Table.Briefing: Bildung

Lernstandserhebung unter Verschluss + Ulf Matysiak + Jan-Martin Klinge + Go Student + Alexander Otto

  • Bundesländer verstecken Daten über Lernlücken
  • Interview mit Teach-First-Chef Ulf Matysiak
  • Blogpost: Jan-Martin Klinge über das Corona-Schuljahr
  • Erstes Einhorn unter Bildungs-Startups
  • Makerspace: Schulleiter Alexander Otto
  • Didaktik & Tools: Digital gestützte Selbsteinschätzung
Liebe Leserin, lieber Leser,

wie steht es um das Wissen unserer Kinder zum Ende dieses Schuljahres? Jeder spricht von Lernverlusten, aber niemand kennt die Ausmaße. Das freilich ist falsch, wie eine Recherche von Bildung.Table und der Open Knowledge Foundation unter den Kultusministerinnen gezeigt hat. Denn die Politikerinnen wissen Bescheid! Lesen Sie dazu die Analyse von einem mutwilligen Blindflug

Ulf Matysiak hat eine ganz andere Vorstellung, wie man Lernlücken beseitigen könnte. Stichwort: Selbstwirksamkeit. Matysiak schickt mit Teach First jedes Jahr sogenannte Fellows in Brennpunktschulen, das sind exzellente Hochschulabsolventen, die sich zwei Jahre als Lernhelfer engagieren. 

200 Millionen Euro – so viel frisches Geld hat das österreichische Startup Go Student eingesammelt. Wo kommt das her, wo geht das hin, und was ist überhaupt ein Einhorn?

Ansonsten lesen Sie eine Ausgabe großartiger Lehrerinnen und Lehrer. Iris Laube-Stoll verrät, warum Schüler beim digitalen Selbsteinschätzen viel lernen (Didaktik & Tools). Der bekannteste Direktoren-Blogger Deutschlands, Jan-Martin Klinge, prüft, wie verloren “das verlorene Jahr” wirklich war (Blogpost). Und Alexander Otto erläutert, was in seiner Grace-Hopper-Schule auf Top-Eins des Lehrplans steht (Makerspace). 

Ihr
Christian Füller
Bild von Christian  Füller

Analyse

Länder verstecken Daten über Lernlücken

Die Lernlücken von Schülern aus der Pandemie-Zeit sind das große Thema der Bildungspolitik. Allerdings weiß niemand, wo die Schülerinnen und Schüler genau stehen. Bislang gibt es kaum verlässliche Studien dazu. Jedenfalls nahm man das an. Nun haben Recherchen von Bildung.Table und der Open-Knowledge-Foundation ergeben, dass eine ganze Reihe von Bundesländern Kompetenztests bei Schülern auch während Corona durchgeführt hat – aber die Ergebnisse praktisch vor den Bürgern versteckt. Mehrere Kultusminister ließen auf Nachfrage mitteilen, dass sie die sogenannten “Vergleichsarbeiten” (Vera) nicht veröffentlichen wollen. Vera-Tests sind Messungen der Kenntnisse von Dritt- und Achtklässlern, die Auskunft über deren Lernstand geben.

Die Diskussion über die Wissensdefizite hatte vergangene Woche eine Studie des Instituts für Pädagogische Psychologie an Frankfurts Goethe-Uni angeheizt. Andreas Frey will dabei herausgefunden haben, dass der Lernzuwachs beim digitalen Fernunterricht während Corona in etwa dem von Schülern in den Sommerferien entsprochen habe – also Stagnation oder gar Schrumpfung. Auch Frey hatte allerdings kaum empirisches Material aus Deutschland vorliegen. Recherchen von Bildung.Table zeigen nun, dass eine ganze Reihe von Ländern den sogenannten Vera-Vergleichstest sehr wohl durchgeführt hat – die Ergebnisse aber im Giftschrank behalten will. Einzig Baden-Württemberg, NRW, Schleswig-Holstein und Hamburg stellten die Vera-Ergebnisse sofort zur Verfügung. Die anderen Ländern teilten reihum mit, die Tests seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. 

“Erhebliche Lernrückstände entstanden” 

Typisch war eine Aussage aus dem Saarland. “Wir können schon jetzt aber sagen, dass in der Krise teilweise erhebliche individuelle Lernrückstände entstanden sind”, teilte ein Sprecher mit. Woher er sein Wissen bezieht, bleibt freilich sein Geheimnis. Denn gleichzeitig hieß es aus demselben Ministerium, dass sich aus den aktuellen Vergleichsarbeiten im Saarland “keine Rückschlüsse auf mögliche Lernlücken ziehen lassen, die pandemiebedingt entstanden sein könnten.” 

Auch Bayern weigerte sich, die Tabellen der Vergleichsarbeiten zur Einsicht freizugeben. “Weder eine Veröffentlichung von Vera-Ergebnissen einzelner Schulen noch ein Vergleich von Schulen ist vorgesehen”, schrieb ein Sprecher, “da dies dem Zweck der Vera-Testungen widerspricht.” Kurz gesagt: alle Bundesländer haben die Röntgenapparate bereitstehen, um eventuelle Lernbrüche der Schüler zu messen und sichtbar zu machen. Die meisten vermeiden es aber tunlichst oder verbitten sich sogar, die Ergebnisse herauszurücken. 

“Die Vera-Daten gehören nicht den Ministerien”

So war das Kultusministerium in Rheinland-Pfalz auch auf Nachfrage nicht bereit, die landesweiten Ergebnisse der “Vera 8”-Studie zu offenbaren. “Die Ergebnisse der Vera-Untersuchungen werden in Rheinland-Pfalz den Schulen ausschließlich zur internen Evaluation zur Verfügung gestellt”, verweigerte sich ein Sprecher. Dabei musste Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) erst kürzlich auf eine Anfrage über “Frag-den-Staat” die Resultate der Vera-Studien von 2009 bis 2019 bereitstellen. Die Open Knowledge Foundation (OKF) hat die Herausgabe von Vera-Studien auf diese Art erzwungen. Die Stiftung veröffentlicht sie heute auf der Homepage Wo-ist-Vera.de. “Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Kultusminister öffentliche Daten über öffentliche Einrichtungen geheim halten”, sagte Maximilian Voigt von der Stiftung zu Bildung.Table. “Diese Lernstandsdaten gehören nicht den Ministerien, sondern sie gehören in die Öffentlichkeit.”

Die Wissenschaft sieht das ähnlich. Befragte Forscher sagten, dass eine Verheimlichung der Daten nicht hinnehmbar sei. “Die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten sollten zurückgemeldet und ausgewertet werden”, meinte etwa Axel Plünnecke vom Institut der Wirtschaft in Köln. “Die Aggregation der Daten ist wichtig, damit man auch für ein Bundesland in Gänze die Regionen ermitteln kann, in denen die Lücken am größten sind, um dort dann auch stärker unterstützen zu können.” 

Die Vera-Tests sind qualitativ erstklassige Fragebögen, die das zentrale “Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen” (IQB) in Berlin entwickelt und an die Länder weiter gibt. Ein bundesweites Auswerten der erhobenen Daten ist dem IQB allerdings praktisch verboten. Das geht auf Beschlüsse der KMK aus den Jahren 2012 und 2018 zurück, die besagen, dass “die Vera-Daten weder für einen Ländervergleich noch für die Veröffentlichung landesinterner Vergleiche genutzt werden”. Hintergrund ist, dass die Kultusminister damals der dauernden Pein von Länder-Ranglisten entgehen wollten, die ihnen die berühmten Pisa-Studien beschert hatten. 

Vergleichsarbeiten werden nicht genutzt

Aber kann das auch in Zeiten der Pandemie und großer Ängste um Lernlücken gelten? Die Vera-Ergebnisse aus den Ländern könnten selbstverständlich auch für eine bundesweite Lernstandserhebung genutzt werden. So steht es sogar im KMK-Beschluss von 2018: “eine landesinterne Nutzung von Vera-Daten ist möglich”. Vor allem aber drängen Forscher auf die Freigabe der Daten. Dies sei angesichts der Frage, wie groß die Lernlücken tatsächlich sind, dringend nötig. “Wir haben Vergleichsarbeiten, aber nutzen diese nicht, um systematisch genau hinzusehen”, beklagte sich Plünnecke. Auf Ergebnisse aus den beiden maßgeblichen Messinstituten in Deutschland, dem IQB in Berlin und dem Institut für Bildungsverläufe in Bamberg, muss die Nation noch warten. Die Institute werden eigene Lernstandserhebungen erst im Jahr 2022 veröffentlichen, ließen sie wissen. Sie sind derzeit in der Phase der Erhebung. Das Leibniz-Institut etwa testet gerade ein Sample von 2.500 Schülern in Mathe

Sieht man sich die Vera-Daten an, die entweder auf Anfrage oder mittels einer Frag-den-Staat-Initiative der OKF öffentlich wurden, so ist folgendes festzustellen: Lernlücken lassen sich aus den – bislang – verstreuten Untersuchungen nicht ableiten, eher sind dort im Jahr 2020 höhere Kompetenzwerte als im Vorjahr abzulesen. In Hamburg etwa wurden zum Teil kleine Lernsprünge gemessen. Eine Studie in Baden-Württemberg hat ergeben, “dass die Fünftklässler/innen im September 2020 Lernrückstände von etwa einem Monat im Vergleich zu den Jahrgängen 2017-2019” hatten. Bei Vera 8 lässt sich sogar ein deutlicher Zuwachs der oberen Kompetenzgruppen im Südwesten ablesen: 2020 lag 65 Prozent der Schüler auf oder oberhalb der Kompetenzstufe 3. Im Jahr 2019 waren dies nur 56 Prozent. In Schleswig-Holstein war es ähnlich: die Kompetenzwerte von 2020 im Lesen liegen deutlich über denen von 2019.

Bildungspolitik in der Blackbox 

Wie ist ein solches Ergebnis zu interpretieren? Wurden bei den freiwilligen Vera-Tests eventuell überproportional viele bessere Schüler gemessen? Wie fällt der Vergleich zu anderen Bundesländern aus? Dazu lässt sich derzeit praktisch nichts sagen – obwohl in den Ländern fertige und vergleichbare Ergebnislisten vorliegen. Eine Sprecherin von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) ermunterte die Kultusminister denn auch, die Daten freizugeben: “Wir begrüßen eine umfassendere Datenlage und unterstützen deshalb gern Bestrebungen, die dazu aus den Ländern kommen.” 

Maximilian Voigt von der Open Knowledge Foundation findet die Blockade vieler Länder grundfalsch. “Das Zurückhalten dieser Daten ist undemokratisch, denn es nimmt Bürger*innen die Möglichkeit, Bildungspolitik zu bewerten”. Das Fazit der OKF: “In Deutschland wird Bildungspolitik in einer Blackbox gemacht”. 

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    Die große Illusion Nachhilfe

    Ulf Matysiak ist der Geschäftsführender Gesellschafter von Teach First Deutschland.
    Ulf Matysiak ist der Geschäftsführende Gesellschafter von Teach First Deutschland.

