Vom Berlin.Table-Team
Zwei Textnachrichten läuten einen Tag ein, der die Koalition schwer beschädigen wird. Um 08.05 Uhr erhält Matthias Miersch eine von Jens Spahn; eine Minute später schickt Friedrich Merz eine an Lars Klingbeil. Der Inhalt ist der gleiche: Die Union bitte um die Verschiebung der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf – der SPD-Kandidatin für einen der freigewordenen Verfassungsrichterposten. Begründung der beiden CDU-Spitzen: Die über Nacht aufgekommenen Plagiats-Vorwürfe gegen die Richterkandidatin der SPD stellten deren fachliche Kompetenz infrage; deshalb müssten sie geprüft werden. Und weil das nicht in wenigen Stunden gelingen könne, müsse man verschieben.
Interessant dabei: Spahn und Merz kennen die angeblichen Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf bereits seit dem Vorabend. Als sich der Kanzler, der Fraktionschef und die Ministerpräsidenten der B-Länder zu ihrem Kamin-Abend vor der Bundesratssitzung treffen, ist das Papier des umstrittenen „Plagiatsjägers“ Stefan Weber bereits in Umlauf. Dennoch gehen die Männer in der Nacht mit der Entscheidung auseinander, weiter an der Wahl festzuhalten. Auch am nächsten Morgen, als sich die Abgeordneten des PKM vor der Fraktionssitzung treffen, will Spahn weiter durchziehen. Erst im Laufe dieser Sitzung wird klar, dass die im Raum stehenden Vorwürfe auch bei den Abgeordneten angekommen sind und dort für zusätzliche Unruhe sorgen. Also wird kurz vor knapp die Notbremse gezogen. Nach dem Motto: Wir müssen prüfen, das geht nicht so schnell, bitte verschieben.
Was in normalen Zeiten wie ein vernünftiges Argument klingen könnte, ist in diesem Fall der allerletzte Versuch der Unionsspitze, sich selbst zu retten. Mit dem Plagiatsvorwurf bekommt sie scheinbar eine Begründung in die Hand, mit der sie der Abstimmung doch noch entkommen kann. Doch nur knapp zwei Stunden später ist es ebenjener Weber, der die Interpretation der Union via X für falsch erklärt. Damit haben Spahn und Merz auch ihren letzten Strohhalm verloren. In der morgendlichen Fraktionssitzung stützen sie alles auf den Plagiatsvorwurf. In der Hoffnung, die eigene Truppe wieder hinter sich zu versammeln. Und kurz scheint das zu funktionieren. Nachdem die Proteste in den Tagen davor immer lauter geworden waren, bleibt die Fraktion vorerst stumm. Die allermeisten, so wird es später heißen, spüren zwar, wie wackelig das werden kann. Aber sie wollen lieber abwarten. Vielleicht geht’s ja doch gut.
Die SPD wird von den Plagiatsvorwürfen kalt erwischt. Über zwei Stunden lang ist die Fraktion nicht sprechfähig. Dann haben sich Führung von Partei und Fraktion darauf verständigt, den eigenen Zorn deutlich zu machen, die Lage aber nicht weiter zu eskalieren. In der kurzfristig einberufenen Fraktionssitzung ist der Unmut über die Union in jedem Redebeitrag spürbar. Tenor: Man habe für gemeinsame Absprachen mit der Union – etwa beim Familiennachzug – wider die eigene Überzeugung viel investiert, nur die Union liefere umgekehrt nicht. Oder wie es ein Spitzengenosse später formuliert: „Wir haben bei schwierigen Entscheidungen gestanden – und wir erwarten, dass auch andere bei schwierigen Entscheidungen stehen.“
Fraktionschef Miersch spricht von einer rechten Kampagne gegen Brosius-Gersdorf. Er prangert die „persönliche Diskreditierung“ an, bittet aber um Zurückhaltung bei Attacken auf die Union: „Wir dürfen nicht provozieren.“ „Kann man nicht mal sagen, dass das einfach scheiße ist?“ empört sich die sächsische Abgeordnete Rasha Nasr. „Unsere Leute ballen die Faust in der Tasche“, resümiert ein Teilnehmer hinterher, „das wird alles nicht einfacher“. Unter den Abgeordneten, aber auch in der Fraktionsspitze ist man zunehmend unsicher, ob Spahn noch die notwendige Durchsetzungskraft bei den eigenen Leuten hat. Die Führung lässt offen, ob sich die SPD-Fraktion an der Einsetzung eines Masken-Untersuchungsausschusses gegen Spahn beteiligt. Es wäre die klassische Retourkutsche – und für die Koalition die nächste schwere Belastung.
In der Unionsfraktion sitzt der Zweifel an der eigenen Führung nach diesem Tag tief. Liberalere Abgeordnete sehen in dem taktischen und strategischen Versagen mehr als nur eine einmalige Panne. „Guter Stil war einmal“, sagt ein langjähriger Abgeordneter aus dem Südwesten. „Unsere Führung hat immer noch nicht verstanden, dass man mit 28,5 Prozent nicht alles dominieren kann, sondern besser um Zustimmung wirbt.“ Für nachhaltigen Ärger haben Versuche gesorgt, Abgeordnete vor der geheimen Abstimmung nach ihrem Verhalten zu fragen. „Das schürt nur Misstrauen“, heißt es.
Hinzu kommt, dass schon jetzt klar ist: Die SPD will an Brosius-Gersdorf festhalten. Das Dilemma für Spahn ist damit nur aufgeschoben. Und auch der Schaden bleibt. Viele Abgeordnete kritisieren, dass der Verlauf dieser Krise über die Debatte um die Juristin hinaus eine Dysfunktionalität innerhalb der Koalition offen. Wenn der Kanzler das nächste Mal mit SPD-Chef Klingbeil spricht, wird er anschließend entscheiden müssen, wie fragil die Lage ist – und ob sein Fraktionschef mit Blick auf den Koalitionsfrieden noch der Richtige ist.
Eine Einordnung der gescheiterten Richterwahl hören Sie im Podcast ab 5 Uhr hier.