische Personalentwicklung ersetzen. Es sind wichtige Impulse, die ich Ihnen heute besonders empfehlen möchte.
Ein Hinweis in eigener Sache: Wenn Ihnen der Bildung.Table gefällt, leiten Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail zugeleitet wurde: Hier können Sie das Briefing kostenlos testen.
Starten Sie gut ins Wochenende!
Größere Klassen, mehr Unterrichts-Pflichtstunden, weniger Teilzeitstellen sowie die Weiterbeschäftigung von bereits pensionierten Lehrern: Das sind die Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusminister zur Bekämpfung des gravierenden Lehrermangels.
“Der Lehrermangel bedroht die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung und beeinträchtigt die Qualität des Unterrichts”,
stellen die Wissenschaftler des Beratungsgremiums in ihren heute in Berlin veröffentlichten Empfehlungen an die Länder fest. Sie verweisen auf die Prognose der Kultusminister, wonach bundesweit bis zum Jahr 2030 rund 31.000 Nachwuchspädagogen für die Neu-Einstellung in den Schuldienst fehlen werden. Daneben beziehen sich die SWK-Experten auch auf Berechnungen anderer Wissenschaftler, die von einem noch deutlich höheren Lehrer-Fehlbestand ausgehen: zum Teil von über 150.000 bis zum Jahr 2035 (Stellungnahme zum Download).
Schon jetzt ist absehbar: Mit der Vorstellung der SWK-Empfehlungen wird in der Bildungslandschaft eine kontroverse Diskussion ausbrechen. Die Maßnahmen sind einschneidend. Zum Jahresende präsentiert die SWK das ausführliche Gutachten zum Lehrermangel, die aktuellen ad hoc Empfehlungen wurden auf Wunsch der Kultusminister vorgezogen.
Weiterbeschäftigung nach der Pensionierung: Knapp 40 Prozent der Lehrkräfte sind 50 Jahre und älter. Bereits vor ihrem Ausscheiden sollten sie für die Weiterbeschäftigung angeworben werden. Die SWK verweist auf die hohe Zahl von Frühpensionierungen. Die Schulminister müssten auch die bisherigen Regeln zur Reduktion der Pflichtstundenzahl aus Altersgründen überprüfen.
Weniger Teilzeitarbeit: Fast jeder zweite Lehrer arbeitet nicht in Vollzeit. Die Teilzeitquote in den Schulen liegt bundesweit bei 47 Prozent, in anderen Branchen im Durchschnitt dagegen nur bei 29 Prozent. Vor allem Lehrerinnen nutzen die Teilzeit-Option. Die Wissenschaftler sehen hier “die größte Beschäftigungsreserve”. Selbst eine nur “maßvolle Aufstockung” ihrer Teilzeit-Arbeitszeit hätte “erhebliche Effekte”, so die Gutachter.
Mehrarbeit: Die Ministerien könnten die wöchentliche Unterrichtszeit der Lehrkräfte erhöhen. Entweder im Vorgriff auf spätere Stunden-Entlastung im Alter oder über finanzielle Abgeltungen. Die Wissenschaftler fürchten allerdings für die kommenden 20 Jahre weiterhin einen Mangel an Lehrkräften. Sie plädieren deshalb eher für zusätzliche Bezahlung.
Lehrkräfte aus dem Ausland: Die Verwaltungen sollen Lehrer, die im Ausland ihre Befähigung zur Lehrerarbeit erworben haben, schneller einstellen. Bisher würden laut einer Studie 80 Prozent der Anträge abschlägig entschieden. Auch Lehrer aus dem Ausland, die nur für ein Fach eine Qualifikation erworben hätten, sollten schneller zugelassen werden, vor allem dann, wenn es sich um ein Mangelfach handele.
Gymnasiallehrer: Der Nachwuchs fehlt laut den Wissenschaftlern in den kommenden Jahren vor allem an den Grund-, Haupt- und Mittelschulen, weniger an den Gymnasien. Zum Teil erwarten sie dort sogar ein Überangebot. Die Wissenschaftler empfehlen daher Nachqualifizierungen. Das Wissen der Gymnasiallehrkräfte reiche nicht aus, “lernförderlichen Unterricht in der Grundschule zu ermöglichen”. Das gelte insbesondere nicht in Basisfächern wie Deutsch und Mathematik, heißt es.
Junge Gymnasiallehrer könnten zunächst in den Klassen 3 und 4 der Grundschulen eingesetzt werden, später auch in den Klassen 1 und 2. Die SWK schließt auch befristete Abordnungen in andere Schulformen nicht aus. Als Anreiz eigneten sich demnach der Status “höherer Dienst” sowie die A-13-Besoldung.