    Herr Matysiak, Sie und Ihre Fellows in Brennpunktschulen erleben die Ungleichheiten im Bildungssystem hautnah. Reicht es aus, dass die Bundesregierung zwei Milliarden Euro für die psychosoziale Versorgung von Schülern und für Nachhilfe zur Verfügung stellt? 

    Ulf Matysiak: Zunächst ist es richtig, dass sie es tut. Ich halte es für einen Irrglauben, dass man die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche ohne zusätzliches Geld auffangen kann. Wenn man allerdings tiefer in das Aufhol-Paket reinguckt, dann merkt man schnell, dass die Mittel nicht sehr üppig sind (Bildung.Table berichtete). Die beiden Milliarden machen deutlich unter fünf Prozent der Bildungsausgaben aus – das reicht gerade mal für einen Impuls. 

    Die Niederlande nehmen ein Vielfaches der Bundesrepublik für Coronahilfen in die Hand. Wie viel sollte die Bundesregierung für das Wohl von Schülern ausgeben? 

    Ich glaube, im ersten Jahr wäre gar nicht so viel mehr Geld nötig, ja nicht mal möglich. Die Erfahrungen etwa mit dem Digitalpakt zeigen uns, dass das Bildungssystem Schwierigkeiten hat, fünf Milliarden Euro in der Kürze der Zeit sinnvoll auszugeben (Bildung.Table berichtete). Die Verwaltungsebenen der Länder und Kommunen sind gar nicht darauf eingestellt, so eine Geldspritze ad hoc sinnvoll in die Fläche zu bringen. Ich würde sagen, fangen wir beim Aufholen mit zwei Milliarden an – und erhöhen das jedes Jahr noch mal um eine oder um zwei. Denn das dicke Ende kommt erst noch. 

    Was heißt das? 

    Die echten Probleme an den Schulen stehen uns noch bevor. Meine Prognose ist, dass sich die Wirtschaft von Corona deutlich schneller erholt haben wird. Im schulischen Bildungssystem aber werden wir noch lange mit den Folgen zu tun haben. Insofern bin ich überzeugt, dass wir zehn Milliarden bis 15 Milliarden über die nächsten fünf Jahre brauchen, um seriös Abhilfe schaffen zu können. Also: Die zwei Milliarden sind ein guter erster Impuls – aber der muss natürlich auch in die richtige Richtung gehen. 

    Sie sagen es selbst: Man muss sich um die Lernlücken kümmern!

    Mir missfällt der Begriff etwas, weil er suggeriert, dass es nun vor allem um Unterrichtsinhalte gehen muss, die aufgeholt werden sollen. Ebenso die Konzentration auf Nachhilfe (Bildung.Table berichtete). Mir ist das zu negativ, dass die Kinder jetzt aufholen müssen. Als ob die was dafür könnten, dass es uns nicht gelungen ist, ihnen weiter gehaltvolles Lernen anzubieten. Dabei fehlten uns eigentlich nur die Schulgebäude. 

    Sie wissen, dass das kein kleiner Einschnitt für ein Schulsystem ist, das bisher zu 100 Prozent aufs Klassenzimmer gesetzt hat.

    Aber wir hatten die Leute, also die LehrerInnen, wir wussten über die Inhalte Bescheid und wir kannten die Methoden. Am Ende des Tages ist es schon erstaunlich, wie wenig Adaptionsleistung Schule innerhalb der letzten 16 Monate etwa im Vergleich zur Wirtschaft hinbekommen hat. Es wäre wichtig gewesen, das Verhältnis von Präsenz und Distanz, von asynchron und synchron neu zu gestalten. Das ist möglich, wie viele Schulen und bestimmte Formate wie flipped clasroom uns zeigen (Bildung.Table berichtete). Aber es waren die Schulen und die Kultusminister, die das in der Breite nicht hinbekommen haben. Und jetzt sollen die Kids dafür in den Ferien nachsitzen, weil sie etwas versäumt hätten. Das finde ich wirklich falsch. 

    Ist es auch falsch, auf Nachhilfe zu setzen?

    Jedenfalls halte ich für es eine große Illusion, über Nachhilfe in synchronen Formaten das aufzuholen, was im Laufe des Schuljahres verpasst wurde. Wir haben weder die räumlichen Ressourcen noch die personellen oder zeitlichen Kapazitäten, um das irgendwie in einem Jahr aufholen zu können. Das wird nicht funktionieren. Wir müssen eigentlich an einer anderen Stelle ansetzen. 

    An welcher Stelle?

    Wir sollten diese Zeit nicht nur für stofflich-curriculare Themen, sondern vor allem dafür nutzen, die Selbstlern-Kompetenzen der Schüler aufzubauen. Wir sollten sie befähigen, wieder in die Position des Lenkenden zu kommen. Sie müssen lernen, sich selbst Wissen und Kompetenzen anzueignen. Es geht meines Erachtens zuallererst darum, die Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen zu stärken. Ich meine die Überzeugung und den Glauben daran, dass man seine eigenen Geschicke in die Hand nehmen kann. Das, was wir gerade erleben, ist das Gegenteil davon: die Renaissance der Lernhefte und Arbeitsblätter – in digitaler Form oder auch in gedruckter Form. Da waren wir schon mal viel weiter.

    Lässt sich mit reformpädagogischer Homöopathie eine veritable Bildungskrise lösen? 

    Meine und die Erfahrungen der Fellows von Teach First zeigen mir, dass sich das Selbstbewusstsein der Kids gerade in der Krise fördern lässt. Wir arbeiten in Schulen, wo das Problem, das jetzt in der Breite auftritt, so etwas wie Alltag ist. Wir sehen hier, dass es hilft, den Kindern mehr zuzutrauen. Das wirkt sich meist schnell auf den Kompetenzerwerb aus. Wir haben gelernt, dass wir zuerst an der Stärkung von Selbstwirksamkeit arbeiten, bevor wir uns um fachliche Inhalte kümmern können. Diese Felder pädagogischer Arbeit zu trennen, halte ich übrigens für eines der größten Probleme – gerade an Brennpunktschulen. 

    In der Lehrerszene wird digitalen Bildungsanbietern vorgeworfen, dass sie nur Geld machen wollten. Ist das so?

    Ich bin jetzt nicht der große Marktkritiker. Wenn jemand sich im Markt etabliert und Abnehmer findet für das, was er macht, dann hat das erstmal seine Berechtigung. Es gibt etablierte Player und ein paar neue Gründungen in den letzten anderthalb Jahren – einen richtigen kleinen Schub. Entscheidend ist für mich aber am Ende immer die Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Also zu gucken, wie ist der Impact und wie können wir miteinander mehr erreichen, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht.

    Es ist noch ein anderer Streit über die Nachhilfemilliarde entbrannt; zwischen der Forderung, das Geld in Nachhilfe zu stecken, und der, das ganze Schulsystem zu reformieren. Was ist Ihre Position? 

    Also zu glauben, man könnte mit zwei Milliarden Euro vom Bund ein neues Schulsystem bauen, das halte ich für Quatsch. Zumal das Geld nicht das Problem ist, wenn wir über den schulischen Reformstau sprechen. Da geht es um politischen Willen und ganz konkret auch um Verwaltungshandeln. Wir haben ja nicht nur ein schulisches Bildungssystem, sondern 16 verschiedene in den Ländern. Wenn man die reformieren will, dann muss man es auf Landesebene machen oder man muss die Verfassung ändern – oder am besten beides. Das kann man aber mit Geld weder kaufen noch beschleunigen.

    Selbst Dorothee Bär, die immerhin im Kanzleramt sitzt und von der CSU ist, übt inzwischen massive Kritik am Bildungsföderalismus. Gibt es denn irgendeinen Hinweis, dass der Bund Bildung besser könnte?

    Ich sehe überhaupt keine Mehrheit, den Bildungsföderalismus abzuschaffen. Aber nehmen wir mal an, der Bund wäre Zentralverantwortlicher für das Bildungssystem. Dann wäre eine Behörde aufzubauen, die ein Vielfaches der Bundeswehr an Personalverantwortung hätte. Ob das zu einem leistungsfähigeren System führen würde? Und was wäre ein realistischer Zeitraum für so eine Reform, drei Jahre oder fünf oder sogar sieben? Für den Moment ist das also meines Erachtens kein erreichbares Ziel. Die Schülerinnen und Schüler, die heute im System sind, würden von einer langwierigen Bildungsreform nicht profitieren. Insofern würde ich mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen von heute empfehlen, das eine zu tun und das andere nicht sein zu lassen. Wir sind verpflichtet, denen jetzt sofort zu helfen – und gleichzeitig den Druck zu erhöhen, um eventuell notwendige Bildungsreform anzugehen. 

    Teach First ist eine gemeinnützige Bildungseinrichtung nach dem Vorbild von “Teach For America”, die Hochschulabsolventen aus nicht-erziehungswissenschaftlichen Disziplinen für zwei Jahre in Brennpunktschulen als Fellows entsendet.

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      Blogpost

      “Nie zuvor so viel gelernt”

      Gastbeitrag von Jan-Martin Klinge (halbtagsblog.de)

      Ich bin seit mehr als zehn Jahren Lehrer. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die mit den Umständen klarzukommen versuchen und wenig Energie ins Lamentieren stecken. Das Pandemie-Jahr war ätzend – aber es wird für niemanden besser, wenn ich mein Leid lauthals beklage.

      Ich arbeite an einer städtisch geprägten Gesamtschule im Aufbau. “Städtisch geprägt” bedeutet: sehr heterogene, inklusive Schülerschaft. Kein ländliches Privatgymnasium sozusagen. Vor drei Jahren haben wir begonnen unsere Verwaltungsprozesse zu digitalisieren. Vor zwei Jahren einen ersten Tabletjahrgang eingeführt. Mit der ersten Schulschließung haben wir diesen Prozess vorangetrieben und mit Unterstützung der Stadt schließlich alle Kinder mit einem digitalen Endgerät ausstatten können. Seit einem halben Jahr befinden wir uns in der Vorbereitung zu einer großen Schultransformation.

      Puffer zwischen den Interessen 

      An meiner vierzügigen Schule bin ich hauptverantwortlich für die Jahrgangsstufen 5-7. Anmeldungen, Abmeldungen, Verfehlungen, Elterngespräche, Klassenfahrten, Koordination der Jahrgangsstufen. Darüber hinaus arbeiten wir in unserem Schulleitungsteam extrem kompetenzorientiert, mit viel Vertrauen und mit fließenden Übergangen in der Aufgabenverteilung.

      Dieses Jahr war herausfordernd, weil man als Schulleitung oft der Puffer zwischen den vielen Interessen war. Für einige Eltern waren die Masken schon völlig übertrieben, andere fragten frustriert an, wann wir denn endlich in der Schule mit dem Impfen beginnen würden.

      Das Kollegium suchte nach Planungssicherheit, die wir oft nicht geben konnten. Was, wann und wie galt, erfuhren wir manchmal freitagabends im WDR. Wann wird geimpft? Warum wir nicht? Wann kommen die Tests? Wie werden die durchgeführt? Was macht man bei positivem Ergebnis? Ist das Gesundheitsamt, die Schulleitung oder sind die Eltern verantwortlich?

