Im Mai wird die Bundesrepublik Deutschland 75 Jahre alt werden. Seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 hat kein deutsches Staatswesen so langen Bestand gehabt. Das ist ein Grund zum Feiern. Aber es will keine wirkliche Feierlaune aufkommen. Zum einen, weil es Stimmen gibt, die dem Gesetz der politischen Entropie folgend, bereits einen Abgesang auf die erfolgreiche deutsche Republik von Alters wegen anstimmen. Zum anderen, weil die Demokratien und Republiken des Westens im Innern von Selbstzweifeln und Extremismen zerfressen und im Äußern von Feinden bedroht erscheinen. Die Vertrauensbekundungen der Regierten für die aktuelle Ampel-Regierung sind bedrückend niedrig, die umfassende Zuwendung zur oppositionellen Union hat noch Luft nach oben.
Die Parteienlandschaft ist zerklüfteter denn je und am rechten und linken Rand des Spektrums vereinen populistische Akteure fast ein Drittel der Wählerstimmen. Klimadystopie, Verteilungskonflikte, identitäre Kulturkämpfe, Attentismus, Zukunftsängste und Abstiegserzählungen bestimmen das Gemüt.
Verheißungsvolle Erzählungen über eine bessere Zukunft sind in Deutschland wieder einmal Mangelware. Und das um den 75. Geburtstag unserer Bundesrepublik herum. Wie konnte das passieren? Passt die deutsche Gefühlsmalaise in ein größeres Muster? Gibt es einen Ausweg?
Winston Churchill wird das Zitat „The farther back you look, the further ahead you can see“ zugeschrieben. Es ist den Versuch wert, in einem Blick nach hinten zurück auf das Erreichte Hinweise auf das vor uns Liegende zu finden. Wenn man den Mut aufbringt und 200 Jahre zurückblickt, dann fällt auf, welch erstaunlichen Weg unser Land und unsere Nation beschritten hat. Um 1800 lebten auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches knapp 22 Millionen Menschen, fast vier Fünftel davon in sehr ärmlichen Lebensverhältnissen in der Landwirtschaft. Armut, Elend, Krankheit und Unfreiheit beherrschten ein sehr kurzes Leben. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei unter 40 Jahren.
Die Wirklichkeit war eine andere als die in den Gemälden der deutschen Frühromantiker wie etwa Caspar David Friedrich dargestellte. Und auch vor 200 Jahren gab es ein Migrationsphänomen und eine paneuropäische Dystopie. Allein aus Deutschland wanderten im 19. Jahrhundert über 5 Millionen Menschen aus Armut und Verzweiflung, teils aus religiöser Diskriminierung über ein Meer, den Atlantik, in die USA aus. Robert Malthus prognostizierte den Untergang der Menschheit wegen eines die Nahrungsmittelproduktion übersteigenden Bevölkerungsanstiegs. Der Untergang der Menschheit durch Hunger fiel jedoch aus.
Knapp 100 Jahre später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten im Deutschen Reich 70 Millionen Menschen. Nicht mehr auf dem Land und in der Landwirtschaft tätig, sondern in den Städten und mit der Industrie als Rückgrat. Migration aus Osteuropa, bahnbrechende Erfindungen in Wissenschaft, Technik und Sozialstaatlichkeit, sowie eine Innovationswelle in der Landwirtschaft sorgten für eine gigantische Transformation der Gesellschaft in Deutschland.
Hunger, Armut und Krankheit wurden besiegt, Wohlstand für viele und eine längere Lebenserwartung waren die positiven Seiten dieser Transformation hin zu einer Moderne. Energiegewinnung durch fossile Energieträger war das zentrale Mittel. Der negative Preis, von dem nun ausführlicher zu sprechen sein wird, war die Belastung der Umwelt und der Atmosphäre mit Kohlenstoffderivaten im anbrechenden 20. Jahrhundert.
Warum dieser Blick zurück? Weil er wertvolle Lektionen für die Gegenwart und Zukunft unseres Landes bereithält. Und weil er einen Kern konservativ-bürgerlicher Politik definiert. Technologieoffenheit in der Forschung, Mut zur Anwendung technologischer Neuerungen in Wirtschaft und Gesellschaft, ganz generell eine Humboldt’sche Neugier haben Deutschland im 19. Jahrhundert transformiert und das Leben von Millionen Menschen länger und besser werden lassen wie die Bereitschaft einer damals prädemokratischen Politik für Sozialinnovationen und weitgehende staatliche Reformen.