Lehramtsstudenten: Kritisch sehen die Wissenschaftler den selbstständigen Einsatz von noch nicht voll ausgebildeten Lehramtsstudenten im Schuldienst. “Das Risiko, dass aufgrund fehlender Kompetenzen Praktiken unreflektiert nachgeahmt werden und sich vermeintlich funktionierende, aber gleichwohl lernhinderliche Routinen einschleifen, ist groß”, heißt es. Gleichwohl könnten die Studierenden bestimmte entlastende Aufgaben übernehmen. Der Vorschlag: eine “Definition klarer Anforderungsprofile” sowie die Beschränkung des Einsatzes von Studierenden im Master- bzw. Hauptstudium auf maximal zehn Unterrichtsstunden pro Woche.
Klassengrößen: Die Wissenschaftler verweisen auf diverse Studien, wonach die Anzahl der Schüler pro Klasse in der Regel keine Auswirkungen auf den Lernerfolg hat. Die Klassengrößen in Deutschland liegen in den Grundschulen im Schnitt bei 21, im Sekundarbereich I (Klasse 5 bis 10) bei rund 24 Schülern – knapp über dem Schnitt der OECD-Industrienationen. Wer Klassengrößen erhöht, sollte allerdings das Raumangebot der jeweiligen Schule berücksichtigen, schreiben die Gutachter. Sie empfehlen, in Grundschulen wie in “Schulen in herausfordernden Lagen” auf größere Klassen zu verzichten.
Die Wissenschaftler empfehlen zudem:
Die Wissenschaftler machen keinen Hehl daraus, dass die jüngsten alarmierenden Befunde über einen dramatischen Leistungsabfall in den Grundschulen wie in den Sekundarschulen I ursächlich mit dem Lehrkräftemangel zusammenhängen. Laut dem jüngsten IQB-Bildungstrend verfehlt rund ein Fünftel der Grundschüler die Mindeststandards in den Kernfächern Deutsch und Mathematik. Und in der Sek I erreichen 24 Prozent der Neuntklässler in Mathematik nicht die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss. Karl-Heinz Reith
Lesen Sie auch: Das Briefing zum SWK-Gutachten “Weiterentwicklung der Grundschule”
Der Beschluss zum Lehrermangel ist im Duktus der Kultusminister gehalten. Das heißt, nicht jeder Bürger kann ihn sofort verstehen. “Gezielte Werbe- und Informationsmaßnahmen in einem anderen Land werden nur im Einverständnis mit dem jeweiligen anderen Land durchgeführt.” So haben es 16 Länder einstimmig beschlossen. Das bedeutet: Kein Land will anderen Ländern weiter Lehrkräfte abjagen. Keine Akquise mehr in fremden Lehrerzimmern.
Das Gute an diesem Beschluss ist, dass er eine gemeinsame Strategie gegen den dramatischen Lehrermangel einleiten könnte. Das Schlechte: Die Kultusminister haben die “Gemeinsamen Leitlinien der Länder zur Deckung des Lehrkräftebedarfs” bereits 2009 gefasst. Das föderale Headhunting ist also kein neues Phänomen. Es offenbart vielmehr das Wesen der Kulturhoheit der Länder: Jeder Kultusminister kämpft für sich allein – in der Krise sowieso.
Und diese Krise muss Sorgen machen. In dem heute veröffentlichten Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) formulieren die Forscher drastisch: “Die Gesellschaft steht vor einer historischen Herausforderung, die größte Anstrengungen erfordert, um den kommenden Generationen von Schüler:innen ein Unterrichtsangebot zu machen.”
Aber sind sich die Kultusminister der Dramatik bewusst? Ihren eigenen Statistiken nach sind sie es nicht. Für das Jahr 2030 gehen sie davon aus, dass 30.600 Lehrkräfte über alle Schulformen hinweg fehlen. Der beste Experte auf diesem Gebiet, der Bildungsökonom Klaus Klemm, taxiert die Lücke viel höher – er prognostiziert 81.000 fehlende Lehrer. Hohe Zeit also, um das Problem gemeinsam anzugehen. Aber davon ist man weit entfernt.
Erst dieser Tage warf die Vize-Präsidentin der KMK, Karin Prien, dem bayerischen Ministerpräsidenten “Shanghaien” vor – so nennt man das gewaltsame Rekrutieren von Matrosen. Markus Söder hatte zuvor angekündigt, anderen Ländern Pädagogen mit Umzugsprämien und Starterpaketen abzuwerben.