      Darüber hinaus Gespräche mit der Stadt: Wie gehen die Umbaumaßnahmen weiter? Wann kommen zusätzliche Masken? Und tausend Dinge mehr.

      Das war an manchen Tagen nur semi-schön.

      Darüber hinaus sind wir Schule im Aufbau: Einen Stillstand können wir uns schlicht nicht erlauben, ab kommendem Schuljahr muss die Oberstufe geplant werden. Und entgegen eines ersten Gedankens wird es nicht so sein, dass bei uns einfach alle Schüler:innen mit notwendiger Qualifikation auch Lust aufs Abitur haben und sich eine Oberstufe von selbst aufstellt. Das wird harte Überzeugungsarbeit in vielerlei Richtungen.

      Den Schulentwicklungsprozess haben wir gemeinsam mit dem Kollegium, welches durch Schulschließung, Testung, persönliche Sorge und zusätzliche Sozialarbeit bei den Kindern über Gebühr belastet war, noch zusätzlich gestemmt. Schlicht ein Wahnsinnsprogramm für alle Beteiligten.

      Nie zuvor habe ich so viel gelernt. Nie zuvor so intensiv und so viel gearbeitet. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.

      Kein 6-stündiger Videochat für Kinder

      Neben den Schulleitungsaufgaben unterrichte ich mit halber Stelle: Zwei Mathekurse, zwei Technik-Kurse und zwei Physikkurse habe ich diesem Jahr begleitet. Ob und wann und wie nächste Woche noch Unterricht stattfindet, war eine ständige UngewissheitKönnen wir in zwei Wochen noch die Klassenarbeit schreiben? Im Dezember steht Magnetismus in der 6 an – wie soll das im Fernunterricht gehen? Wie um alles in der Welt soll ich Technik-Unterricht per Video-Konferenz durchführen? Hallo – habt ihr zufällig eine Oberfräse zu Hause im Kinderzimmer? Na, schade, dann schaut mir mal beim Fräsen zu…!”

      Mehr als je zuvor habe ich mir Gedanken um meinen Unterricht gemacht. Mehr als je zuvor habe ich meinen Unterricht so vorbereitet, dass ich selbst zur Not überflüssig bin. Habe Lernräume vorbereitet und Ideen entwickelt, gesammelt und ausgetauscht, wie man – ja, auch Technikunterricht! – im Distanzunterricht durchführen kann.

      Als dann im ersten Quartal die erwartete Schulschließung kam, war ich vorbereitet. Wie eigentlich alle meine Kolleg:innen. Abläufe, Prozedere und pädagogische Handlungsweisungen waren durchdacht und zielführend. Keine sechsstündigen Videokonferenzen für Kinder. Und keine E-Mails am Montagmorgen mit Funkstille bis Freitag.

      Ich behaupte: Als Lehrender habe ich noch nie soviel gelernt, wie in diesem Schuljahr. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.

      Zeugnisse aus dem Pandemie-Jahr sind kein Geschenk

      Gestern habe ich für meine Klasse zusätzliche Corona-Zeugnisse gedruckt (hier die Vorlage). Darauf stehen Errungenschaften wie “Wochenplanaufgaben und Lernzeiten eigenständig organisiert” oder “zahlreiche technische Hürden und Probleme gemeistert.

      Die absolute Mehrheit meiner Schüler:innen hat in den vergangenen Monaten unfassbar viel gelernt. Nicht nur “den Stoff”, der ohne Zweifel von Bedeutung ist. Tausende Videokonferenzen, vorbereitetes Material, regelmäßiges Feedback und ständiger Austausch haben dafür gesorgt, dass bis zum Schluss vernünftig gearbeitet wurde. Die Zeugnisse teile ich nicht als Geschenk aus wie eine Tüte Gummibärchen vor den Sommerferien – da steckt harte Arbeit dahinter.

      Aber viel mehr noch.

      Ein Schüler meines Technikkurses hat das Haus als 3D-Modell entworfen und ausgedruckt. Zwei Schüler fragten mich erst diese Woche, ob es nicht die Möglichkeit gäbe, zukünftig eine Excel-Werkstatt im Stundenplan zu verankern – das wollten sie lernen. Unsere kleine Schülerfirma, die in der 5. Klasse gegründet wurde, besteht immer noch und vertreibt eigenverantwortlich Batterien, Stifte und Stiftspitzen. Es wurden Filme gedreht, Hörspiele produziert, alternative Klassenarbeiten erprobt, Projektarbeiten erstellt – und unfassbar viel gelernt.

      Vieles davon lässt sich nicht wie in einem Computerspiel auf eine Skala reduzieren und medienwirksam raushauen. “Uh, Jonathan, dein Problemlöse-Skill für Videokonferenzen ist von 17 auf 18 Punkte angestiegen.”

      Von der Öffentlichkeit selten beachtet: Die Zahl der Studienabbrecher liegt an Universitäten bei knapp 30 Prozent. Ich behaupte, dass ein Grund darin liegt, dass viele Studierende nicht gelernt haben, eigenverantwortlich zu lernen. Es fehlen genau die Skills, die unsere Schüler:innen in den letzten Monaten zuhauf erlernt haben.

      Highlights? Eher die Regel. Auch für diese Kinder war das kein verlorenes Schuljahr. Ich glaube auch, dass das – wenn auch in kleinerem Rahmen – für Grundschulkinder zutreffen kann.

      Ich verschließe nicht die Augen vor jenen, die mit den Anforderungen des vergangenen Jahres nicht zurechtgekommen sind. Kinder und Jugendliche, für die dieses Schuljahr nicht nur ein verlorenes Jahr war, sondern – mit etwas Pech – eines, von dem man sich nicht mehr erholt. Blickt man auf sie, bleibt viel schales Bedauern. Dieses Jahr hat vieles zerstört.

      Gewiss kein verlorenes Jahr

      Egal ob aus der Perspektive einer Schulleitung, eines Lehrers oder aus Schülersicht: Das Jahr war wahnsinnig anstrengend und die anstehenden Sommerferien sind mehr als verdient.

      20/21 war kein Schuljahr, das ich noch einmal erleben möchte, aber es war gewiss kein verlorenes Jahr.

      Jan-Martin Klinges Halbtagsblog gehört zu den spannendsten Lehrerblogs der Bildungsrepublik. Klinge unterrichtet Mathe, Physik, Arbeitslehre und Technik an der Gesamtschule Auf dem Schießberg in Siegen. Zusammen mit Riza Kara verfasst er Schulbücher.

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        News

        Go Student: Drei-Milliarden-Einhorn wird hungrig

        Man sieht auf dem Foto Felix Ohswald, CEO des Bildungs-Startup Go Student
        Bekommt weitere 300 Millionen Euro für GoStudent: CEO Felix Ohswald

        Das österreichische Bildungs-Startup “Go Student” wird immer größer. Erst vor einem halben Jahr knackte das Nachhilfeunternehmen die Einhorn-Grenze: es überschritt mit einer Milliarde Euro Unternehmenswert die kritische Grenze zum Einhorn. Nun sammelte das Unternehmen nach eigenen Angaben weitere 300 Millionen Euro ein – und bewertet sich nun mit einem Wert von 3 Milliarden Euro. Unter anderem beteiligen sich Tencent und die Deutsche Telekom an der neuen Kapitalisierungsrunde. Ziel der neuen Kriegskasse: Merger & Akquisition – das bedeutet, Gründer Felix Ohswald wird hungrig. Es sollen Wettbewerber aufgekauft werden und intelligente neue Bildungslösungen entstehen. Die Deutsche Telekom weigerte sich auf Nachfrage, ihren Finanzierungsanteil zu nennen.

        Damit ist das Unternehmen GoStudent, das auch in Deutschland Filialen hat, unter den Top Ten der Startups in Deutschland weit nach oben gerückt. Möglich wurde dies, weil der schnell wachsende digitale Bildungsanbieter eine Investition von einer halben Milliarde Euro binnen eines guten halben Jahres eingeheimst hat. Ein derart hohe Beteiligung habe es unter Bildungsunternehmen bisher nicht gegeben, sagte Felix Ohswald, der den Nachhilfeanbieter 2016 zusammen mit Gregor Müller gegründet hat. Go Student vermittelt an Schülerinnen und Schüler Mentoren, die mit ihnen in Videokonferenzen Lernstoff nacharbeiten. Das Startup gibt an, jeden Monat 400.000 neue Nachhilfeeinheiten zu verkaufen.

        Zu den Investoren bei Go Student zählt der Risikokapitalgeber DST Global, der auch an Facebook, Twitter und SnapChat beteiligt ist. Auch SoftBank Vision Fund 2, Tencent und Dragoneer sind unter den neuen Geldgebern bei dem Nachhilfeunternehmen, das in 15 Staaten seine Dienste anbietet. Ohswald sagte Bildung.Table, das frische Geld solle investiert werden, um weiter zu wachsen und zum dominierenden Anbieter digitaler Nachhilfe zu werden. Die verhältnismäßig riesige Investition von 200 Millionen Euro – die bisherigen deutschen Marktführer digitaler Bildung haben Umsätze von rund 10 Millionen Euro – verweist auf explosive Entwicklungen des Bildungsmarkts im Zuge der Digitalisierung. Eine Studie des Eco-Verbandes hat digitaler Bildung ein Wachstumspotenzial allein bei Smart Cities von fast 17 Milliarden Euro in den kommenden fünf Jahren prognostiziert. Damit wäre digitale Bildung auf Platz 1 vor Transport & Logistik und Gebäudeautomatisierung. Eco ist der Verband der Internetwirtschaft, die Studie wurde zusammen mit der Unternehmensberatung Arthur D. Little erstellt.

        Kein futuristisches Bildungs-Startup

        Das Geschäftsmodell von Go Student ist freilich nicht so futuristisch wie in der Eco-Studie die Zukunft der Smart Cities beschrieben. Eher bietet das Unternehmen mit seinen kostenpflichtigen Online-Einzelkursen für Schüler innen und Schüler jeden Alters eine Mischung aus HiTech und HiTouch an. In den Videokonferenzen von Go Student geschieht das, was viele Lehrkräfte von ihren Gesprächen während der Pandemie berichteten: die Nachhilfelehrer haben per Videochat engen Kontakt zu den Schülern. Lehrer des Videokonferenzanbieters erzählen, sie wären gerade in der Pandemie fast mehr mit den Sorgen und Nöten der Schüler befasst gewesen als mit dem Stoff. Allerdings war Felix Ohswald auch der erste Gründer im Bildungsbereich, der offensiv den Einsatz von Künstlicher Intelligenz propagierte. Mit Hilfe einer Gesichtserkennung ließ Go Student die Emotionen der Schüler und Lehrer während der Videokonferenz messen. Wichtigstes Ergebnis: Latein macht Schüler wütend. red

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          Makerspace

          Keine Angst vor Fake News

          Auf dem Foto ist Alexander Otto zu sehen, er ist Schulleiter der Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow und reflektiert in seinem Unterricht über Nachrichten und Fake News.
          Alexander Otto ist Schulleiter der Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow

          Der politische Unterricht beginnt mit einem Traditionsgut: den Nachrichten aus der Tagesschau. Alexander Otto spielt in seinen Deutsch- und Geschichtsstunden die 100-Sekunden-Version der Tagesschau gern mal ab. Dazu stellen die SchülerInnen Fragen. Manchmal sagen sie auch nichts. Was auch in Ordnung ist. “In der Regel guckt das keiner von denen”, hat Otto über seine Schüler gelernt. “Aber bei mir bekommen sie das pädagogische Angebot dazu.” Auf Deutsch: sie müssen es gucken – um es zu analysieren.