Auch Bismarck wusste, dass die Dinge sich verändern mussten, um bewahrt zu werden. Deutschland machte sich vor 200 Jahren auf den Weg in eine große Transformation. Diese Erfahrungen gehören zur historischen DNA unserer Nation. Transformation ist kein Modebegriff des 21. Jahrhunderts, sondern ein Grundprinzip der Natur und die Bereitschaft dazu eine zentrale Befähigung für ein Land in der Mitte Europas. Konservativ-bürgerliche Politik und Programmatik können deswegen niemals eine statische, rückwärtsgewandte, revisionistische Politik sein. Vielmehr muss eine konservativ-bürgerliche Politik es sich zu eigen machen, die Menschen auf die fortwährende Veränderung der Lebenswelt vorzubereiten und in dieser Veränderung die zu bewahrenden Konstanten wie Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität und Menschlichkeit sicherzustellen.
Machiavelli ahnte, dass nur dadurch Republiken den autoritären Staatsformen überlegen und längerlebig sind.
Was bedeutet dies alles aber nun für Gegenwart und Zukunft unseres Landes? Transformation ist immer. Transformation ist machbar. Deutschland kann Transformation und hat es so zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt gebracht. Diese drei Erkenntnisse müssen für deutsche Politik im Jahr 2024 handlungsleitend sein. Sie können Mut und Zuversicht auslösen. Die vor Deutschland liegenden Herausforderungen lassen sich in drei Handlungsfelder kategorisieren.
Aktuell leben in Deutschland fast 85 Millionen Menschen. Das sind knapp 5 Millionen Menschen mehr als 2003 durch die Bundesregierung für das Jahr 2023 prognostiziert. Der Grund liegt in der Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU und der Attraktivität unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland ist beliebt in der EU. Zugleich werden die Menschen in Deutschland im Schnitt älter, weil die Lebenserwartung weiter steigt, auch dies ein Grund zur Freude. In einer größer als erwarteten Bevölkerung stellen sich Fragen nach der angemessenen Dimensionierung der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Gibt es genügend staatliche investive Vorsorge beim Bau und Unterhalt von Kindertagesstätten, Schulen, Berufsschulen, Universitäten, Krankenhäusern, Straßen, Verkehrsmitteln, Verkehrswegen, Netzen und so weiter? Gibt es dafür ausreichend Arbeitskräfte?
In einer gleichzeitig länger lebenden Bevölkerung stellen sich Fragen nach der Angemessenheit der versicherungsmathematischen Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme und des Gesundheitssystems. Es stellen sich Fragen nach dem Arbeitsvolumen und der Lebensarbeitszeit bei sich verändernden individuellen und gesellschaftlichen Lebenskonzeptionen. Fragen auch nach der Struktur der Staatsausgaben, nach der Höhe der öffentlichen Investitionen.
Es stellt sich also eine große Frage: Muss man nicht mit den Bürgerinnen und Bürgern eine grundlegende Steuer- und Sozialstaatsreform besprechen, die zum Ziel hat, Arbeit in jeder Form und in jedem Alter wertzuschätzen und zu belohnen?
Eine Reform, die einen weitaus größeren Teil großer privater Vermögen freiwillig in die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Güter fließen lässt? Eine Reform, die dafür sorgt, dass Abhängigkeit von Sozialstaatsbürokratie und deren gesellschaftlicher Geringschätzung abgelöst werden durch mehr sichtbare soziale Arbeit und eine spürbare gesellschaftliche Wertschätzung? Die eher die Aufnahme von Arbeit mit Boni belohnt als die Pflichterfüllung vertraglich geschuldeter Verwaltungsleistungen durch bestens entlohnte Führungskräfte? Schließlich: Kann Zuwanderung auf Nützlichkeitserwägungen hin und mit intensiverer Integrationspolitik „erfolgreicher“ gestaltet und gesteuert werden? Und wenn nicht: Was bedeutet dies für die Tragfähigkeit und Integrationsfähigkeit eines Sozialstaats im Innern und was für die politische Stabilität einer Gesellschaft?
