Berlin.Table – Ausgabe 608

Spezial zur gescheiterten Richterwahl

Talk of the Town

Scheitern bei der Richterwahl: Die Koalition zeigt ihre Schwäche – und Jens Spahn sein fehlendes Gespür für Stimmungen

Vom Berlin.Table-Team

Zwei Textnachrichten läuten einen Tag ein, der die Koalition schwer beschädigen wird. Um 08.05 Uhr erhält Matthias Miersch eine von Jens Spahn; eine Minute später schickt Friedrich Merz eine an Lars Klingbeil. Der Inhalt ist der gleiche: Die Union bitte um die Verschiebung der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf – der SPD-Kandidatin für einen der freigewordenen Verfassungsrichterposten. Begründung der beiden CDU-Spitzen: Die über Nacht aufgekommenen Plagiats-Vorwürfe gegen die Richterkandidatin der SPD stellten deren fachliche Kompetenz infrage; deshalb müssten sie geprüft werden. Und weil das nicht in wenigen Stunden gelingen könne, müsse man verschieben.  

 

Interessant dabei: Spahn und Merz kennen die angeblichen Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf bereits seit dem Vorabend. Als sich der Kanzler, der Fraktionschef und die Ministerpräsidenten der B-Länder zu ihrem Kamin-Abend vor der Bundesratssitzung treffen, ist das Papier des umstrittenen „Plagiatsjägers“ Stefan Weber bereits in Umlauf. Dennoch gehen die Männer in der Nacht mit der Entscheidung auseinander, weiter an der Wahl festzuhalten. Auch am nächsten Morgen, als sich die Abgeordneten des PKM vor der Fraktionssitzung treffen, will Spahn weiter durchziehen. Erst im Laufe dieser Sitzung wird klar, dass die im Raum stehenden Vorwürfe auch bei den Abgeordneten angekommen sind und dort für zusätzliche Unruhe sorgen. Also wird kurz vor knapp die Notbremse gezogen. Nach dem Motto: Wir müssen prüfen, das geht nicht so schnell, bitte verschieben.  

 

Was in normalen Zeiten wie ein vernünftiges Argument klingen könnte, ist in diesem Fall der allerletzte Versuch der Unionsspitze, sich selbst zu retten. Mit dem Plagiatsvorwurf bekommt sie scheinbar eine Begründung in die Hand, mit der sie der Abstimmung doch noch entkommen kann. Doch nur knapp zwei Stunden später ist es ebenjener Weber, der die Interpretation der Union via X für falsch erklärt. Damit haben Spahn und Merz auch ihren letzten Strohhalm verloren. In der morgendlichen Fraktionssitzung stützen sie alles auf den Plagiatsvorwurf. In der Hoffnung, die eigene Truppe wieder hinter sich zu versammeln. Und kurz scheint das zu funktionieren. Nachdem die Proteste in den Tagen davor immer lauter geworden waren, bleibt die Fraktion vorerst stumm. Die allermeisten, so wird es später heißen, spüren zwar, wie wackelig das werden kann. Aber sie wollen lieber abwarten. Vielleicht geht’s ja doch gut.  

    

Die SPD wird von den Plagiatsvorwürfen kalt erwischt. Über zwei Stunden lang ist die Fraktion nicht sprechfähig. Dann haben sich Führung von Partei und Fraktion darauf verständigt, den eigenen Zorn deutlich zu machen, die Lage aber nicht weiter zu eskalieren. In der kurzfristig einberufenen Fraktionssitzung ist der Unmut über die Union in jedem Redebeitrag spürbar. Tenor: Man habe für gemeinsame Absprachen mit der Union – etwa beim Familiennachzug – wider die eigene Überzeugung viel investiert, nur die Union liefere umgekehrt nicht. Oder wie es ein Spitzengenosse später formuliert: „Wir haben bei schwierigen Entscheidungen gestanden – und wir erwarten, dass auch andere bei schwierigen Entscheidungen stehen.“ 

 