          Die Standard-Nachrichtenware der Nation erreicht Jugendliche in Zeiten des Digitalen nicht mehr. Darum trauern Intendanten und Politiker schon lange. Aber wohin es führt, wenn der Nachwuchs Inhalte und Politik nur noch im TikTok-Format wahrnimmt, das zeigen jetzt die ersten Wahlen (Bildung.Table berichtete). Alexander Otto spricht von Radikalisierungstendenzen, denen seine Schüler ausgesetzt sind. Gegen die will der 36-Jährige angehen.

          Anonymous-Beitrag gespickt mit Fehlern

          Die Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow, die er leitet, hat dafür ein Konzept entwickelt. Die Lehrer:innen ziehen den digitalen Nachrichtenmüll heran – und machen ihn zum Unterrichtsgegenstand. “Ich habe letztens eine ganz wunderbare Schulstunde gesehen”, erzählt Otto. Eine Propagandaseite hatte einen Beitrag über die Bombardierung von Dresden 1945 veröffentlicht, der mit Fehlern gespickt war. Die Schüler der Grace-Hopper haben sich das Ding vorgenommen. “Die haben es dekonstruiert: Was stimmt denn da und was stimmt nicht?” So erfahren die Schüler Fake-News “nicht als Instrument, das ihnen Angst macht”, sagt der Schulleiter. “Sie lernen, Respekt davor zu haben.” 

          An der Grace-Hopper-Schule lernen 370 Schüler. Die meisten werden wahrscheinlich keine Politiker, aber sie sollen politisch auf der Höhe sein. TikTok ist ihre beliebteste Nachrichtenquelle, Instagram auch noch, Facebook wird schon weniger. Wirklich aufgenommen wird da kaum etwas, Otto spricht eher von gleichgültigem Konsum. “Wir merken, dass die Schüler aufgrund der Fülle kaum noch in die Lage versetzt werden, etwas zu hinterfragen”, sagt er. Da findet einer irgendwas, das wird dann in einem Schneeballsystem weiterverbreitet. “Plausible, wissenschaftlich fundierte Argumentation wird nicht mehr aufgenommen, sondern ersetzt durch das, was man bei TikTok aufgelesen hat” (Bildung.Table berichtete). Was sie nicht über ihre Peergroups geteilt bekommen, ist in ihrer Welt nicht existent. Der Schlüssel liegt darin, die Darstellungsformen des Pseudo-Journalismus auseinanderzunehmen. Dekonstruieren und rekonstruieren von Videos und Memes, das ist die Essenz von Ottos Politikunterricht. 

          Wer selbst produziert, steigt tiefer ein

          Wo die klassischen Gatekeeper der politischen Bildung fehlen, gibt es kein Gatekeeping mehr. Wie man unter solchen Bedingungen Schüler für Reflexion erwärmen könnte, darüber gibt es nur wenige Rezepte. Das Strategiepapier Bildung in der digitalen Welt der Kultusministerkonferenz legt Lehrkräften zwar ans Herz, sie mögen die “Bedeutung von digitalen Medien für die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung kennen und nutzen”. Doch das Monstrum der sozialen Medien kommt in dem Papier von 2016 noch gar nicht vor. Den Minister:innen fehlte anscheinend die Vorstellungskraft, dass fünf Jahre später schon Kinder auf ihren gängigen Video-Plattformen mit Propaganda aller Sorten beschossen würden. 

          Alexander Ottos Medienbildung besteht aus vier Teilen: Alles beginnt mit der Medienkunde, die einen Überblick über das Angebot an Informationen schafft. Dann kommt die Medienkritik, wie etwa mit dem Artikel zu Dresden. Danach kommt die Handhabung der Medien und schließlich die Gestaltung. “Wenn die Schüler ein Video selbst produzieren, dann erreichen wir einen Durchdringungsgrad, der alle anderen Kompetenzen voraussetzt”, ist der Schulleiter überzeugt. 

          Ein Schnittprogramm wie das andere

          Das Gestalten ist ein Zauberwort im Leitbild der Grace-Hopper-Schule. “Medien und Digitalisierung“, heißt es dort, “sind für uns Mittel zur tiefgründigen Gestaltung und Ausbildung besonderer Kompetenzen.” Die Schule wurde 2018 in der 27.000-Einwohner-Stadt Teltow gegründet. Sie ging hervor aus einer Oberschule, die zur Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe weiterentwickelt wurde. Mit der Namensgeberin Grace Hopper, einer Computerpionierin und Admiralin der US-Navy, gab sich die Schule gleich das passende Manifest. Schwerpunkt ist das kreative Lernen im Digitalen. Die Grundidee heißt: selber machen. “Jedes Schnittprogramm ist wie jedes andere”, sagt Otto. “Wenn man einmal Final Cut beherrscht, dann weiß man auch, wie man mit Adobe Premiere arbeitet – und umgekehrt.” 

          Wie das genau aussieht, ist eine der Zukunftsfragen des Lernens, die auch in Teltow noch nicht vollends geklärt ist. Aber die Notwendigkeit, alte Konzepte neu zusammenzusetzen, liegt auf der Hand. “Unser Schulsystem ist in groben Zügen noch dasselbe, wie wir es vor 250 Jahren in Preußen vorgefunden haben – das wird den heutigen Denkmustern nicht mehr gerecht“, sagte Schulleiter Otto jüngst auf einem Podium des Digitalverbands Bitkom. “Die Generation, die jetzt in den Schulen ist, wird Probleme lösen müssen, die wir heute noch gar kennen.” Die Lernkultur müsse sich daher radikal wandeln. Der Teltower sollte über Strategien gegen die Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen sprechen. Seine Ansicht: Medien- und Digitalkompetenz sollte heute das bedeutendste Thema von Schule sein (Bildung.Table berichtete). Dazu brauche es einen produktorientierten und fächerübergreifenden Unterricht, der Medien in vielen Fächern zum Gegenstand und Mittel des Lernens macht. Dann könne man am Ende der Schullaufbahn hoffentlich sagen: “Sie haben die Kompetenzen, die sie in der digitalen Welt brauchen.” 

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            Didaktik & Tools

            Digital gestützte Selbsteinschätzung

            Wo liegt der pädagogische Vorteil?

            Ich ermuntere meine Schüler:innen, regelmäßig über das eigene Lernen nachzudenken – und realistische Selbsteinschätzungen darüber zu versuchen. Als Lehrerin kann ich anhand dieser Selbstkritiken sehen, wie die Schülerinnen und Schüler über ihr Lernen reflektieren. Ihr Lernprozess und ihr Lernen werden gewissermaßen sichtbar. Es ist für mich dann leichter, ihnen Tipps und Hinweise zu geben – und das sehr individuell. Ich lerne also etwas über meine Schülerinnen und Schüler und kann meinen Unterricht besser auf sie abstimmen. In der Regel gibt es dann auch keine Noten-Überraschung – weil wir konstant im Gespräch sind. Die Voraussetzung dafür ist Offenheit und Vertrauen. Die Vorteile für die Schüler:innen sind meines Erachtens sogar noch größer. Das sind ja nicht unvernünftige Protokolle oder verstockte Gedanken im Stile eines “Nein, ich konnte diese Aufgabe nicht!” Vielmehr findet da bei den Schüler:innen ein vernunftgeleitetes Nachdenken über das statt, was gut funktioniert hat. Und auch jene Schritte des Lernens werden durchdacht, die noch nicht so gut geklappt haben. Die Schüler nutzen bei mir dafür Kriterien, die sie selbst entworfen haben. Meine Erfahrung ist, dass das den Druck nimmt, äußerlichen Anforderungen zu folgen. Und es motiviert – weil jeder mitmachen kann. 

            Welche Technik braucht man für das Instrument?

            Zunächst einmal ist die Selbsteinschätzung im Grunde nur machbar, weil es nun überall digitale Austauschformate gibt. Die technischen Voraussetzungen sind minimal. Ich brauche eigentlich nur ein gemeinsam bearbeitbares Dokument, das idealerweise in einem Lernmanagementsystem zur Verfügung gestellt wird – denn es handelt sich um sehr sensible Schülerdaten. Für mich als Lehrerin ist wichtig, dass ich von überall her darauf zugreifen kann. Wenn es ortsunabhängig verfügbar ist, kann ich auch mal en passant eine Selbsteinschätzung anschauen – und kommentieren. 

            Bringt die Selbsteinschätzung auch nach der Rückkehr in die Klassenzimmer etwas?

            Das Schöne an dieser sozialen und didaktischen Methode ist, dass sie sowohl in Präsenz als auch auf Distanz und sogar beim hybriden Lernen sinnvoll einsetzbar ist. Im Präsenzunterricht kommt noch hinzu, dass ich Schülerinnen und Schülern persönlich etwas zu ihrer Reflexion sagen kann. Ich bin überzeugt, dass das bleibt. Und es muss auch bleiben, weil es sehr wichtig ist. 

            Pro-Tipp

            Wichtig ist, dass diese Praxis nicht zur Notenfindung missbraucht wird. Es ist kein Bewertungsinstrument, das ist fürs Gelingen essenziell. Das muss den Schüler:innen auch transparent gemacht werden. Wenn man das nicht tut, dann läuft man möglicherweise Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler ihr Lernen so darstellen, dass eine möglichst gute Note herauskommt. Meine Erfahrung zeigt, dass es hilft, daraus keine ausgefeilte schriftliche Beurteilung zu machen, sondern das Instrument für relativ spontane Rückmeldungen zu nutzen. In meinen Augen ist das wie ein Dialog zwischen den Lernenden und mir – der auch mündlich stattfinden könnte. Wenn man das beherzigt, dann sieht man auch schnell Erfolge. Ein Beispiel: In Spanisch verlieren Schüler:innen leicht den Anschluss, und zwar richtig stark. Wenn sie in der Selbstreflexion gut mitarbeiten, hilft es ihnen, das Risiko des Anschlussverlustes selbst zu erkennen. Sie reflektieren, dass und wie sie lernen. Sie sehen: ich kann was und ich habe Einfluss auf mein Lernen. 

            Kritik

            Ein Nachteil kann ganz klar der Arbeitsaufwand sein. Deswegen rate ich jeder Lehrkraft, den Schülerinnen und Schülern knapp und aussagekräftig Feedback zu ihrer Selbsteinschätzung zu geben. Am liebsten wäre mir, stattdessen den einen oder anderen Test wegzulassen – und die Korrekturlast zugunsten dieser Methode zu verringern. 

            Iris Laube-Stoll unterrichtet die Fächer Spanisch und Französisch am St. Ursula-Gymnasium in Düsseldorf und ist als Fachleiterin Spanisch am ZfsL Mönchengladbach tätig.