Dies sind nur einige der Fragen, die die Menschen umtreibt und nach beruhigenden Antworten Ausschau halten lässt. Die nahe Zukunft wird die Dringlichkeit dieser Fragen noch erhöhen. Und das hat damit zu tun, dass sich die Bevölkerungen Europas durch Zuwanderung wieder einmal nachhaltig verändern.
Bis zum Jahr 2050, also in 26 Jahren, wird nach übereinstimmenden Schätzungen aller Bevölkerungsforscher die Weltbevölkerung von aktuell 8 auf dann 10 Milliarden anwachsen, um dann zum Stillstand zu kommen. Das bedeutet nicht nur einen Zuwachs um das knapp 24fache der deutschen Bevölkerung, sondern auch eine besondere Folge für Europa und somit auch Deutschland. In unserer unmittelbaren südlichen Nachbarschaft, in den arabischsprechenden Ländern von Marokko bis zu Oman wird die Bevölkerung von heute etwas mehr als 450 Millionen Menschen bis 2050 noch einmal um 150 Millionen Menschen auf über 600 Millionen Menschen anwachsen. Länder wie die Türkei und der Iran, die eine vergleichbare Bevölkerungsdynamik besitzen, sind hier noch gar nicht berücksichtigt. Der Anstieg in den afrikanischen Ländern südlich der arabischsprechenden Länder Nordafrikas wird auf zusätzliche 500 Millionen Menschen geschätzt.
Wir wissen also, dass Migration, ob legal oder irregulär, ob auf Asyl und Schutz abzielend oder auf bessere Lebensverhältnisse hinwirkend, ein Metaphänomen der kommenden fünf Legislaturperioden in Deutschland bleiben wird und in Deutschland und der EU von deutscher Politik wirksame Lösungsvorschläge erwartet werden.
Die deutsche Politik muss eine in Deutschland und Europa zugleich mehrheitsfähige wie wirksame Politik definieren und umsetzen. Nationale Sonderwege sind Holzwege. In einem europäischen Rechtsraum können Fragen der Staatsangehörigkeit alleine wegen der daraus herrührenden Rechtsfolgen bei Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit, bei Wahlrecht und Sozialsystemzugang, bei perspektivisch sichtbarer Rückkehr von Wehrpflichtigkeit und vielen anderen Bereichen nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich reguliert werden. Fragen der deutschen und der europäischen Identität, Fragen nach Identität stiftenden und Zugehörigkeit fordernden Leitkulturen werden in Deutschland und Europa zunehmend gestellt werden.
Deutschland als Heimat zu suchen und zu finden, bedeutet auch, sich die Vielschichtigkeit des Landes und der Nation zu eigen machen zu können und zu wollen. Es ist vielleicht auch an der Zeit, die Erfüllung und Umsatzbarkeit von grundrechtlichen Ansprüchen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und der damaligen historischen Umfeldbedingungen überparteilich zu bewerten und die Wirklichkeit des Jahres 2024 anzupassen.
Was kann damit aus konservativ-bürgerlicher Sicht nur gemeint sein? Angesichts der anhaltenden globalen Krisen und der daraus folgenden Wanderungen von Millionen von Menschen müssen dafür folgende Fragen beantwortet werden. Kann allen diesen Menschen in Deutschland und der EU geholfen werden? Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wie können und müssen Deutschland und die EU diesen Menschen dennoch auch in der Welt helfen? Sind die beschriebenen Engpässe bei Infrastruktur und Daseinsvorsorge, bei Wohnungen, Ausbildungs- und Integrationseinrichtungen nicht ein Hinweis darauf, dass eine weitere Zuwanderung mit steigenden Verteilungskämpfen verbunden und in niemands Interesse sein werden?
Ist es ethisch vertretbar, dass die rechtlich vorgeschriebene und politische Legitimierung hervorrufende notwendige Unterscheidung von zuwandernden Menschen in Schutzsuchende und Schutzbedürftige und in Arbeitseinkommen und sozialen Aufstieg Suchende im Zweifel ex-post den Gerichten überlassen wird und nicht a priori in einem überparteilich vereinbarten Verfahren an einer Grenze erfolgt?