Und Söder ist nicht allein. Die Aussicht, dass im Jahr 2035 bis zu 150.000 Lehrkräfte fehlen könnten, hat in den Ländern eine Vielzahl zentrifugaler Maßnahmen ausgelöst.
Lehrer light: Inzwischen sprießen in den Ländern immer neue Lehrerkategorien. Sachsen-Anhalt hat gerade bei einem Bildungsgipfel bekräftigt, dass Horterzieher künftig in Grundschulklassen als Lehrende auftreten können. In Baden-Württemberg stellt die Bildungsministerin neuerdings junge Leute zu einem freiwilligen pädagogischen Jahr ein. Über 500 von ihnen sollen alsbald ihren Dienst in den Schulen antreten.
Und Brandenburg hat sogar einen klingenden Namen für seine ‘Lehrer light‘ erfunden: Bildungsamtsfrauen und -männer sowie Bildungsamtsräte/-rätinnen. Aber wie immer diese Personen am Pult auch heißen, sie haben alle dieselbe Eigenschaft: Kein anderes Bundesland kann sie abwerben, weil sie nirgends sonst als Lehrer anerkannt sind.
Drehen an der Gehaltsschraube: Im Moment beschließt ein Bundesland nach dem andern, allen Lehrkräften – ungeachtet der Schulform – A13 als Einstiegsgehalt zuzuerkennen. Was nach Uniformität klingt, ist in Wahrheit nur ein Notnagel, der föderale Nachteile ausgleichen soll. Wer sich heute der A13-Besoldung verweigert, der hat im Rennen um Lehrer einen Malus, der nicht ausgleichbar ist. Auch die Kopfgelder, die einzelne Länder ausloben, um Lehrer aufs platte Land und in niedere Schulformen zu locken, sind Abwerbe- und Halteprämien.
Multiprofessionelle Teams: Zu den gern geträumten Fantasien guter Schule gehören die multiprofessionellen Teams. Damit ist gemeint, dass sich nicht mehr nur Lehrkräfte um Schüler kümmern. Auch das hat wenig mit guter Schule, aber viel mit Not zu tun. Wenn nun Krankenschwestern und Schulpsychologen, Sozialarbeiter und -pädagogen in Schulen dürfen, dann sieht man: Der Mangel ist so groß, dass jetzt jede Person im Klassenraum zählt.
Der Aktionismus verstellt indes den Blick darauf, dass es qualifiziertes professionelles Personal gibt. Nur sind die Länder gewissermaßen blind dafür. Es geht um drei Gruppen pädagogischer Profis:
In diesen drei Gruppen steckt qualitativ und quantitativ das Potenzial vieler Tausend Vollzeitäquivalente. Man könnte den Lehrermangel damit kurzfristig ausgleichen. Und es wäre ein glaubwürdiger Schritt, sagt Lippmann, “der im Moment der größten Lehrerkrise die Kleinstaaterei im Schulbereich ein Stück überwindet.”
Zugleich ist es eine Lösung, die Druck auf die Lehrerschaft nicht weiter erhöht. Denn das, was die SWK vorschlägt, die Erhöhung der Arbeitszeit, die Kürzung der Teilzeitmöglichkeiten und die Streichung von Sabbaticals, bestraft Lehrkräfte geradezu. Das wissen auch die Gutachter: Diese Maßnahmen “bringen eine zusätzliche Belastung” für Lehrer mit sich, schreiben sie. Und zwar für Lehrkräfte, “die in den vergangenen Jahren großes Engagement gezeigt haben.”
Was ist das Problem des Arbeitgebers ‘Staat’ an Schulen?
Die Grundidee des Retention Managements ist Schule vollkommen fremd.
Was ist das denn, Retention Management?
Dass ich als Arbeitgeber, etwa als Kultusminister, meinen Mitarbeitern und Führungskräften etwas bieten muss – gerade in Zeiten des Lehrermangels. Damit es attraktiv ist, zu bleiben. Sonst laufen mir diese Leute davon. In der Wirtschaft ist das selbstverständlich.
Was bedeutet das zum Beispiel?
Ich muss als Kultusminister meinen Beschäftigten im Lehrermangel nicht nur Fortbildung anbieten, sondern auch Chancen, innerhalb der Organisation aufzusteigen und zu gestalten. Lehrkräfte wollen sich ihrer individuellen Stärken gemäß entwickeln – und darin gefördert zu werden.