Fraktionschef Miersch spricht von einer rechten Kampagne gegen Brosius-Gersdorf. Er prangert die „persönliche Diskreditierung“ an, bittet aber um Zurückhaltung bei Attacken auf die Union: „Wir dürfen nicht provozieren.“ „Kann man nicht mal sagen, dass das einfach scheiße ist?“ empört sich die sächsische Abgeordnete Rasha Nasr. „Unsere Leute ballen die Faust in der Tasche“, resümiert ein Teilnehmer hinterher, „das wird alles nicht einfacher“. Unter den Abgeordneten, aber auch in der Fraktionsspitze ist man zunehmend unsicher, ob Spahn noch die notwendige Durchsetzungskraft bei den eigenen Leuten hat. Die Führung lässt offen, ob sich die SPD-Fraktion an der Einsetzung eines Masken-Untersuchungsausschusses gegen Spahn beteiligt. Es wäre die klassische Retourkutsche – und für die Koalition die nächste schwere Belastung. 

 

In der Unionsfraktion sitzt der Zweifel an der eigenen Führung nach diesem Tag tief. Liberalere Abgeordnete sehen in dem taktischen und strategischen Versagen mehr als nur eine einmalige Panne. „Guter Stil war einmal“, sagt ein langjähriger Abgeordneter aus dem Südwesten. „Unsere Führung hat immer noch nicht verstanden, dass man mit 28,5 Prozent nicht alles dominieren kann, sondern besser um Zustimmung wirbt.“ Für nachhaltigen Ärger haben Versuche gesorgt, Abgeordnete vor der geheimen Abstimmung nach ihrem Verhalten zu fragen. „Das schürt nur Misstrauen“, heißt es. 

 

Hinzu kommt, dass schon jetzt klar ist: Die SPD will an Brosius-Gersdorf festhalten. Das Dilemma für Spahn ist damit nur aufgeschoben. Und auch der Schaden bleibt. Viele Abgeordnete kritisieren, dass der Verlauf dieser Krise über die Debatte um die Juristin hinaus eine Dysfunktionalität innerhalb der Koalition offen. Wenn der Kanzler das nächste Mal mit SPD-Chef Klingbeil spricht, wird er anschließend entscheiden müssen, wie fragil die Lage ist – und ob sein Fraktionschef mit Blick auf den Koalitionsfrieden noch der Richtige ist. 

 

Eine Einordnung der gescheiterten Richterwahl hören Sie im Podcast ab 5 Uhr hier

Blogeintrag von Stefan Weber: Der „Plagiatsvorwurf“, der keiner ist. Eine entscheidende Rolle bei der Absetzung der Richterwahl spielte ein Plagiatsvorwurf, der am Freitagmorgen – also unmittelbar vor der bevorstehenden Wahl – von CDU-Abgeordneten erhoben und über die Bild-Zeitung öffentlich gemacht wurde. Klaus-Peter Willsch ließ sich mit den Worten zitieren, aufgrund der „Zweifel an ihrer akademischen Redlichkeit“ solle die SPD „die Kandidatur von Frau Brosius-Gersdorf endlich zurückziehen“. Grundlage für diese Vorwürfe war offenbar ein Blogeintrag, den der umstrittene „Plagiatsjäger“ Stefan Weber am Donnerstagabend veröffentlicht hatte.  

 

Doch darin findet sich kein konkreter Vorwurf gegen Brosius-Gersdorf. Vielmehr kritisiert Weber zunächst die generelle Zitierpraxis in juristischen Arbeiten und stellt dann die Frage, ob 23 ähnliche Textstellen in der Dissertation von Brosius-Gersdorf und der Habilitationsschrift ihres Ehemanns Hubertus Gersdorf einen Verstoß gegen die juristischen Zitiernormen darstellten. Eine Antwort darauf gibt er nicht. Auf X stellte Weber selbst am Freitag klar: „Die Sichtweise der CDU, dass Plagiatsvorwürfe gegen Frau Brosius-Gersdorf erhoben wurden, ist falsch.“ Und selbst wenn sich die Ähnlichkeit der Textstellen als problematisch herausstellen sollte, ist keineswegs klar, dass sich daraus ein Fehler von Brosius-Gersdorf ableiten lässt – denn ihre Arbeit wurde früher veröffentlicht als die ihres Mannes.  