Ist es wirklich verwerflich, dass die Bevölkerung in Deutschland zunehmend ein Unbehagen entwickelt bei der Beobachtung einer nicht weiter kontrollierten oder gesteuerten Zuwanderung? Ist es verwerflich, wenn Menschen, die den juristischen Begriff der Zuwanderung auf deutsches Staatsgebiet im Alltag als Zuzug in ihre Dörfer und Städte mit all den sich ganz natürlich ergebenden Kapazitätsproblemen bei Wohnungen, Kindertagesstätten, Schulen, Krankenhäusern etc. als nicht immer und durchgehend positive Phänomen werten? Sind Spannungen zwischen Altsassen und Neusassen, wie man früher zu sagen pflegte, nicht immer auch erwartbare Ereignisse?
Die Bevölkerung erwartet, dass die Regierenden beim Treffen folgenreicher Migrationsentscheidungen deren Folgen für die Bevölkerung bedenkt und materielle Vorsorge trifft. Es ist ermutigend, dass Deutschlands Bevölkerung mit überwiegender Mehrheit zuwandernde Menschen, die sich mittels Arbeit und eigenen Anstrengungen einbringen und mit ihren eigenen kulturellen Fertigkeiten und Fähigkeiten voranbringen helfen, als Bereicherung sehen und uneingeschränkt als „neue Deutsche“ begrüßen? Können wir in Deutschland mit dem geschichtlich bedingt fortschrittlichsten Religionsverfassungsrecht des Kontinents deswegen nicht auch entspannter mit der Zuwanderung von Menschen aus dem muslimisch geprägten Kulturkreis umgehen? Ein Blick in unsere Geschichte sollte uns zuversichtlich sein lassen. Deutschland kann Transformation und Integration.
Die Unionsparteien sind nichts anderes als ein regionales, soziales, konfessionelles und personelles Integrationsprojekt. Wem die Unionsparteien als Beleg nicht schmecken, dem sei ein Blick in das Handbuch des Deutschen Bundestags empfohlen. Dort finden sich Namen aus allen Kulturkreisen Europas und seiner Nachbarschaft. Daher gilt für konservativ-bürgerliche Politik: Abschottung, Verweigerung von Asyl und Schutz, Ablehnung von ethnischer und kultureller Vielfalt sind für Deutschland und Europa jenseits der ausstehenden Antworten abzulehnende Irrwege.
Bis 2050 gilt es Maßnahmen umzusetzen, die einerseits wirksam und andererseits in Deutschland mehrheitsfähig sind. Keine leichte Aufgabe, viele geweckte Erwartungen wurden enttäuscht. Steigende Energiepreise mit der Konsequenz einer wirtschaftlichen Rezession und politische Frustration in Teilen der Jugend, deren zukünftiges Leben am meisten und längsten von einem Scheitern der Klimapolitik betroffen wäre, sind zwei sichtbare Kennzeichen eines vorläufigen Scheiterns.
Dass Deutschland aufgrund seiner Industriedominanz eine maßgebliche anteilige Ursachenverantwortung für den Bestand an klimaschädlichen Gasen in der Atmosphäre hat, kann nicht bestritten werden. Der Bestand ist und bleibt das größere Problem als der Zuwachs. Deutschland ist aber auch ein Pionier in der Klimapolitik und der Dekarbonisierungstechnologien. Dadurch ist es Deutschland gelungen, seinen „Impact“ auf das Weltklima aktuell auf knapp 2 Prozent Schadensverursachungsanteil zu reduzieren. Nur: Die gesamtwirtschaftlichen Kosten sind ungleich höher als deren weltklimatischer Nutzen.
International steigen, alleine angesichts des noch ausstehenden globalen Bevölkerungswachstums, die klimaschädlichen Emissionen an und zwar selbst dann, wenn Deutschland klimaneutral wäre. Wissenschaftler sprechen von relativer nationaler Bedeutungslosigkeit. Wie kann dies sinnvoll und vor allem weltklimatisch nützlicher aufgelöst werden? Zunächst sicherlich nicht mit einer moralischen Politik der nationalen „Buße“ für die Sünden vergangenen Tuns und deren Verbrämung als globale Vorreiterrolle.
