Table.Standpunkt
Erscheinungsdatum: 29. Oktober 2023

Hannemann: Eine linke Politik kann ohne die Klassenfrage nicht agieren

-
Inge Hannemann hat eine lange Geschichte mit der Partei die Linke. Erst nach Wagenknechts Austritt stieß sie wieder dazu. Was es für eine starke linke Politik jetzt bräuchte, schreibt sie in einem Standpunkt.

Die Linke in der Krise. Aus den Landtagen raus und die Wählerschaft geht ihnen verloren. Das waren und sind stark wirkende Überschriften in den Medien und Tatsachen, die nicht wegzuleugnen sind. Und trotzdem, oder gerade deswegen bin ich erneut in Die Linke eingetreten. Unsere Demokratie braucht eine starke, linke Politik. Eine linke Politik, welche eine Politik umsetzt, die immer die Klassenfrage in den Mittelpunkt stellt. Und, die die Frage stellt: Was ist an meiner Behauptung oder Forderung links? Die Klassenfrage ist hierbei nicht nur die Frage nach dem Einkommen, Vermögen oder den Arbeiter:innen. Vielmehr stellt sie den gesellschaftlichen Stand infrage und berücksichtigt diesen. Daraus folgt, dass erkannt wird, dass soziale Ungerechtigkeiten auch dort vorhanden sind, wo sie versteckt oder verdeckt sind.

Im Jahr 2022 waren laut Statistischem Bundesamt 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das waren 20,9 Prozent. Die verdeckte Armut noch nicht mit eingerechnet. Es ist bekannt, dass sehr viele Menschen, die Anspruch auf (ergänzende) Sozialleistungen haben, diese nicht in Anspruch nehmen. Nach einem Bericht über Kinderarmut der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen schätzen Expert:innen den Anteil auf etwa 40 Prozent. Die Linke hat als Alleinstellungsmerkmal auf ihrer Agenda, dass politische Debatten die soziale Frage und damit auch die Klassenfrage verbinden. Alle anderen Parteien kratzen diese an und bewilligen gleichzeitig, dass Menschen nur eine bestimmte Leistung erhalten, wenn sie gehorchen oder in der Vergangenheit gehorcht haben.

Das Gleiche gilt in der Klimafrage und deren Diskussion. Ökologie und die soziale Frage können nur zusammen gestellt und gelöst werden. Arme oder Menschen mit geringem Einkommen leben häufig an viel befahrenen Straßen oder in schlecht isolierten Wohnungen. In der Regel sind die Wohnungen auch nicht deren Eigentum. Es stellt sich also nicht die Frage, ob sie sich eine Wärmepumpe einbauen können oder nicht. Sie sind auf die Entscheidung ihrer Vermieterin oder ihres Vermieters angewiesen. Linke Politik beachtet dieses und verbindet die Ängste vor teuren Nebenkosten (höhere Energiekosten) dieser Menschen mit den Forderungen von machbaren ökonomischen positiven Veränderungen. Sie hört zu und agiert, anstatt zu reagieren.

Die Frage und deren Lösung nach der sozialen Gerechtigkeit ist zu einseitig beantwortet, wenn in einem oder in zwei Sätzen nur die „hart Arbeitenden“ und der Mittelstand erwähnt werden. Sie ist auch nicht damit gelöst, dass die Zunahme der Schwarzarbeit das Bürgergeld ergänzt. Die Linke fordert eine menschenwürdige existenzsichernde Sozialleistung für Menschen, die, aus was für Gründen auch immer, erwerbslos geworden sind oder nicht mehr arbeiten können. Sie steht dafür ein, dass eine sogenannte „Leistungsgesellschaft“ nicht nur aus „hart Arbeitenden“ besteht. Das könnte sie allerdings weitaus deutlicher als in der Vergangenheit herausstellen. Es liegt sicherlich nicht nur an ihrem eigenen Zutun, dass ihre zahlreichen umfangreichen Anträge und Anfragen im Bundestag zu sozialen Themen kaum mediales Gehör finden. Dafür war in der Vergangenheit zu viel internes Gerangel um vieles andere oder um Persönlichkeiten, auf welches sich die Medien stürzten.

Trotzdem schadet es der Linken zukünftig sicherlich nicht, wenn Partei- oder Fraktionsvorstände die Not der von Armut Betroffenen oder die soziale Ungleichheit stärker auf das politische und vor allem auf das verbale Tableau nehmen. Das hat für Die Linke den Vorteil, dass die Kommunikation mit den Zuhörer:innen stattfinden kann. Wenn man immer darauf wartet, wie der Gegner – zumeist ist es ja der rechte Gegner – agiert, kann man nur noch reagieren. Das verbraucht unendlich viel Zeit, Empowerment und Ressourcen für die eigene politische Arbeit. Außenstehende, wie Parteimitglieder, Sympathisant:innen oder Interessierte warten parallel dementsprechend schon auf die Reaktion der eigenen Partei. Den Nutzen hat indessen die Gegenpartei, indem sie durch steile Thesen, Populismus oder Halbwahrheiten die Kräfte der Gegner bindet. Im März 2016 errang die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 24,3 Prozent. Von den Erwerbslosen bekam sie sogar mehr als 30 Prozent. Gerade das Prekariat wählte die AfD aus Protest gegen den von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen vertretenen Neoliberalismus, obwohl das Programm der AfD besonders arbeiter- und erwerbslosenfeindlich ist. Das ist perfide, aber es funktioniert.