Und das machen die Kultusminister, sprich die staatliche Personalwirtschaft der Schulen, zu wenig.
Sie machen es gar nicht. Sie verstoßen sogar explizit gegen Grundregeln dieser Idee. Der einzige Bleibeanreiz für Lehrer, wenn man so will, ist die Aussicht auf eine Pension – und ein gutes Gehalt. Das hat vor allem mit dem Beamtenrecht zu tun. Das im Wesentlichen im Tausch von Loyalität gegen Alimentation besteht. Von einem attraktiven Arbeitsplatz ist überhaupt nicht die Rede. Für eine moderne Schule ist das viel zu wenig – um nicht zu sagen: eine Katastrophe.
Übertreiben Sie nicht?
Nein, dieses Tauschgeschäft heißt heute: ‘Entweder Du bleibst – oder wir machen Dich altersarm.‘ Wer nämlich aussteigen will, dem wird in nahezu allen Bundesländern die Pension gekürzt, beziehungsweise seine Pensionsansprüche werden nicht portiert. Auf Deutsch: Man darf sie nicht mitnehmen. Das ist eine harte Sanktion. Viele Lehrpersonen, die zu uns in die Beratung kommen, berichten uns, dass sie sich wie in Geiselhaft fühlen.
Sprechen wir tatsächlich noch von Schule, einem Ort also, wo Blütenträume von Reformpädagogik und Achtsamkeit blühen?
Naja, die reale Situation ist im Moment mehrheitlich eine andere. Es herrscht die Schraubzwinge. Das bedeutet, der Staat als Arbeitgeber bindet, nein fesselt die Leute durch Verbeamtung und den Schweigekodex, der damit einhergeht. Auch intern existieren kaum Ventile, weil die starke Hierarchisierung und Fremdbestimmung dazu führt, dass man unzufriedene Lehrer einfach kaltstellen kann. Die Denke moderner Personalentwicklung ist in Schulen noch gar nicht angekommen.
Aber es werden doch zum Beispiel jetzt die Gehälter flächendeckend auf A 13 erhöht und diverse Sonderprämien angeboten.
Ja, so versucht man Lehramtsstudenten zu ködern. Aber das sind keine Lockmittel im Jahr 2023. Und wenn sie funktionieren, dann ziehen sie die Falschen an.
Von welchen Kandidaten für Lehrerstudium und Lehramt sprechen wir?
Bei der sogenannten Generation Z zieht so etwas nicht. Die vermeintlichen Attraktionen, die da aus der Versenkung geholt werden, entsprechen den Motiven der Boomer, der Generation der Jahrgänge 1960 und 1970. Die definieren sich über lange Gehaltszettel und treues Hochdienen. Sie begeben sich dafür aber in Wahrheit in ein lehensherrschaftliches Verständnis. Der Staat sagt: ‘Wir bieten Dir Schutz und Schirm. Und dafür hast Du widerspruchslos Heeresfolge zu leisten.’ Daraus befreien sich nur die Mutigsten.
Was wären Faktoren, die die Generation Z interessant findet?
Für die Menschen aus der Generation 1996 ff. gehören zur Attraktivität des Arbeitsplatzes ‘Schule’ sinnstiftende Karriere- und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie wünschen sich, dass sie in Teams arbeiten können, in denen ein positives Arbeitsklima herrscht.
Das gibt es doch allenfalls an ein paar wenigen Schulen, oder?
Genau. Der Widerspruch zwischen dem, was die Generation Z will – also einen Arbeitsplatz, an dem von 9 bis 17 Uhr nach positiven Regeln gearbeitet wird und danach echte Freizeit gilt -, das gibt es im Lehrerberuf praktisch nicht. Dort herrscht eine völlige Entgrenzung. Oder dass die Zusammenarbeit von flachen Hierarchien und dem dienenden Führungsverständnis der ,Servant Leadership’ geprägt ist. Das ist durch die fremdbestimmte Behördenstruktur jedoch nicht angelegt. Vor allem nicht in solchen Notsituation wie jetzt, wo wir eine historische Krise im Personalbestand erleben.
Das bedeutet, dass wir nicht nur im Loch des Lehrermangels sitzen, das sich die Kultusminister gegraben haben. Sondern dass die obendrein keinen Schlüssel haben, wie man da wieder rauskommt. Sehen Sie in dem neuen Vor-Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission andere Ansätze?