Es sieht trostlos aus, niemand reitet hinter Deutschland her in der Klimapolitik. Und das hat damit zu tun, was Deutschland im 19. Jahrhundert so erfolgreich als Transformation bewältigt hat. Spricht man mit chinesischen oder afrikanischen Entwicklungsökonomen, dann wird häufig von der Transformation Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert aus einem armen Agrarland zu einer globalen Industrievolkswirtschaft als Blaupause gesprochen, die man mit deutlich weniger fossiler Energie nachahmt. Ein Verzicht auf möglichst viele Technologieoptionen unter Inkaufnahme des Verlusts von industrieller Wertschöpfung – so stellt sich Deutschlands aktuelle Transformation vielen ausländischen Beobachtern dar – will niemand als Vorbild sehen. Überspitzt ausgedrückt: das Deutschland des 19. Jahrhunderts erscheint vorbildhafter als das Deutschland des 20. Jahrhunderts.
Hierin könnte für deutsche Politik dennoch eine Lösung liegen. Öffnung der technologischen Optionen mit Kohlenstoffseparierung, Kohlenstoffentsorgung und Kohlenstoffverarbeitung, deutlich mehr internationale Vernetzung mit Wasserstoffproduzenten statt geophysikalischer ineffizienter Wind- und Sonnenenergieautarkiebestrebung, vor allem Verwendung der nationalen energiepolitischen Subventionen für Investitionen im Ausland mit den höchsten Vermeidungswirkungen bei klimaschädlichen Emissionen.
Dekarbonisierungstechnologien „made in Germany“ könnten nicht nur wesentliche höhere globale Vermeidungseffekte erzielen, sondern auch für nachhaltiges Wachstum in Deutschland sorgen, ohne dass private und gewerbliche Energiekosten politisch untragbar werden.Dass damit auch Wachstum und Wertschöpfung in den arabischsprechenden Ländern und in Afrika ermöglicht und der „Migrationsdruck“ in unserer europäischen Nachbarschaft abgemildert würde, ist eine weitere Antwort auf die Frage, wie wir in Deutschland sinnvoll und mehrheitsfähig den Klimawandel beherrschbar und überlebbar machen wollen.
In der Energie- und Klimapolitik geht es weniger um die Vermeidung von Holz- und Irrwegen, sondern um das Beschreiten neuer Wege. Demographie, Migration, Energie und Klima – globale Probleme mit globalen Ausmaßen können wir nur in der Welt lösen. Relative nationale Bedeutungslosigkeit beschreibt nur die geringen Wirkungsgrade des Handelns in Deutschland. Das deutsche Handeln außerhalb Deutschland hat höhere Wirkung und ist alles andere als bedeutungslos.
Die Geopolitik und mit ihr vor allem der Systemwettbewerb und die Großmachtrivalität sind zurück. So oder ähnlich lauten viele Schlagzeilen und Buchtitel der jüngeren Vergangenheit. Wahr ist nur, dass alle drei Phänomene nie aufgehört hatten zu existieren, sondern der Westen sich nach 1990 mehr oder weniger lang der Illusion hingegeben hatte, die Welt sei nach dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges in einer finalen Komfortzone angelangt. Insbesondere in Deutschland macht sich ein gewisses Pippi-Langstrumpf-Paradigma breit, in dem außenpolitische Konflikte, Kriege, Rivalitäten und Gewaltanwendung zur Durchsetzung nationaler politische Ziele wie Atavismen alter Männer anmuteten.
Man wähnte sich von Freunden umgeben. Das Traumbild von „Wandel durch Handel“ berauschte die deutsche Wirtschaftselite, Investitionen wurden in der ganzen Welt sorglos gestreut. Es lebte sich gut in der Globalisierung nach 1990. Politikferne Powerpoint-Visionen und Boni hatten gleichermaßen Konjunktur. Auf staatlicher Seite erfreute man sich an den Friedensdividenden, die neue wohlfahrtsstaatliche Verteilungsspielräume eröffneten.
Heinrich Heines Diktum aus 1844 war auch nach 1990 eine zutreffende Beschreibung: „Franzosen und Russen gehört das Land, das Meer gehört den Briten. Wir aber besitzen im Luftreich des Traums die Herrschaft unbestritten. Hier üben wir die Hegemonie, hier sind wir unzerstückelt.“ Bis die Party eben endete oder - um mit Robert Habeck zu sprechen – bis man von der Wirklichkeit umzingelt war und erwachte. Nie war Europa, nie war die Einheit des Westens bedrohter als zurzeit. Und das darf uns nicht wirklich verwundern. Juni 1989 Tiananmen. Im Bröckeln der Berliner Mauer waren die Ereignisse des Sommers 1989 in China ein Beleg dafür, dass autoritäre Staaten und Systeme, die Feinde der offenen Gesellschaft, nicht gewillt sind, eine Überlegenheit der westlichen Staatsform des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates widerstandlos zu akzeptieren.
