Die Latte liegt hoch. Die Erwartungen sind groß. Ziel der neuen Bundesregierung ist es, nach Jahren der Stagnation, sogar einer leichten Rezession, die wirtschaftliche Wende einzuleiten und Deutschland wieder auf Wachstumskurs zu bringen. Die Ambition ist richtig.
Nach Jahren der roten Laterne bei der wirtschaftlichen Entwicklung im internationalen Vergleich soll Deutschland nun zur Wachstumslokomotive in der EU werden – ein richtiges Ziel, um Wohlstand und Beschäftigung aber auch um politische Stabilität zu sichern. Denn betrachtet man die politischen Entwicklungen in anderen europäischen Ländern wird deutlich: schwaches Wachstum führt zu Verteilungskonflikten, Aufstiegs- und Zukunftspessimismus, stärkt den Rechtspopulismus und damit die Instabilität der Demokratie und schwächt die Handlungsfähigkeit demokratischer Regierungen.
Aufbruch ist das Narrativ und es schien eine Zeit lang, als würden auch wichtige Vertreter der Wirtschaft in dieses Narrativ einstimmen. Investitionsgipfel mit führenden Wirtschaftsunternehmen versprachen zusätzliche 300 Mrd. € an privaten Investitionen in den Standort Deutschland. Der PR-Aufwand war erheblich.
Der Koalitionsvertrag soll Aufbruch vermitteln, staatliche Investitionen in Infrastruktur und Verteidigung, verbesserte Abschreibungen, eine auf den Weg gebrachte Unternehmenssteuerreform zur Mitte der Legislaturperiode und eine angekündigte Einkommenssteuerreform sollen die ökonomische Zeitenwende möglich machen.
Bislang ist von der vollmundig angekündigten Wirtschaftswende jedoch wenig zu sehen.
Damit kein Missverständnis besteht: Die über Schulden finanzierten Maßnahmen in Infrastruktur und Verteidigung sind nach anderthalb Jahrzehnten der massiven Unterfinanzierung öffentlicher Investitionen und der Schrumpfung des öffentlichen Kapitalstocks richtig. Auch verbesserte Abschreibungen sind sinnvoll.
Aber selbst bei den fiskalischen Impulsen sind viele Fragen offen. Es zeichnet sich ab, dass von Zusätzlichkeit der öffentlichen Investitionen nicht die Rede sein kann. Bereits geplante Infrastrukturprojekte werden in das Infrastrukturpaket verschoben, der KTF soll für die Strompreisentlastungen und für den notwendigen Zukauf von CO2-Zertifikaten wegen der nicht zu erreichenden Klimaschutzziele im Verkehr und im Gebäudereich zu Lasten von Transformationsinvestitionen genutzt werden, bei den 100 Milliarden Euro für Länder und Kommunen ist die Zusatzerfordernis gleich gänzlich aufgehoben worden. Und die offene Frage bleibt, in welchem Umfang die geplanten Investitionen durch Preissteigerungen aufgefressen werden. Die zusätzlichen Investitionen der Bahn aus den Vorjahren sind etwa zu 90 Prozent in Preissteigerungen gegangen. Die notwendigen enormen Investitionen in die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr werden nur für geringe Wachstumsimpulse sorgen.
Bis zum Jahre 2029 gibt es im Bundeshaushalt eine Finanzierungslücke von rund 172 Milliarden Euro; disponible Mittel im Haushalt werden nach Berechnungen von Dezernat Zukunft deutlich zurückgehen und damit die Möglichkeit, auf neue Herausforderungen und Schwerpunkte reagieren zu können. Wie diese Haushaltslöcher gestopft werden, bleibt nebulös, die Debatte der Bundesregierung mäandert zwischen Steuerhöhung und Sozialkürzungen. Ein klarer Kurs ist nicht erkennbar. Die Wette lautet mehr Wachstum wird die Defizite beherrschbar machen.
Nach dem Aufbruch-Narrativ ist Ernüchterung eingetreten, die Klagen aus der Wirtschaft nehmen an Deutlichkeit zu, aus Handwerk, Chemie, Maschinenbau, Stahl, der Pharmabranche etc.
Die deutsche Wirtschaft kommt nicht in Fahrt. Im zweiten Quartal schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 0,3 Prozent, das Statistische Bundesamt musste den Wachstumseinbruch in den Jahren davor weiter nach unten korrigieren. Auch auf dem Arbeitsmarkt zeigt sich die wirtschaftliche Flaute: Erstmals seit 2015 ist die Zahl der Arbeitslosen im August wieder auf mehr als drei Millionen gestiegen. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das 153.000 zusätzliche Menschen ohne Job. Der Arbeitsmarkt ist gespalten.