Ich finde nach erster Lektüre dieses Gutachten erstaunlich differenziert – in seinen Details. Aber zunächst ist es natürlich eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede. Man versteht die Bestandslehrerschaft als Verfügungsmasse, die effizienter ausgewrungen werden muss. Den Kultusministern wird als Arbeitgeber empfohlen, die Möglichkeit der Teilzeit, der Altersteilzeit und Sabbatjahre einzuschränken. Das sorgt aber dafür, dass ein Teil der Lehrerschaft die Auswege innerhalb des Systems suchen wird.
Was heißt das?
Sich krankschreiben zu lassen oder früher auszuscheiden. Die ersten Not-Maßnahmen des Gutachtens wirken also meines Erachtens sogar kontraproduktiv. Nur: Wir müssen uns als Gesellschaft eingestehen, das geht im Moment gar nicht anders. Die ausgequetschte Zitrone muss weiter ausgequetscht werden.
Was ist gut an diesem Gutachten?
Zunächst einmal, dass man keine Schönfärberei mehr betreibt, sondern von realistischen Prognosen ausgeht. Das falsche Bild von rund 30.000 fehlenden Lehrkräften bis 2030 wird nicht mehr gemalt. Zudem ist darin ein Wunsch- und Zielbild formuliert, das in meinen Augen einen Paradigmenwechsel bedeutet.
Nämlich?
Es wird zum Beispiel auf multiprofessionelle Teams und Verwaltungskräfte gesetzt, um Lehrern die Arbeit im Kerngeschäft zu erleichtern. Außerdem werden moderne Ansätze aus Schul- und Unterrichtsentwicklung und auch Unterstützersysteme wie Supervision und Gesundheitsmanagement eingefordert. Die Autorinnen und Autoren des Gutachtens sind sich also bewusst, dass eine neue Generation von Lehrerstudierenden auf uns zukommt. Diese Generation braucht eine andere Ansprache und will andere Arbeitsbedingungen. Gegen den aktuellen Notstand hilft das – leider nicht.
Isabell Probst berät Lehrerinnen und Lehrer, die schulmüde sind.
Schon am Tag der Veröffentlichung protestiert der erste Lehrerverband gegen die SWK-Empfehlungen. Jahrelang hätten die Kultusminister den Lehrermangel kleingerechnet, moniert unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). “Die jetzt vorgelegten Maßnahmen sind ein Ausdruck der Hilfslosigkeit“, sagt ihre Vorsitzende Maike Finnern und verweist auf den 15-Punkte-Plan der Gewerkschaft.
Die GEW fürchtet eine Spirale der Überlastung – sollten die Kultusminister den Empfehlungen ihres Beratergremiums folgen. “Das ist blanker Hohn”, sagt Finnern. Die Gewerkschaft vermisst in dem Papier unter anderem Vorschläge für eine Reform der Lehrerausbildung. Hier verweise die SWK lediglich auf ihr bevorstehendes Gutachten zur Lehrkräftebildung. Moritz Baumann
Wie sich die Schulen auf den Lehrermangel einstellen, erfahren Eltern meist nur aus zweiter Hand – über ihre Kinder. Doch es ist allemal ein guter Indikator. Eine repräsentative Umfrage zeigt nun, dass über 60 Prozent der Eltern schulpflichtiger Kinder den Personalmangel in den Schulen wahrnehmen – weil etwa Unterricht ausfällt oder sich ihre Kinder mit Vertretungsstunden begnügen müssen.
Umfrageergebnisse: Download
Im Auftrag des Nachhilfeinstituts Studienkreis hat forsa im Januar 2023 auch konkrete Folgen der Personallücken abgefragt. Die Umfrage differenziert dabei nicht zwischen den einzelnen Bundesländern.
Viele Bundesländer setzen inzwischen auf Quereinsteiger und Studenten, die – mal mehr, mal weniger eigenständig – unterrichten. Eine gute Maßnahme, sagen 75 Prozent der Eltern. Gleichzeitig sprechen sich 40 Prozent der Befragten für mehr digitale Angebote wie Lernvideos zum Selbstlernen aus.
Nur beim Lehrplan, da sollen die Ministerien nicht kürzen: Etwa 80 Prozent der Eltern lehnen die Idee ab, Lern- und Prüfungsinhalte zu reduzieren, beispielsweise durch weniger Schulfächer. Größere Klassen fallen als Notmaßnahme ebenfalls durch. Nur drei Prozent der Befragten hält dies für einen geeigneten Lösungsansatz – allerdings spricht forsa in der Umfrage auch von 40 Kindern pro Klasse. Da schreckt schon die Frage ab. Moritz Baumann