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                Liebe Leserin, lieber Leser,

                wie steht es um das Wissen unserer Kinder zum Ende dieses Schuljahres? Jeder spricht von Lernverlusten, aber niemand kennt die Ausmaße. Das freilich ist falsch, wie eine Recherche von Bildung.Table und der Open Knowledge Foundation unter den Kultusministerinnen gezeigt hat. Denn die Politikerinnen wissen Bescheid! Lesen Sie dazu die Analyse von einem mutwilligen Blindflug

                Ulf Matysiak hat eine ganz andere Vorstellung, wie man Lernlücken beseitigen könnte. Stichwort: Selbstwirksamkeit. Matysiak schickt mit Teach First jedes Jahr sogenannte Fellows in Brennpunktschulen, das sind exzellente Hochschulabsolventen, die sich zwei Jahre als Lernhelfer engagieren. 

                200 Millionen Euro – so viel frisches Geld hat das österreichische Startup Go Student eingesammelt. Wo kommt das her, wo geht das hin, und was ist überhaupt ein Einhorn?

                Ansonsten lesen Sie eine Ausgabe großartiger Lehrerinnen und Lehrer. Iris Laube-Stoll verrät, warum Schüler beim digitalen Selbsteinschätzen viel lernen (Didaktik & Tools). Der bekannteste Direktoren-Blogger Deutschlands, Jan-Martin Klinge, prüft, wie verloren “das verlorene Jahr” wirklich war (Blogpost). Und Alexander Otto erläutert, was in seiner Grace-Hopper-Schule auf Top-Eins des Lehrplans steht (Makerspace). 

                Ihr
                Christian Füller
                Bild von Christian  Füller

                Analyse

                Länder verstecken Daten über Lernlücken

                Die Lernlücken von Schülern aus der Pandemie-Zeit sind das große Thema der Bildungspolitik. Allerdings weiß niemand, wo die Schülerinnen und Schüler genau stehen. Bislang gibt es kaum verlässliche Studien dazu. Jedenfalls nahm man das an. Nun haben Recherchen von Bildung.Table und der Open-Knowledge-Foundation ergeben, dass eine ganze Reihe von Bundesländern Kompetenztests bei Schülern auch während Corona durchgeführt hat – aber die Ergebnisse praktisch vor den Bürgern versteckt. Mehrere Kultusminister ließen auf Nachfrage mitteilen, dass sie die sogenannten “Vergleichsarbeiten” (Vera) nicht veröffentlichen wollen. Vera-Tests sind Messungen der Kenntnisse von Dritt- und Achtklässlern, die Auskunft über deren Lernstand geben.

                Die Diskussion über die Wissensdefizite hatte vergangene Woche eine Studie des Instituts für Pädagogische Psychologie an Frankfurts Goethe-Uni angeheizt. Andreas Frey will dabei herausgefunden haben, dass der Lernzuwachs beim digitalen Fernunterricht während Corona in etwa dem von Schülern in den Sommerferien entsprochen habe – also Stagnation oder gar Schrumpfung. Auch Frey hatte allerdings kaum empirisches Material aus Deutschland vorliegen. Recherchen von Bildung.Table zeigen nun, dass eine ganze Reihe von Ländern den sogenannten Vera-Vergleichstest sehr wohl durchgeführt hat – die Ergebnisse aber im Giftschrank behalten will. Einzig Baden-Württemberg, NRW, Schleswig-Holstein und Hamburg stellten die Vera-Ergebnisse sofort zur Verfügung. Die anderen Ländern teilten reihum mit, die Tests seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. 

                “Erhebliche Lernrückstände entstanden” 

                Typisch war eine Aussage aus dem Saarland. “Wir können schon jetzt aber sagen, dass in der Krise teilweise erhebliche individuelle Lernrückstände entstanden sind”, teilte ein Sprecher mit. Woher er sein Wissen bezieht, bleibt freilich sein Geheimnis. Denn gleichzeitig hieß es aus demselben Ministerium, dass sich aus den aktuellen Vergleichsarbeiten im Saarland “keine Rückschlüsse auf mögliche Lernlücken ziehen lassen, die pandemiebedingt entstanden sein könnten.” 

                Auch Bayern weigerte sich, die Tabellen der Vergleichsarbeiten zur Einsicht freizugeben. “Weder eine Veröffentlichung von Vera-Ergebnissen einzelner Schulen noch ein Vergleich von Schulen ist vorgesehen”, schrieb ein Sprecher, “da dies dem Zweck der Vera-Testungen widerspricht.” Kurz gesagt: alle Bundesländer haben die Röntgenapparate bereitstehen, um eventuelle Lernbrüche der Schüler zu messen und sichtbar zu machen. Die meisten vermeiden es aber tunlichst oder verbitten sich sogar, die Ergebnisse herauszurücken. 

                “Die Vera-Daten gehören nicht den Ministerien”

                So war das Kultusministerium in Rheinland-Pfalz auch auf Nachfrage nicht bereit, die landesweiten Ergebnisse der “Vera 8”-Studie zu offenbaren. “Die Ergebnisse der Vera-Untersuchungen werden in Rheinland-Pfalz den Schulen ausschließlich zur internen Evaluation zur Verfügung gestellt”, verweigerte sich ein Sprecher. Dabei musste Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) erst kürzlich auf eine Anfrage über “Frag-den-Staat” die Resultate der Vera-Studien von 2009 bis 2019 bereitstellen. Die Open Knowledge Foundation (OKF) hat die Herausgabe von Vera-Studien auf diese Art erzwungen. Die Stiftung veröffentlicht sie heute auf der Homepage Wo-ist-Vera.de. “Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Kultusminister öffentliche Daten über öffentliche Einrichtungen geheim halten”, sagte Maximilian Voigt von der Stiftung zu Bildung.Table. “Diese Lernstandsdaten gehören nicht den Ministerien, sondern sie gehören in die Öffentlichkeit.”

                Die Wissenschaft sieht das ähnlich. Befragte Forscher sagten, dass eine Verheimlichung der Daten nicht hinnehmbar sei. “Die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten sollten zurückgemeldet und ausgewertet werden”, meinte etwa Axel Plünnecke vom Institut der Wirtschaft in Köln. “Die Aggregation der Daten ist wichtig, damit man auch für ein Bundesland in Gänze die Regionen ermitteln kann, in denen die Lücken am größten sind, um dort dann auch stärker unterstützen zu können.” 

                Die Vera-Tests sind qualitativ erstklassige Fragebögen, die das zentrale “Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen” (IQB) in Berlin entwickelt und an die Länder weiter gibt. Ein bundesweites Auswerten der erhobenen Daten ist dem IQB allerdings praktisch verboten. Das geht auf Beschlüsse der KMK aus den Jahren 2012 und 2018 zurück, die besagen, dass “die Vera-Daten weder für einen Ländervergleich noch für die Veröffentlichung landesinterner Vergleiche genutzt werden”. Hintergrund ist, dass die Kultusminister damals der dauernden Pein von Länder-Ranglisten entgehen wollten, die ihnen die berühmten Pisa-Studien beschert hatten. 

                Vergleichsarbeiten werden nicht genutzt

                Aber kann das auch in Zeiten der Pandemie und großer Ängste um Lernlücken gelten? Die Vera-Ergebnisse aus den Ländern könnten selbstverständlich auch für eine bundesweite Lernstandserhebung genutzt werden. So steht es sogar im KMK-Beschluss von 2018: “eine landesinterne Nutzung von Vera-Daten ist möglich”. Vor allem aber drängen Forscher auf die Freigabe der Daten. Dies sei angesichts der Frage, wie groß die Lernlücken tatsächlich sind, dringend nötig. “Wir haben Vergleichsarbeiten, aber nutzen diese nicht, um systematisch genau hinzusehen”, beklagte sich Plünnecke. Auf Ergebnisse aus den beiden maßgeblichen Messinstituten in Deutschland, dem IQB in Berlin und dem Institut für Bildungsverläufe in Bamberg, muss die Nation noch warten. Die Institute werden eigene Lernstandserhebungen erst im Jahr 2022 veröffentlichen, ließen sie wissen. Sie sind derzeit in der Phase der Erhebung. Das Leibniz-Institut etwa testet gerade ein Sample von 2.500 Schülern in Mathe

                Sieht man sich die Vera-Daten an, die entweder auf Anfrage oder mittels einer Frag-den-Staat-Initiative der OKF öffentlich wurden, so ist folgendes festzustellen: Lernlücken lassen sich aus den – bislang – verstreuten Untersuchungen nicht ableiten, eher sind dort im Jahr 2020 höhere Kompetenzwerte als im Vorjahr abzulesen. In Hamburg etwa wurden zum Teil kleine Lernsprünge gemessen. Eine Studie in Baden-Württemberg hat ergeben, “dass die Fünftklässler/innen im September 2020 Lernrückstände von etwa einem Monat im Vergleich zu den Jahrgängen 2017-2019” hatten. Bei Vera 8 lässt sich sogar ein deutlicher Zuwachs der oberen Kompetenzgruppen im Südwesten ablesen: 2020 lag 65 Prozent der Schüler auf oder oberhalb der Kompetenzstufe 3. Im Jahr 2019 waren dies nur 56 Prozent. In Schleswig-Holstein war es ähnlich: die Kompetenzwerte von 2020 im Lesen liegen deutlich über denen von 2019.

                Bildungspolitik in der Blackbox 

                Wie ist ein solches Ergebnis zu interpretieren? Wurden bei den freiwilligen Vera-Tests eventuell überproportional viele bessere Schüler gemessen? Wie fällt der Vergleich zu anderen Bundesländern aus? Dazu lässt sich derzeit praktisch nichts sagen – obwohl in den Ländern fertige und vergleichbare Ergebnislisten vorliegen. Eine Sprecherin von Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) ermunterte die Kultusminister denn auch, die Daten freizugeben: “Wir begrüßen eine umfassendere Datenlage und unterstützen deshalb gern Bestrebungen, die dazu aus den Ländern kommen.” 

                Maximilian Voigt von der Open Knowledge Foundation findet die Blockade vieler Länder grundfalsch. “Das Zurückhalten dieser Daten ist undemokratisch, denn es nimmt Bürger*innen die Möglichkeit, Bildungspolitik zu bewerten”. Das Fazit der OKF: “In Deutschland wird Bildungspolitik in einer Blackbox gemacht”. 

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                  Die große Illusion Nachhilfe

                  Ulf Matysiak ist der Geschäftsführender Gesellschafter von Teach First Deutschland.
                  Ulf Matysiak ist der Geschäftsführende Gesellschafter von Teach First Deutschland.

                  Herr Matysiak, Sie und Ihre Fellows in Brennpunktschulen erleben die Ungleichheiten im Bildungssystem hautnah. Reicht es aus, dass die Bundesregierung zwei Milliarden Euro für die psychosoziale Versorgung von Schülern und für Nachhilfe zur Verfügung stellt? 