Die westliche Idee einer auf Werten aufbauenden Weltordnung ist keine global anerkannte. Die Akteure, die aus ideologischen, individuellen, religiösen oder kulturellen Motiven diese Ordnung nie akzeptierten, haben in den vergangenen drei Dekaden ihre Gegenkräfte aufgebaut und lehnen die Vormachtstellung des Westens rundum ab. Mit weitreichenden Folgen, auch für Deutschland. Wirtschaftlich, politisch, militärisch und gesellschaftlich kommen Zumutungen auf uns zu.
Als größtes Land der EU und als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt wird Deutschland aus eigenem Interesse, aber auch in der Erwartung vieler Staaten und Menschen auf der Welt, Führungsverantwortung entwickeln und übernehmen müssen. Führung verursacht immense Führungskosten, deren Folgen nicht zwingend immer nur den eigenen Staatsbürgern, sondern häufig Menschen in anderen Ländern nutzen. Führungskosten in Form deutlich höherer Verteidigungsausgaben, in Form von Investitionen in die Souveränität Europas und auch in die Verteidigung des Euro. Führungskosten auch in Form gemeinsamer europäischer öffentlicher Güter, deren Finanzierung über gemeinsame Schuldtitel erfolgen wird.
Darauf ist Deutschland nicht vorbereitet, weil frühere und gegenwärtige Regierungen sich davor drückten und drücken, die notwendigen Anstrengungen und Einschränkungen zu kommunizieren und deren Erträge in der Zukunft herauszustellen. Genau das aber macht es den Feinden der offenen Gesellschaft im Innern so einfach, ihr antidemokratisches Gift zu streuen und Menschen auf einen Weg der Unfreiheit zu locken. Die Zukunft der Demokratie in den USA ist völlig offen und Europa kann sehr schnell und unerwartet in einer Welt der Pentarchie (Herfried Münkler) landen.
Europa wird dies aber nie ohne eine selbstbewusste, starke und mutige Bundesrepublik Deutschland schaffen. Genau dafür muss deutsche Politik nach innen die Voraussetzungen mit der eigenen Bevölkerung schaffen und dann beherzt nach außen tragen. NATO und EU stehen vor schweren Krisen und werden diese nur mit einem mutigen und starken Deutschland schaffen, das nicht zögert, hadert oder kleinmütig agiert. Wir müssen wehrhaft werden, nicht nur militärisch, und wehrhaft sein wollen. Damit soll keiner Militarisierung der Gesellschaft das Wort geredet werden.
Aber die Bedrohungen unserer Republik durch Desinformation, Subversion und illegitime Einflussnahme, durch Finanzierung antidemokratischer Kräfte durch ausländische Akteure und Individuen gleichermaßen, dies alles muss deutlicher und sichtbarer bekämpft und sanktioniert werden. Fazit: Für die Bewältigung der skizzierten Herausforderungen ist eine selbstbewusstere positive Zukunftserzählung für die Bundesrepublik unerlässlich. Eine solche Erzählung ist die beste Strategie für mehr Zusammenhalt, Zuversicht und daraus erwachsender Selbstbehauptung.
Von Wolfgang Schäuble konnte man täglich lernen, was einen modernen Konservativen auszeichnet: der Verzicht auf das Luftreich der Träume, die Orientierung am Menschen, wie er ist, und ein unerschütterlicher Glaube an eine bessere Zukunft. Mit anderen Worten, machbare Utopie statt lähmende Dystopie. Eine bessere Zukunft ist möglich. Damit eine wahrhaftige Weltgesellschaft entsteht, die ihre kulturellen und historischen Errungenschaften als Vorteil für alle erkennt, muss die Demokratie überleben und sich gegenüber den autoritären Systemen resilient zeigen. Das sollten die Inhalte der Reden anlässlich des 75. Jahrestags der Gründung unserer Republik in einem freien Europa sein.
Diese Verwegenheit stiften, das ist Kern bürgerlich-konservativer Politik. Das würde auch Wolfgang Schäuble denken, der zeitlebens vom Streit um die res publica beseelt und von der Überlegenheit der freiheitlich-demokratischen Republik überzeugt war. Es lebe die Bundesrepublik Deutschland!