Ich erwarte von einer starken Linken zum einen, Aufklärung zu betreiben, aber zum anderen das Im-Nachhinein-Reagieren im Vorfeld bereits zu einem Agieren umzuwandeln. Unsere Sprache muss klar, einfach und deutlich sein, ohne die Gefahr einer Interpretation und der damit verbundenen Vieldeutigkeit. Unsere (zukünftige) Wählerschaft hat den Anspruch und das zu Recht, dass wir als Linke uns nicht der Subtexte bedienen. Wenn wir als Linke davon sprechen, dass wir eine Vergesellschaftung von Wohnraum fordern, ist das für Kenner:innen des Metiers richtig. Für Menschen, die sich mit der Wohnraumpolitik (noch) nicht näher befasst haben, stellt es unter Umständen eine Gefahr dar oder schürt die Angst, das Haus oder die Wohnung unter Zwang abgeben zu müssen. Wir müssen erklären: Wer ist davon betroffen, wie soll das umgesetzt werden und was ist damit gemeint?

Um noch mal zurückzukommen auf die von Armut Betroffenen: Es wird viel über das Bürgergeld diskutiert. Diskussion ist eigentlich viel zu nett ausgedrückt. Die Kommentare in den Medien vonseiten der Leser:innen beschränken sich zumeist darauf, dass die „Schmarotzer“ arbeiten gehen sollen oder dass es sich nicht mehr lohne, zu arbeiten, da es zu viel Bürgergeld (ehemals Hartz IV) gebe. Das Stigma der Sozialleistungsbezieher:innen ist so alt wie die Sozialleistungen. Die Agenda 2010 hat es nur noch verstärkt und zementiert. Gleichzeitig hat sich damit auch die sogenannte Leistungsgesellschaft verhärtet und wer nicht mehr mithalten kann, ist außen vor. Alt, krank und behindert sein gilt in unserer Gesellschaft in vielen Teilen nichts mehr. Eine linke Politik beachtet beide Gruppen in ihren politischen Forderungen gleichermaßen. Es ist zwar wichtig, mehr Geld zu fordern, da gegen Armut nur Geld hilft, aber es ist ebenso von Bedeutung, zu betonen, dass Ressentiments von außen nicht der Wahrheit entsprechen.

Armut hat neben der materiellen Grundlage auch immer eine persönliche Note. Und diese kann nur erfahren werden, wer mit den Betroffenen spricht und nicht nur über sie. Betroffene haben sehr feine Antennen entwickelt, wenn politische Aussagen ohne wirkliches Interesse getätigt werden. Die letzten Monate zeigten auf, dass Die Linke durchaus in der Lage ist, mit Menschen Kontakt aufzunehmen und jene zu unterstützen, die sich sonst nicht gehört fühlten. Als Beispiel möchte ich die Twitter-Initiative #IchBinArmutsbetroffen erwähnen. Die Linke unterstützte deren Forderungen nach mehr Sichtbarkeit, war teilweise bei Demonstrationen vor Ort oder sonstigen Veranstaltungen aktiv. Parallel dazu trug sie die Anliegen des Hashtags #IchBinArmutsbetroffen in den Bundestag. Gleichzeitig entstand die Initiative „Genug ist genug“, in der ebenfalls Armutsbetroffene und Linke miteinander agierten.

Die bisherige Zusammenarbeit mit der Bundestagsfraktion war für mich in den letzten Jahren unproblematisch: Wünsche, Inputs für Anfragen oder Sonstiges wurden umgesetzt. Die Konzentration auf viele Nebenschauplätze klaute allerdings viel Zeit für Soziales und deren Wählerschaft. In zwei Jahren ist Bundestagswahl. Zwei Jahre Zeit, um sich neu aufzustellen, Menschen dort abzuholen, wo sie sind und vor allem einzubinden – unabhängig vom Status, ob mit oder ohne akademische Ausbildung – und deren Stärken und Potenziale zu erkennen und auszuschöpfen. Eine linke Politik ist dort stark, wo wir Gleichberechtigung und Gleichheit auf einer Ebene leben. Wo wir von einer Personalisierung zurück zu unseren Werten kommen, wo wir mit außerparlamentarischen Netzwerken arbeiten und wo wir uns vom Parlamentarismus und dessen Zwängen befreien.

Inge Hannemann arbeitete früher in einem Jobcenter und wurde durch einen „Brandbrief“ bekannt, den sie 2013 veröffentlichte. 2015 erschien ihr Buch „Die Hartz-IV-Diktatur: Eine Arbeitsvermittlerin klagt an“. Von März 2015 bis Juli 2017 saß sie für die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft. 2022 startete sie mit anderen Aktivistinnen die Initiative #ArmutVerbindet.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
Teilen
Kopiert!