                  Ulf Matysiak: Zunächst ist es richtig, dass sie es tut. Ich halte es für einen Irrglauben, dass man die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche ohne zusätzliches Geld auffangen kann. Wenn man allerdings tiefer in das Aufhol-Paket reinguckt, dann merkt man schnell, dass die Mittel nicht sehr üppig sind (Bildung.Table berichtete). Die beiden Milliarden machen deutlich unter fünf Prozent der Bildungsausgaben aus – das reicht gerade mal für einen Impuls. 

                  Die Niederlande nehmen ein Vielfaches der Bundesrepublik für Coronahilfen in die Hand. Wie viel sollte die Bundesregierung für das Wohl von Schülern ausgeben? 

                  Ich glaube, im ersten Jahr wäre gar nicht so viel mehr Geld nötig, ja nicht mal möglich. Die Erfahrungen etwa mit dem Digitalpakt zeigen uns, dass das Bildungssystem Schwierigkeiten hat, fünf Milliarden Euro in der Kürze der Zeit sinnvoll auszugeben (Bildung.Table berichtete). Die Verwaltungsebenen der Länder und Kommunen sind gar nicht darauf eingestellt, so eine Geldspritze ad hoc sinnvoll in die Fläche zu bringen. Ich würde sagen, fangen wir beim Aufholen mit zwei Milliarden an – und erhöhen das jedes Jahr noch mal um eine oder um zwei. Denn das dicke Ende kommt erst noch. 

                  Was heißt das? 

                  Die echten Probleme an den Schulen stehen uns noch bevor. Meine Prognose ist, dass sich die Wirtschaft von Corona deutlich schneller erholt haben wird. Im schulischen Bildungssystem aber werden wir noch lange mit den Folgen zu tun haben. Insofern bin ich überzeugt, dass wir zehn Milliarden bis 15 Milliarden über die nächsten fünf Jahre brauchen, um seriös Abhilfe schaffen zu können. Also: Die zwei Milliarden sind ein guter erster Impuls – aber der muss natürlich auch in die richtige Richtung gehen. 

                  Sie sagen es selbst: Man muss sich um die Lernlücken kümmern!

                  Mir missfällt der Begriff etwas, weil er suggeriert, dass es nun vor allem um Unterrichtsinhalte gehen muss, die aufgeholt werden sollen. Ebenso die Konzentration auf Nachhilfe (Bildung.Table berichtete). Mir ist das zu negativ, dass die Kinder jetzt aufholen müssen. Als ob die was dafür könnten, dass es uns nicht gelungen ist, ihnen weiter gehaltvolles Lernen anzubieten. Dabei fehlten uns eigentlich nur die Schulgebäude. 

                  Sie wissen, dass das kein kleiner Einschnitt für ein Schulsystem ist, das bisher zu 100 Prozent aufs Klassenzimmer gesetzt hat.

                  Aber wir hatten die Leute, also die LehrerInnen, wir wussten über die Inhalte Bescheid und wir kannten die Methoden. Am Ende des Tages ist es schon erstaunlich, wie wenig Adaptionsleistung Schule innerhalb der letzten 16 Monate etwa im Vergleich zur Wirtschaft hinbekommen hat. Es wäre wichtig gewesen, das Verhältnis von Präsenz und Distanz, von asynchron und synchron neu zu gestalten. Das ist möglich, wie viele Schulen und bestimmte Formate wie flipped clasroom uns zeigen (Bildung.Table berichtete). Aber es waren die Schulen und die Kultusminister, die das in der Breite nicht hinbekommen haben. Und jetzt sollen die Kids dafür in den Ferien nachsitzen, weil sie etwas versäumt hätten. Das finde ich wirklich falsch. 

                  Ist es auch falsch, auf Nachhilfe zu setzen?

                  Jedenfalls halte ich für es eine große Illusion, über Nachhilfe in synchronen Formaten das aufzuholen, was im Laufe des Schuljahres verpasst wurde. Wir haben weder die räumlichen Ressourcen noch die personellen oder zeitlichen Kapazitäten, um das irgendwie in einem Jahr aufholen zu können. Das wird nicht funktionieren. Wir müssen eigentlich an einer anderen Stelle ansetzen. 

                  An welcher Stelle?

                  Wir sollten diese Zeit nicht nur für stofflich-curriculare Themen, sondern vor allem dafür nutzen, die Selbstlern-Kompetenzen der Schüler aufzubauen. Wir sollten sie befähigen, wieder in die Position des Lenkenden zu kommen. Sie müssen lernen, sich selbst Wissen und Kompetenzen anzueignen. Es geht meines Erachtens zuallererst darum, die Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen zu stärken. Ich meine die Überzeugung und den Glauben daran, dass man seine eigenen Geschicke in die Hand nehmen kann. Das, was wir gerade erleben, ist das Gegenteil davon: die Renaissance der Lernhefte und Arbeitsblätter – in digitaler Form oder auch in gedruckter Form. Da waren wir schon mal viel weiter.

                  Lässt sich mit reformpädagogischer Homöopathie eine veritable Bildungskrise lösen? 

                  Meine und die Erfahrungen der Fellows von Teach First zeigen mir, dass sich das Selbstbewusstsein der Kids gerade in der Krise fördern lässt. Wir arbeiten in Schulen, wo das Problem, das jetzt in der Breite auftritt, so etwas wie Alltag ist. Wir sehen hier, dass es hilft, den Kindern mehr zuzutrauen. Das wirkt sich meist schnell auf den Kompetenzerwerb aus. Wir haben gelernt, dass wir zuerst an der Stärkung von Selbstwirksamkeit arbeiten, bevor wir uns um fachliche Inhalte kümmern können. Diese Felder pädagogischer Arbeit zu trennen, halte ich übrigens für eines der größten Probleme – gerade an Brennpunktschulen. 

                  In der Lehrerszene wird digitalen Bildungsanbietern vorgeworfen, dass sie nur Geld machen wollten. Ist das so?

                  Ich bin jetzt nicht der große Marktkritiker. Wenn jemand sich im Markt etabliert und Abnehmer findet für das, was er macht, dann hat das erstmal seine Berechtigung. Es gibt etablierte Player und ein paar neue Gründungen in den letzten anderthalb Jahren – einen richtigen kleinen Schub. Entscheidend ist für mich aber am Ende immer die Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Also zu gucken, wie ist der Impact und wie können wir miteinander mehr erreichen, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht.

                  Es ist noch ein anderer Streit über die Nachhilfemilliarde entbrannt; zwischen der Forderung, das Geld in Nachhilfe zu stecken, und der, das ganze Schulsystem zu reformieren. Was ist Ihre Position? 

                  Also zu glauben, man könnte mit zwei Milliarden Euro vom Bund ein neues Schulsystem bauen, das halte ich für Quatsch. Zumal das Geld nicht das Problem ist, wenn wir über den schulischen Reformstau sprechen. Da geht es um politischen Willen und ganz konkret auch um Verwaltungshandeln. Wir haben ja nicht nur ein schulisches Bildungssystem, sondern 16 verschiedene in den Ländern. Wenn man die reformieren will, dann muss man es auf Landesebene machen oder man muss die Verfassung ändern – oder am besten beides. Das kann man aber mit Geld weder kaufen noch beschleunigen.

                  Selbst Dorothee Bär, die immerhin im Kanzleramt sitzt und von der CSU ist, übt inzwischen massive Kritik am Bildungsföderalismus. Gibt es denn irgendeinen Hinweis, dass der Bund Bildung besser könnte?

                  Ich sehe überhaupt keine Mehrheit, den Bildungsföderalismus abzuschaffen. Aber nehmen wir mal an, der Bund wäre Zentralverantwortlicher für das Bildungssystem. Dann wäre eine Behörde aufzubauen, die ein Vielfaches der Bundeswehr an Personalverantwortung hätte. Ob das zu einem leistungsfähigeren System führen würde? Und was wäre ein realistischer Zeitraum für so eine Reform, drei Jahre oder fünf oder sogar sieben? Für den Moment ist das also meines Erachtens kein erreichbares Ziel. Die Schülerinnen und Schüler, die heute im System sind, würden von einer langwierigen Bildungsreform nicht profitieren. Insofern würde ich mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen von heute empfehlen, das eine zu tun und das andere nicht sein zu lassen. Wir sind verpflichtet, denen jetzt sofort zu helfen – und gleichzeitig den Druck zu erhöhen, um eventuell notwendige Bildungsreform anzugehen. 

                  Teach First ist eine gemeinnützige Bildungseinrichtung nach dem Vorbild von “Teach For America”, die Hochschulabsolventen aus nicht-erziehungswissenschaftlichen Disziplinen für zwei Jahre in Brennpunktschulen als Fellows entsendet.

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                    Blogpost

                    “Nie zuvor so viel gelernt”

                    Gastbeitrag von Jan-Martin Klinge (halbtagsblog.de)

                    Ich bin seit mehr als zehn Jahren Lehrer. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die mit den Umständen klarzukommen versuchen und wenig Energie ins Lamentieren stecken. Das Pandemie-Jahr war ätzend – aber es wird für niemanden besser, wenn ich mein Leid lauthals beklage.

                    Ich arbeite an einer städtisch geprägten Gesamtschule im Aufbau. “Städtisch geprägt” bedeutet: sehr heterogene, inklusive Schülerschaft. Kein ländliches Privatgymnasium sozusagen. Vor drei Jahren haben wir begonnen unsere Verwaltungsprozesse zu digitalisieren. Vor zwei Jahren einen ersten Tabletjahrgang eingeführt. Mit der ersten Schulschließung haben wir diesen Prozess vorangetrieben und mit Unterstützung der Stadt schließlich alle Kinder mit einem digitalen Endgerät ausstatten können. Seit einem halben Jahr befinden wir uns in der Vorbereitung zu einer großen Schultransformation.

                    Puffer zwischen den Interessen 

                    An meiner vierzügigen Schule bin ich hauptverantwortlich für die Jahrgangsstufen 5-7. Anmeldungen, Abmeldungen, Verfehlungen, Elterngespräche, Klassenfahrten, Koordination der Jahrgangsstufen. Darüber hinaus arbeiten wir in unserem Schulleitungsteam extrem kompetenzorientiert, mit viel Vertrauen und mit fließenden Übergangen in der Aufgabenverteilung.

                    Dieses Jahr war herausfordernd, weil man als Schulleitung oft der Puffer zwischen den vielen Interessen war. Für einige Eltern waren die Masken schon völlig übertrieben, andere fragten frustriert an, wann wir denn endlich in der Schule mit dem Impfen beginnen würden.

                    Das Kollegium suchte nach Planungssicherheit, die wir oft nicht geben konnten. Was, wann und wie galt, erfuhren wir manchmal freitagabends im WDR. Wann wird geimpft? Warum wir nicht? Wann kommen die Tests? Wie werden die durchgeführt? Was macht man bei positivem Ergebnis? Ist das Gesundheitsamt, die Schulleitung oder sind die Eltern verantwortlich?

                    Darüber hinaus Gespräche mit der Stadt: Wie gehen die Umbaumaßnahmen weiter? Wann kommen zusätzliche Masken? Und tausend Dinge mehr.

                    Das war an manchen Tagen nur semi-schön.

