Wo stehen die deutsch-israelischen Beziehungen heute?
Wenn ich darauf eine Antwort suche, dann denke ich immer an Willy Brandt. Er sprach von normalen Beziehungen mit einem besonderen Charakter. Das gilt bis heute, auch wenn sich der besondere Charakter dauernd wandelt.
Normale Beziehungen?
Ja, wenn man bedenkt, dass es auf allen erdenklichen Feldern enge Kooperationen und Freundschaften gibt. Politik, Militär, Kultur, Forschung, Wirtschaft, Sport. Das ist es doch, was Normalität ausmacht.
Und der besondere Charakter?
Der besondere macht sich fest durch die „Wolke“, die über den Beziehungen schwebt: die Shoa. Was den Inhalt der Beziehungen angeht – die machen sich fest an Interessen, Werten und der Geschichte. Am Anfang stand – anders, als viele denken – nicht die historische Verantwortung Deutschlands für die Shoa. Am Anfang standen auf beiden Seiten ganz pragmatische Interessen. Hier entstand deshalb schnell eine Win-Win-Situation. Israel suchte nach militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung; Deutschland wollte ein anerkanntes Mitglied der Weltgemeinschaft werden und sah sich (Hallstein-Doktrin) als festes Mitglied des Westens. Suchte also auch nach Verbündeten.
Wie steht es darum heute?
Es bröckelt in allen drei Bereichen. Schwierigkeiten treten zutage, weil die gemeinsamen Interessen schwinden.
Warum?
Israel entfernt sich schneller von der liberalen Weltordnung und nähert sich immer mehr einem populistisch-autokratischen System. Das bleibt nicht folgenlos. Aber auch in Deutschland haben die Flüchtlingskrise 2015 und das Erstarken der AfD die Gesellschaft verändert. Sie führten zu Reibungen innerhalb der deutschen Gesellschaft und nehmen Einfluss auf die Haltung gegenüber Israel, Juden, Antisemitismus. Die Bedeutung der Erinnerung schwindet, Aufrufe zu einem Schlussstrich werden lauter, auch bei einem großen Teil der jüngeren Bevölkerung. Dazu kommen heftigere Debatten über den Post-Kolonialismus, auch das beeinflusst den Blick auf Israel. Und stellt mindestens bei Manchem die Einzigartigkeit der Shoa in Frage, weil die Shoa auf besondere Weise eben auch Teil einer Kolonialgeschichte ist.
Wenn Sie auf Deutschland schauen: Welche Rolle spielt Israel hier?
Die engen und besonderen Beziehungen zu Israel sind ein Elitenprojekt. Getragen von der deutschen Elite, die sich der historischen Verantwortung weiter verpflichtet fühlt und entsprechend agiert. Für die breite Bevölkerung ist es keine Liebesbeziehung. Ja, es gab eine breite Euphorie nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967. Aber das nahm bald ab; die Stimmung wurde kritisch bis indifferent. Zwischen der Elite und der breiten Bevölkerung klafft ein Graben – und weil Politik immer demokratische Legitimation braucht, gerade wenn die Probleme nicht aufhören, wird es für die deutsche Politik heikler, diffiziler.
Und wie ist es in Israel?
Hier spielt sich das Gegenteil ab. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist sehr Deutschland-freundlich eingestellt, während die Regierung von Benjamin Netanjahu eine nahezu bedingungslose Unterstützung von Berlin einfordert. Bekommt sie die nicht, stehen sofort Vorwürfe von Antisemitismus im Raum. Und noch härteres. Diese Schärfe ist sehr besorgniserregend.
Wie wichtig ist Deutschland für Israel?
Seit Jahrzehnten gilt Deutschland nach den USA als wichtigster Partner. Nicht nur, aber auch wegen seiner Rolle in der EU. Auf meine Frage, warum die EU nicht eine israelfreundlichere Politik verfolge, sagte mir der damalige Außenminister Joschka Fischer: „Shimon, wir sind allein.“ Was er damit meinte? Dass alle anderen EU-Staaten noch kritischer sein würden. Das aber hat sich geändert. Mit Ungarn, der Slowakei und Tschechien gibt es drei EU-Staaten, die stets ein Veto gegen schärfere Kritik an Israel einlegen. Jene populistischen Regierungen, mit denen sich Netanjahu verbündet.
Wenn Sie sich was wünschen dürften – was wäre das?
Dass Israel endlich Entscheidungen über seine Zukunft trifft. Dass Israel versucht, als demokratischer und jüdischer Staat in Sicherheit in der Region zu leben. Solange wir das als Gesellschaft nicht schaffen, werden wir auch alle anderen Probleme nicht lösen können. Außerdem fürchte ich, dass wir eine riesige Chance verpasst haben?
Welche?
Wir hätten die Schwächung des Iran, die Schwächung der Hisbollah, die Schwächung der Hamas nutzen müssen, um in Gaza eine reformierte palästinensische Führung zu unterstützen. Hätten wir das gemacht, dann hätten die arabischen Staaten sich beim Wiederaufbau engagiert, die Beziehungen zu Saudi-Arabien hätten sich auf gute Weise normalisiert. Wir wären im Guten Teil einer gemeinsamen Allianz gegen Aggressoren wie den Iran geworden. Und was passiert tatsächlich? Weil Netanjahu mit den Palästinensern gar keine friedliche Lösung möchte, schließt sich das Fenster.
Was kann eine neue deutsche Regierung tun?
Nichts. Gar nichts. Deutschland und die Europäische Union sind momentan irrelevante Akteure in der Region. Ich kann nur hoffen, dass es zwischen dem neuen Kanzler und dem Premier zu einem offenen und kritischen Dialog kommt, in dem Deutschland nicht die Schlagzeilen sucht, sondern uns ernsthaft Fragen stellt, um uns zu helfen, unseren Kurs zu überdenken. Und um weiter nach gemeinsamen Interessen zu suchen, sei es im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen, militärischen Bereich. Oder wo auch immer. Wir brauchen das alles weiter dringend.
Steht die Anklage des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu dem im Wege?
Gar nichts steht dem im Wege. Strategische Entscheidungen über die Zukunft des Landes kann nur Netanjahu selbst treffen. Und ein Rücktritt des Premiers würde der israelischen Gesellschaft erlauben, ein neues Kapitel zu schlagen.