Die industrielle Basis des Landes erodiert. Die Autoindustrie strich binnen eines Jahres 51.500 Stellen – fast sieben Prozent der Arbeitsplätze. Im Maschinenbau sind bis zu 20 Prozent der Jobs gefährdet. Und in der Chemiebranche sind mittlerweile 40.000 Stellen bedroht, weil hohe Energiepreise und eine unsichere Regulierung die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen unterminiert und Investitionen immer wieder verschoben werden. Insgesamt verlor die deutsche Industrie seit 2019 rund 245.000 Arbeitsplätze. Das ist keine Konjunkturdelle, sondern ein fortschreitender Substanzverlust. Deindustrialisierung ist zur ökonomischen Realität geworden.
Der frühere Exportweltmeister verliert zunehmend Marktanteile auf dem Weltmarkt. Die industrielle Wertschöpfung ist in den letzten Jahren um 10 Prozent gesunken. Laut Bundesbank hätte das BIP zwischen 2021 und 2024 um 2,4 Prozentpunkte höher ausfallen können, wenn deutsche Exporteure ihre Stellung gehalten hätten. Stattdessen produziert die deutsche Industrie inzwischen 22 Prozent teurer als der internationale Durchschnitt – und wird von Wettbewerbern aus den USA, China oder Südkorea aus den Märkten gedrängt.
Der nach wie vor schwelende Handelskonflikt sorgt für Verunsicherung, denn eine verlässliche, rechtssichere Vereinbarung zwischen der EU und den USA gibt es bislang nicht. Unsicherheit, Investitionszurückhaltung oder Produktionsverlagerungen sind die Folge.
Private Investitionen und privater Konsum sind schwach. Die Lohnnebenkosten, also die Ausgaben für die Sozialversicherungssysteme, steigen zum Teil erheblich, was den privaten Konsum und die Kostenstruktur der Unternehmen belastet und weiterhin belasten wird. Die versprochene Senkung des Industriestrompreises um fünf Cent je Kilowattstunde ist bis heute nicht umgesetzt, die Entlastung bei den Netzentgelten soll nach jetzigem Stand nur für ein Jahr gelten. Die bisherigen Überlegungen werden die Wettbewerbssituation der energieintensiven Industrie kaum verbessern.
Nach einer Welle des Optimismus werden die Wachstumsaussichten der Forschungsinstitute inzwischen wieder reihenweise nach unten korrigiert.
Die zusätzlichen öffentlichen Investitionen sind richtig. Sie werden angesichts des Verschiebebahnhofs im Bundeshaushalt, der wahrscheinlichen Nutzung der Investitionsgelder für Länder und Kommunen für Haushaltskonsolidierung und andere Maßnahmen, sowie angesichts zu erwartender Preissteigerungen jedoch erst mit zeitlicher Verzögerung positive ökonomische Effekte erzielen. Und die Effekte werden geringer sein als häufig unterstellt.
Legt man die Sommerinterviews von Merz und Klingbeil und die bisherige wirtschafts- und finanzpolitische Kommunikation der Bundesregierung zugrunde, bleibt der Eindruck, Investitionspaket und Investitionsbooster sind der Minimalkonsens in der Regierung. Grundlegendere Maßnahmen und Initiativen tauchen zwar in manch Ministerrede auf, sind aber weder in der gesamten Bundesregierung akzeptiert noch mit klaren Konzepten hinterlegt. Der Herbst der Reformen ist vor allem eines: Ankündigung. Und er ist reduktionistisch, denn er konzentriert sich bislang nur auf Sozialreformen ohne eine weitergehende ökonomische Agenda für die nächsten Jahre.
Also bleibt vor allem eines: Die Makroökonomische Illusion, vor allem über öffentliche Investitionen die Trendwende herbeizuführen. Es ist vor allem deshalb eine Illusion, weil es die ökonomischen Herausforderungen und ihre Wechselwirkungen nur unzureichend oder gar nicht adressiert.
Die Wachstumsschwäche der letzten Jahre hat sehr viel grundlegendere Ursachen. Sie ist eine toxische Mixtur aus Standortschwäche (schwaches Potentialwachstum, schwache private Investitionen, hohe Regulierungsdichte, Digitalisierungsdefizite, Steuer- und Sozialabgabenniveau, Demographieprobleme), Wettbewerbsschwäche (geringe Innovationsdynamik, schwache Produktivitätsentwicklung, hohe Energiepreise, verlorene technologische Spitzenposition in industriellen Schlüsselbereichen, Fachkräfteprobleme), Resilienzschwäche (hohe Abhängigkeiten in Schlüsselbereichen wie Digitalisierung, Rohstoffe) und damit verbunden eine Erosion des deutschen Geschäftsmodells (hoher Anteil industrieller Wertschöpfung, hoher Exportanteil, Handelsbilanzüberschüsse).
Die Globalisierungs- und Friedensdividende ist seit langem aufgebraucht, eine integrale Antwort auf diese Herausforderungen fehlt seit langem auf europäischer wie nationaler Ebene. Daraus folgt auch eine zunehmende geopolitische und geoökonomische Erpressbarkeit.