 

Dazu kommt, dass Weber aufgrund früherer Tätigkeiten umstritten ist. Vorwürfe von ihm sorgten schon mehrfach für Aufsehen, etwa im Fall der SZ-Journalistin Alexandra Föderl-Schmid. Der DJV sprach damals von einer „Hexenjagd“, Weber sei im Auftrag von Nius aktiv geworden. Im aktuellen Fall gab er in seinem Blog an, die Prüfung „ehrenamtlich“ vorgenommen zu haben, als Grund nannte er auf X „Neugierde“. In der Vergangenheit hatte Weber auch Vorwürfe gegen Bücher und Arbeiten von Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz, Armin Laschet, Friedrich Merz und Mario Voigt erhoben. Im Februar wurde er in Österreich rechtskräftig verurteilt, weil er einen Unirektor mit falschen Vorwürfen diffamiert haben soll. Okan Bellikli, Malte Kreutzfeldt 

Präzedenzfall: Horst Dreier im Jahr 2008. Verschiedentlich wird am Freitag im Bundestag an Horst Dreier erinnert, den die SPD 2008 für das Bundesverfassungsgericht nominiert hatte. Die Union hatte damals deutlich vor der Wahl signalisiert, im Bundesrat nicht für den renommierten Juristen stimmen zu wollen. Allerdings – und auch daran wird erinnert – war die Situation damals ungleich weniger angespannt. Sie war noch nicht geprägt von Populisten, die sich die Demontage des Ansehens der demokratischen Institutionen zum Ziel gemacht haben.  

Dreier hatte sich in einem juristischen Kommentar offen über die Möglichkeit der Androhung von Folter geäußert. Seine Position hatte auch bei Sozialdemokraten und Grünen zu Skepsis oder Ablehnung geführt. Die SPD zog ihren Kandidaten vor der Wahl zurück. Statt seiner nominierte sie Andreas Voßkuhle, der dem höchsten Gericht schließlich zehn Jahre lang als Präsident vorsaß. Sven Siebert 

Table.Documents

Zeitplan für die Wahl der Verfassungsrichter

Best of Table

CEO.Table: „Made for Germany“ – Wer profitiert vom Vorstoß der Wirtschaftschefs? Milliardeninvestitionen sollen die Wirtschaft beleben – doch Ökonom Lars Feld dämpft die Erwartungen. Wie viel Schwung die Initiative wirklich bringen kann, lesen Sie hier

Kommentare zur gescheiterten Richterwahl

Time.Table

Außenpolitik: Friedrich Merz reist zum Antrittsbesuch nach London. Er wird dort von Premierminister Keir Starmer empfangen. Im Rahmen des Besuches ist die Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrages zwischen Großbritannien und Deutschland geplant. 17. Juli

Nachttisch

Unser Tipp führt Sie heute zum „Machtfaktor Karlsruhe“. Am 17. Juli erscheint ein gleichnamiges Buch von Alexander Thiele, Professor für Staatstheorie und Öffentliches Recht an der BSP Business and Law School in Berlin. Table.Briefings liegt es schon vor. Thiele hat die Bundesregierung 2023 und 2025 bei den Verfahren zum Haushalt sowie zur Änderung der Schuldenbremse vertreten. In seinem Buch gibt er einen kurzen Überblick über die Rolle des Gerichts, das im kommenden Jahr 75 Jahre alt wird – und sein nicht immer leichtes Wechselspiel mit der Politik. Okan Bellikli 

Alexander Thiele: Machtfaktor Karlsruhe | Campus

Das war’s für heute. Good Night and Good Luck!

Heute haben János Allenbach-Ammann, Okan Bellikli, Stefan Braun, Nana Brink, Michael Bröcker, Helene Bubrowski, Damir Fras, Daniel Friesen, Franziska Klemenz, Angela Köckritz, Horand Knaup, Malte Kreutzfeldt, Carli Bess Kutschera, Manuel Liu, Vincent Mikoteit, Bernhard Pötter, David Renke, Leonard Schulz, Maximilian Stascheit, Wilhelmine Stenglin, Vincent Vogel und Alexander Wiedmann mitgewirkt.

Der Berlin.Table ist das Late-Night-Briefing für die Table.Media-Community. Wenn Ihnen der Berlin.Table gefällt, empfehlen Sie uns bitte weiter. Wenn Ihnen diese Mail weitergeleitet wurde: Hier können Sie sich kostenlos anmelden.

Briefings wie Berlin.Table per E-Mail erhalten

Keine Bankdaten. Keine automatische Verlängerung.

Sie haben bereits das Table.Briefing Abonnement?

Anmelden