                    Darüber hinaus sind wir Schule im Aufbau: Einen Stillstand können wir uns schlicht nicht erlauben, ab kommendem Schuljahr muss die Oberstufe geplant werden. Und entgegen eines ersten Gedankens wird es nicht so sein, dass bei uns einfach alle Schüler:innen mit notwendiger Qualifikation auch Lust aufs Abitur haben und sich eine Oberstufe von selbst aufstellt. Das wird harte Überzeugungsarbeit in vielerlei Richtungen.

                    Den Schulentwicklungsprozess haben wir gemeinsam mit dem Kollegium, welches durch Schulschließung, Testung, persönliche Sorge und zusätzliche Sozialarbeit bei den Kindern über Gebühr belastet war, noch zusätzlich gestemmt. Schlicht ein Wahnsinnsprogramm für alle Beteiligten.

                    Nie zuvor habe ich so viel gelernt. Nie zuvor so intensiv und so viel gearbeitet. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.

                    Kein 6-stündiger Videochat für Kinder

                    Neben den Schulleitungsaufgaben unterrichte ich mit halber Stelle: Zwei Mathekurse, zwei Technik-Kurse und zwei Physikkurse habe ich diesem Jahr begleitet. Ob und wann und wie nächste Woche noch Unterricht stattfindet, war eine ständige UngewissheitKönnen wir in zwei Wochen noch die Klassenarbeit schreiben? Im Dezember steht Magnetismus in der 6 an – wie soll das im Fernunterricht gehen? Wie um alles in der Welt soll ich Technik-Unterricht per Video-Konferenz durchführen? Hallo – habt ihr zufällig eine Oberfräse zu Hause im Kinderzimmer? Na, schade, dann schaut mir mal beim Fräsen zu…!”

                    Mehr als je zuvor habe ich mir Gedanken um meinen Unterricht gemacht. Mehr als je zuvor habe ich meinen Unterricht so vorbereitet, dass ich selbst zur Not überflüssig bin. Habe Lernräume vorbereitet und Ideen entwickelt, gesammelt und ausgetauscht, wie man – ja, auch Technikunterricht! – im Distanzunterricht durchführen kann.

                    Als dann im ersten Quartal die erwartete Schulschließung kam, war ich vorbereitet. Wie eigentlich alle meine Kolleg:innen. Abläufe, Prozedere und pädagogische Handlungsweisungen waren durchdacht und zielführend. Keine sechsstündigen Videokonferenzen für Kinder. Und keine E-Mails am Montagmorgen mit Funkstille bis Freitag.

                    Ich behaupte: Als Lehrender habe ich noch nie soviel gelernt, wie in diesem Schuljahr. Ganz sicher kein verlorenes Schuljahr.

                    Zeugnisse aus dem Pandemie-Jahr sind kein Geschenk

                    Gestern habe ich für meine Klasse zusätzliche Corona-Zeugnisse gedruckt (hier die Vorlage). Darauf stehen Errungenschaften wie “Wochenplanaufgaben und Lernzeiten eigenständig organisiert” oder “zahlreiche technische Hürden und Probleme gemeistert.

                    Die absolute Mehrheit meiner Schüler:innen hat in den vergangenen Monaten unfassbar viel gelernt. Nicht nur “den Stoff”, der ohne Zweifel von Bedeutung ist. Tausende Videokonferenzen, vorbereitetes Material, regelmäßiges Feedback und ständiger Austausch haben dafür gesorgt, dass bis zum Schluss vernünftig gearbeitet wurde. Die Zeugnisse teile ich nicht als Geschenk aus wie eine Tüte Gummibärchen vor den Sommerferien – da steckt harte Arbeit dahinter.

                    Aber viel mehr noch.

                    Ein Schüler meines Technikkurses hat das Haus als 3D-Modell entworfen und ausgedruckt. Zwei Schüler fragten mich erst diese Woche, ob es nicht die Möglichkeit gäbe, zukünftig eine Excel-Werkstatt im Stundenplan zu verankern – das wollten sie lernen. Unsere kleine Schülerfirma, die in der 5. Klasse gegründet wurde, besteht immer noch und vertreibt eigenverantwortlich Batterien, Stifte und Stiftspitzen. Es wurden Filme gedreht, Hörspiele produziert, alternative Klassenarbeiten erprobt, Projektarbeiten erstellt – und unfassbar viel gelernt.

                    Vieles davon lässt sich nicht wie in einem Computerspiel auf eine Skala reduzieren und medienwirksam raushauen. “Uh, Jonathan, dein Problemlöse-Skill für Videokonferenzen ist von 17 auf 18 Punkte angestiegen.”

                    Von der Öffentlichkeit selten beachtet: Die Zahl der Studienabbrecher liegt an Universitäten bei knapp 30 Prozent. Ich behaupte, dass ein Grund darin liegt, dass viele Studierende nicht gelernt haben, eigenverantwortlich zu lernen. Es fehlen genau die Skills, die unsere Schüler:innen in den letzten Monaten zuhauf erlernt haben.

                    Highlights? Eher die Regel. Auch für diese Kinder war das kein verlorenes Schuljahr. Ich glaube auch, dass das – wenn auch in kleinerem Rahmen – für Grundschulkinder zutreffen kann.

                    Ich verschließe nicht die Augen vor jenen, die mit den Anforderungen des vergangenen Jahres nicht zurechtgekommen sind. Kinder und Jugendliche, für die dieses Schuljahr nicht nur ein verlorenes Jahr war, sondern – mit etwas Pech – eines, von dem man sich nicht mehr erholt. Blickt man auf sie, bleibt viel schales Bedauern. Dieses Jahr hat vieles zerstört.

                    Gewiss kein verlorenes Jahr

                    Egal ob aus der Perspektive einer Schulleitung, eines Lehrers oder aus Schülersicht: Das Jahr war wahnsinnig anstrengend und die anstehenden Sommerferien sind mehr als verdient.

                    20/21 war kein Schuljahr, das ich noch einmal erleben möchte, aber es war gewiss kein verlorenes Jahr.

                    Jan-Martin Klinges Halbtagsblog gehört zu den spannendsten Lehrerblogs der Bildungsrepublik. Klinge unterrichtet Mathe, Physik, Arbeitslehre und Technik an der Gesamtschule Auf dem Schießberg in Siegen. Zusammen mit Riza Kara verfasst er Schulbücher.

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                      Go Student: Drei-Milliarden-Einhorn wird hungrig

                      Man sieht auf dem Foto Felix Ohswald, CEO des Bildungs-Startup Go Student
                      Bekommt weitere 300 Millionen Euro für GoStudent: CEO Felix Ohswald

                      Das österreichische Bildungs-Startup “Go Student” wird immer größer. Erst vor einem halben Jahr knackte das Nachhilfeunternehmen die Einhorn-Grenze: es überschritt mit einer Milliarde Euro Unternehmenswert die kritische Grenze zum Einhorn. Nun sammelte das Unternehmen nach eigenen Angaben weitere 300 Millionen Euro ein – und bewertet sich nun mit einem Wert von 3 Milliarden Euro. Unter anderem beteiligen sich Tencent und die Deutsche Telekom an der neuen Kapitalisierungsrunde. Ziel der neuen Kriegskasse: Merger & Akquisition – das bedeutet, Gründer Felix Ohswald wird hungrig. Es sollen Wettbewerber aufgekauft werden und intelligente neue Bildungslösungen entstehen. Die Deutsche Telekom weigerte sich auf Nachfrage, ihren Finanzierungsanteil zu nennen.

                      Damit ist das Unternehmen GoStudent, das auch in Deutschland Filialen hat, unter den Top Ten der Startups in Deutschland weit nach oben gerückt. Möglich wurde dies, weil der schnell wachsende digitale Bildungsanbieter eine Investition von einer halben Milliarde Euro binnen eines guten halben Jahres eingeheimst hat. Ein derart hohe Beteiligung habe es unter Bildungsunternehmen bisher nicht gegeben, sagte Felix Ohswald, der den Nachhilfeanbieter 2016 zusammen mit Gregor Müller gegründet hat. Go Student vermittelt an Schülerinnen und Schüler Mentoren, die mit ihnen in Videokonferenzen Lernstoff nacharbeiten. Das Startup gibt an, jeden Monat 400.000 neue Nachhilfeeinheiten zu verkaufen.

                      Zu den Investoren bei Go Student zählt der Risikokapitalgeber DST Global, der auch an Facebook, Twitter und SnapChat beteiligt ist. Auch SoftBank Vision Fund 2, Tencent und Dragoneer sind unter den neuen Geldgebern bei dem Nachhilfeunternehmen, das in 15 Staaten seine Dienste anbietet. Ohswald sagte Bildung.Table, das frische Geld solle investiert werden, um weiter zu wachsen und zum dominierenden Anbieter digitaler Nachhilfe zu werden. Die verhältnismäßig riesige Investition von 200 Millionen Euro – die bisherigen deutschen Marktführer digitaler Bildung haben Umsätze von rund 10 Millionen Euro – verweist auf explosive Entwicklungen des Bildungsmarkts im Zuge der Digitalisierung. Eine Studie des Eco-Verbandes hat digitaler Bildung ein Wachstumspotenzial allein bei Smart Cities von fast 17 Milliarden Euro in den kommenden fünf Jahren prognostiziert. Damit wäre digitale Bildung auf Platz 1 vor Transport & Logistik und Gebäudeautomatisierung. Eco ist der Verband der Internetwirtschaft, die Studie wurde zusammen mit der Unternehmensberatung Arthur D. Little erstellt.

                      Kein futuristisches Bildungs-Startup

                      Das Geschäftsmodell von Go Student ist freilich nicht so futuristisch wie in der Eco-Studie die Zukunft der Smart Cities beschrieben. Eher bietet das Unternehmen mit seinen kostenpflichtigen Online-Einzelkursen für Schüler innen und Schüler jeden Alters eine Mischung aus HiTech und HiTouch an. In den Videokonferenzen von Go Student geschieht das, was viele Lehrkräfte von ihren Gesprächen während der Pandemie berichteten: die Nachhilfelehrer haben per Videochat engen Kontakt zu den Schülern. Lehrer des Videokonferenzanbieters erzählen, sie wären gerade in der Pandemie fast mehr mit den Sorgen und Nöten der Schüler befasst gewesen als mit dem Stoff. Allerdings war Felix Ohswald auch der erste Gründer im Bildungsbereich, der offensiv den Einsatz von Künstlicher Intelligenz propagierte. Mit Hilfe einer Gesichtserkennung ließ Go Student die Emotionen der Schüler und Lehrer während der Videokonferenz messen. Wichtigstes Ergebnis: Latein macht Schüler wütend. red

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                        Keine Angst vor Fake News

                        Auf dem Foto ist Alexander Otto zu sehen, er ist Schulleiter der Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow und reflektiert in seinem Unterricht über Nachrichten und Fake News.
                        Alexander Otto ist Schulleiter der Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow

                        Der politische Unterricht beginnt mit einem Traditionsgut: den Nachrichten aus der Tagesschau. Alexander Otto spielt in seinen Deutsch- und Geschichtsstunden die 100-Sekunden-Version der Tagesschau gern mal ab. Dazu stellen die SchülerInnen Fragen. Manchmal sagen sie auch nichts. Was auch in Ordnung ist. “In der Regel guckt das keiner von denen”, hat Otto über seine Schüler gelernt. “Aber bei mir bekommen sie das pädagogische Angebot dazu.” Auf Deutsch: sie müssen es gucken – um es zu analysieren.