Wie in der Ampel drückt der Koalitionsvertrag den kleinsten gemeinsamen Nenner der Koalitionäre zum Zeitpunkt seines Zustandekommens aus. Nicht mehr und nicht weniger. Das jüngste Betonen des Koalitionsvertrages (Merz, Söder) zeugt vor allem von Status quo Denken. Es zeigt vor allem ein schwaches gemeinsames Grundverständnis und eine schwache Vertrauensbasis. Die ersten 120 Tage dieser Regierung und die seitdem stattgefundenen geopolitischen und geoökonomischen Entwicklungen können mit dem Status quo des Koalitionsvertrages nicht die die notwendigen Antworten auf die Standort-, Wettbewerbs- und Resilienzschwäche und die Erosion des bundesdeutschen Geschäftsmodells geben. Makroökonomische Impulse sind wichtig. Sie reichen jedoch nicht aus, und sie können zu Illusionen führen. Die Trendwende braucht mehr.
Der Bundeskanzler reklamiert für Deutschland eine Führungsrolle. Seine außenpolitischen Initiativen waren wichtig, um ein schwaches Europa in der Ukrainefrage zusammenhalten und zumindest mit einer Stimme zu sprechen. Jetzt braucht es auch eine deutsche Initiative, möglichst gemeinsam mit Frankreich, für eine ökonomische Agenda für Europa. Die Wachstums- und Effizienzpotentiale des Binnenmarktes müssen endlich gehoben werden bei der Kapitalmarkt- und Bankenunion, im Energie-, Telekommunikations- und Digitalmarkt sowie im Dienstleistungssektor – ergänzt um ein industrie- und resilienzpolitisches Programm. Der Clean Industrial muss mehr sein als ein Narrativ, um nicht mehr über den Green Deal reden zu müssen. Ein Schlüssel liegt dabei bei einer investitionsorientierten Reform des Emissionshandels. Auch die finanzpolitischen Möglichkeiten der EU müssen verbreitert werden. Der Draghi- und Letta-Report sind dafür die Blaupausen. Unter der Koordinierung von Jakob von Weizsäcker, Jean-Pisani Ferry sowie den Vorsitzenden des deutschen und des französischen Sachverständigenrats, Monika Schnitzer und Xavier Jaravel, legten führende Ökonomen für den deutsch-französischen Ministerrat in Toulon Vorschläge vor, die in eine ähnliche Richtung gehen: mit deutsch-französischen Innovationsagenturen nach dem Vorbild der US-DARPA, einem europäischen KI-Rechencampus und einer stärkeren Koordinierung von Verteidigungs- und Industriepolitik. Europa hat kein ökonomisches Erkenntnis-, aber ein dramatisches Umsetzungsproblem.
Deutschland braucht eine Konzertierte Aktion für Wachstum und Beschäftigung unter Einschluss von Gewerkschaften und Verbänden. Wenn es dies nicht gibt, wird der ökonomisch soziale Kulturkampf, wie er sich jetzt andeutet, an Fahrt zunehmen. Dabei müssen alle Beteiligten bereit sein, „out of the box“ zu denken. Einen Interessens- und Lobbypartikularismus kann sich dieses Land nicht leisten. Auf die Tagesordnung gehört dabei der Deutschlandfonds, also die Mobilisierung von privatem Kapital für öffentliche und private Investitionen, eine Industriepolitik zur Sicherung der bestehenden industriellen Basis sowie für Schlüsseltechnologien, eine Reform der sozialen Sicherungssysteme in Abstimmung mit der zukünftigen Steuerpolitik, sowie ein umfassendes Deregulierungsprogramm. Deutschland braucht einen Standort-, Wettbewerbs- und Sozialstaatskonsens.
Die Vorschläge der Initiative zur Staatsmodernisierung liegen auf dem Tisch. Dazu muss die Bundesregierung eine ziel- und umsetzungsorientierte Struktur schaffen. Dies kann nicht einfach an ein Ministerium, das den Begriff zumindest in seiner Amtsbezeichnung trägt, delegiert werden.
Zum Schluss zwei Zitate, die die Dinglichkeit und das Herausforderungsniveau auf den Punkt bringen:
„Die 20er Jahre werden die schwierigsten in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte.“ (Prof. Dr. Moritz Schularick, Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft)
„Seit Jahrzehnten löst die Demokratie nicht ein, was sie verspricht.“ (Prof. Dr. Daron Acemoglu, Wirtschaftsnobelpreisträger).
Mehr bleibt nicht hinzuzufügen.
Matthias Machnig war Staatssekretär in mehreren Bundesministerien, zuletzt im Bundeswirtschaftsministerium, und Minister für Wirtschaft und Arbeit in Thüringen. Er ist Vizepräsident des Wirtschaftsforums der SPD e.V.