                        Die Standard-Nachrichtenware der Nation erreicht Jugendliche in Zeiten des Digitalen nicht mehr. Darum trauern Intendanten und Politiker schon lange. Aber wohin es führt, wenn der Nachwuchs Inhalte und Politik nur noch im TikTok-Format wahrnimmt, das zeigen jetzt die ersten Wahlen (Bildung.Table berichtete). Alexander Otto spricht von Radikalisierungstendenzen, denen seine Schüler ausgesetzt sind. Gegen die will der 36-Jährige angehen.

                        Anonymous-Beitrag gespickt mit Fehlern

                        Die Grace-Hopper-Gesamtschule in Teltow, die er leitet, hat dafür ein Konzept entwickelt. Die Lehrer:innen ziehen den digitalen Nachrichtenmüll heran – und machen ihn zum Unterrichtsgegenstand. “Ich habe letztens eine ganz wunderbare Schulstunde gesehen”, erzählt Otto. Eine Propagandaseite hatte einen Beitrag über die Bombardierung von Dresden 1945 veröffentlicht, der mit Fehlern gespickt war. Die Schüler der Grace-Hopper haben sich das Ding vorgenommen. “Die haben es dekonstruiert: Was stimmt denn da und was stimmt nicht?” So erfahren die Schüler Fake-News “nicht als Instrument, das ihnen Angst macht”, sagt der Schulleiter. “Sie lernen, Respekt davor zu haben.” 

                        An der Grace-Hopper-Schule lernen 370 Schüler. Die meisten werden wahrscheinlich keine Politiker, aber sie sollen politisch auf der Höhe sein. TikTok ist ihre beliebteste Nachrichtenquelle, Instagram auch noch, Facebook wird schon weniger. Wirklich aufgenommen wird da kaum etwas, Otto spricht eher von gleichgültigem Konsum. “Wir merken, dass die Schüler aufgrund der Fülle kaum noch in die Lage versetzt werden, etwas zu hinterfragen”, sagt er. Da findet einer irgendwas, das wird dann in einem Schneeballsystem weiterverbreitet. “Plausible, wissenschaftlich fundierte Argumentation wird nicht mehr aufgenommen, sondern ersetzt durch das, was man bei TikTok aufgelesen hat” (Bildung.Table berichtete). Was sie nicht über ihre Peergroups geteilt bekommen, ist in ihrer Welt nicht existent. Der Schlüssel liegt darin, die Darstellungsformen des Pseudo-Journalismus auseinanderzunehmen. Dekonstruieren und rekonstruieren von Videos und Memes, das ist die Essenz von Ottos Politikunterricht. 

                        Wer selbst produziert, steigt tiefer ein

                        Wo die klassischen Gatekeeper der politischen Bildung fehlen, gibt es kein Gatekeeping mehr. Wie man unter solchen Bedingungen Schüler für Reflexion erwärmen könnte, darüber gibt es nur wenige Rezepte. Das Strategiepapier Bildung in der digitalen Welt der Kultusministerkonferenz legt Lehrkräften zwar ans Herz, sie mögen die “Bedeutung von digitalen Medien für die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung kennen und nutzen”. Doch das Monstrum der sozialen Medien kommt in dem Papier von 2016 noch gar nicht vor. Den Minister:innen fehlte anscheinend die Vorstellungskraft, dass fünf Jahre später schon Kinder auf ihren gängigen Video-Plattformen mit Propaganda aller Sorten beschossen würden. 

                        Alexander Ottos Medienbildung besteht aus vier Teilen: Alles beginnt mit der Medienkunde, die einen Überblick über das Angebot an Informationen schafft. Dann kommt die Medienkritik, wie etwa mit dem Artikel zu Dresden. Danach kommt die Handhabung der Medien und schließlich die Gestaltung. “Wenn die Schüler ein Video selbst produzieren, dann erreichen wir einen Durchdringungsgrad, der alle anderen Kompetenzen voraussetzt”, ist der Schulleiter überzeugt. 

                        Ein Schnittprogramm wie das andere

                        Das Gestalten ist ein Zauberwort im Leitbild der Grace-Hopper-Schule. “Medien und Digitalisierung“, heißt es dort, “sind für uns Mittel zur tiefgründigen Gestaltung und Ausbildung besonderer Kompetenzen.” Die Schule wurde 2018 in der 27.000-Einwohner-Stadt Teltow gegründet. Sie ging hervor aus einer Oberschule, die zur Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe weiterentwickelt wurde. Mit der Namensgeberin Grace Hopper, einer Computerpionierin und Admiralin der US-Navy, gab sich die Schule gleich das passende Manifest. Schwerpunkt ist das kreative Lernen im Digitalen. Die Grundidee heißt: selber machen. “Jedes Schnittprogramm ist wie jedes andere”, sagt Otto. “Wenn man einmal Final Cut beherrscht, dann weiß man auch, wie man mit Adobe Premiere arbeitet – und umgekehrt.” 

                        Wie das genau aussieht, ist eine der Zukunftsfragen des Lernens, die auch in Teltow noch nicht vollends geklärt ist. Aber die Notwendigkeit, alte Konzepte neu zusammenzusetzen, liegt auf der Hand. “Unser Schulsystem ist in groben Zügen noch dasselbe, wie wir es vor 250 Jahren in Preußen vorgefunden haben – das wird den heutigen Denkmustern nicht mehr gerecht“, sagte Schulleiter Otto jüngst auf einem Podium des Digitalverbands Bitkom. “Die Generation, die jetzt in den Schulen ist, wird Probleme lösen müssen, die wir heute noch gar kennen.” Die Lernkultur müsse sich daher radikal wandeln. Der Teltower sollte über Strategien gegen die Radikalisierung von Kindern und Jugendlichen sprechen. Seine Ansicht: Medien- und Digitalkompetenz sollte heute das bedeutendste Thema von Schule sein (Bildung.Table berichtete). Dazu brauche es einen produktorientierten und fächerübergreifenden Unterricht, der Medien in vielen Fächern zum Gegenstand und Mittel des Lernens macht. Dann könne man am Ende der Schullaufbahn hoffentlich sagen: “Sie haben die Kompetenzen, die sie in der digitalen Welt brauchen.” 

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                          Digital gestützte Selbsteinschätzung

                          Wo liegt der pädagogische Vorteil?

                          Ich ermuntere meine Schüler:innen, regelmäßig über das eigene Lernen nachzudenken – und realistische Selbsteinschätzungen darüber zu versuchen. Als Lehrerin kann ich anhand dieser Selbstkritiken sehen, wie die Schülerinnen und Schüler über ihr Lernen reflektieren. Ihr Lernprozess und ihr Lernen werden gewissermaßen sichtbar. Es ist für mich dann leichter, ihnen Tipps und Hinweise zu geben – und das sehr individuell. Ich lerne also etwas über meine Schülerinnen und Schüler und kann meinen Unterricht besser auf sie abstimmen. In der Regel gibt es dann auch keine Noten-Überraschung – weil wir konstant im Gespräch sind. Die Voraussetzung dafür ist Offenheit und Vertrauen. Die Vorteile für die Schüler:innen sind meines Erachtens sogar noch größer. Das sind ja nicht unvernünftige Protokolle oder verstockte Gedanken im Stile eines “Nein, ich konnte diese Aufgabe nicht!” Vielmehr findet da bei den Schüler:innen ein vernunftgeleitetes Nachdenken über das statt, was gut funktioniert hat. Und auch jene Schritte des Lernens werden durchdacht, die noch nicht so gut geklappt haben. Die Schüler nutzen bei mir dafür Kriterien, die sie selbst entworfen haben. Meine Erfahrung ist, dass das den Druck nimmt, äußerlichen Anforderungen zu folgen. Und es motiviert – weil jeder mitmachen kann. 

                          Welche Technik braucht man für das Instrument?

                          Zunächst einmal ist die Selbsteinschätzung im Grunde nur machbar, weil es nun überall digitale Austauschformate gibt. Die technischen Voraussetzungen sind minimal. Ich brauche eigentlich nur ein gemeinsam bearbeitbares Dokument, das idealerweise in einem Lernmanagementsystem zur Verfügung gestellt wird – denn es handelt sich um sehr sensible Schülerdaten. Für mich als Lehrerin ist wichtig, dass ich von überall her darauf zugreifen kann. Wenn es ortsunabhängig verfügbar ist, kann ich auch mal en passant eine Selbsteinschätzung anschauen – und kommentieren. 

                          Bringt die Selbsteinschätzung auch nach der Rückkehr in die Klassenzimmer etwas?

                          Das Schöne an dieser sozialen und didaktischen Methode ist, dass sie sowohl in Präsenz als auch auf Distanz und sogar beim hybriden Lernen sinnvoll einsetzbar ist. Im Präsenzunterricht kommt noch hinzu, dass ich Schülerinnen und Schülern persönlich etwas zu ihrer Reflexion sagen kann. Ich bin überzeugt, dass das bleibt. Und es muss auch bleiben, weil es sehr wichtig ist. 

                          Pro-Tipp

                          Wichtig ist, dass diese Praxis nicht zur Notenfindung missbraucht wird. Es ist kein Bewertungsinstrument, das ist fürs Gelingen essenziell. Das muss den Schüler:innen auch transparent gemacht werden. Wenn man das nicht tut, dann läuft man möglicherweise Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler ihr Lernen so darstellen, dass eine möglichst gute Note herauskommt. Meine Erfahrung zeigt, dass es hilft, daraus keine ausgefeilte schriftliche Beurteilung zu machen, sondern das Instrument für relativ spontane Rückmeldungen zu nutzen. In meinen Augen ist das wie ein Dialog zwischen den Lernenden und mir – der auch mündlich stattfinden könnte. Wenn man das beherzigt, dann sieht man auch schnell Erfolge. Ein Beispiel: In Spanisch verlieren Schüler:innen leicht den Anschluss, und zwar richtig stark. Wenn sie in der Selbstreflexion gut mitarbeiten, hilft es ihnen, das Risiko des Anschlussverlustes selbst zu erkennen. Sie reflektieren, dass und wie sie lernen. Sie sehen: ich kann was und ich habe Einfluss auf mein Lernen. 

                          Kritik

                          Ein Nachteil kann ganz klar der Arbeitsaufwand sein. Deswegen rate ich jeder Lehrkraft, den Schülerinnen und Schülern knapp und aussagekräftig Feedback zu ihrer Selbsteinschätzung zu geben. Am liebsten wäre mir, stattdessen den einen oder anderen Test wegzulassen – und die Korrekturlast zugunsten dieser Methode zu verringern. 

                          Iris Laube-Stoll unterrichtet die Fächer Spanisch und Französisch am St. Ursula-Gymnasium in Düsseldorf und ist als Fachleiterin Spanisch am ZfsL Mönchengladbach tätig.

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