Sie haben an einem Gutachten zum Sozialstaat mitgewirkt, das die Ampel jetzt beschäftigt. Warum ist eine große Reform so schwer?
Sozialpolitik ist ein Querschnittsthema, aber Bürgergeld, Wohngeld und Kindergrundsicherung liegen bei drei verschiedenen Ministerien. Man müsste die Zuständigkeit für das System der Grundsicherung ressortübergreifend angehen. Dann könnten auch Tabus angegangen werden wie die Frage, ob einzelne Leistungen reduziert werden und dafür andere ausgebaut werden. Wenn wir vorankommen wollen, müssen wir also erst mal die Entscheidungsträger aus den verschiedenen Häusern zusammenziehen.
Wie könnte das aussehen?
Es ist schwierig, weil interministerielle Arbeitsgruppen oft versanden. Ich fantasiere mal: Wieso gibt es kein Ministerium für soziale Grundsicherung? Alternativ könnte man temporäre Strukturen schaffen mit eigenem Budget und eigenen Entscheidungsbefugnissen. Das Problem ist natürlich, dass es nicht reicht, eine vernünftige Lösung zu finden – sie muss auch finanzierbar sein.
In der Digitalpolitik hat es nicht geklappt mit der Bündelung in einem Ministerium.
Ja, ich war Mitglied der Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung. Wir haben vor der Bundestagswahl ein Digitalisierungsministerium gefordert, weil wir nicht gesehen haben, wie wir dieses ressortübergreifende Thema sonst klug angehen können. Das gilt auch für das Soziale: Bisher gibt es zum Beispiel nicht mal eine einheitliche Definition dessen, was in den Teilsystemen wie Bürgergeld und Wohngeld als Einkommen gezählt wird. Wenn man das hätte, wäre schon viel erreicht. Zentral ist noch die Abschmelzungsrate – also die Frage, wie schnell die Höhe der Sozialleistungen bei steigenden Einkommen gesenkt wird.
Welche Rolle spielen Minijobs? Die Minijob-Grenze ist neuerdings an den Mindestlohn gekoppelt.
Das ist nicht sinnvoll. Die Begünstigung der geringfügigen Beschäftigung führt häufig in eine Beschäftigungsfalle und verhindert die Annahme einer regulären, also besser abgesicherten Arbeit. Dass durch die Einführung des Mindestlohns Minijobs verloren gegangen sind, war also eine gute Sache. Mit einer konstanten Verdienstobergrenze würde man den Minijobs auf Dauer das Wasser abgraben – bei steigendem Stundenlohn wären nur noch weniger Arbeitsstunden möglich, und irgendwann lohnt sich das nicht mehr. Interessanterweise hat die FDP die Neuregelung durchgesetzt, die sich ja sonst gerne als Vorkämpferin für die Beseitigung von Fehlanreizen gibt.
Wie wird sich die Kindergrundsicherung auf das Systemgefüge auswirken?
So wie sie geplant ist, ändert sich wenig am Sicherungsniveau für Kinder – das halte ich auch für vernünftig. Denn sonst fehlen die Ressourcen für die genauso wichtige Infrastruktur: bedarfsgerechte, hochwertige Kinderbetreuung und Förderangebote für Kinder aus armen Familien.
Die Regierung geht von Verwaltungskosten in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro aus. Warum das Ganze, wenn die Reform finanziell kaum etwas ändert?
Es geht um den leichteren Zugang, damit mehr Haushalte Leistungen, die ihnen gesetzlich zustehen, auch in Anspruch nehmen. So erreicht der Kinderzuschlag für Familien mit kleinem Erwerbseinkommen verschiedenen Schätzungen zufolge nicht einmal die Hälfte der Zielgruppe. So entstehen mehr Ungleichheit und Armutsrisiken für Heranwachsende.
Die Kindergrundsicherung soll digital beantragt und automatisch ausgezahlt werden können. Wie lang dauert das?
Das funktioniert kaum, solange die Kindergrundsicherung mit anderen Systemen interagiert.
Die Schnittstellen zu Leistungen wie dem Bürgergeld und die Frage, zu wie vielen Anlaufstellen Familien müssen, ist ein großer Knackpunkt im Gesetzgebungsverfahren.
Ja. Auch wenn man den Antrag bei einer einzigen Stelle stellen könnte, bliebe das Problem mit der Auszahlung. Die nötigen Informationen liegen nicht zentralisiert vor. Als ich mich beim Umzug nach Österreich beim Finanzamt angemeldet habe, lag dort schon die Meldebescheinigung im System vor – zwei Tage nachdem ich beim Meldeamt war. In Deutschland scheitert der Austausch am Datenschutz und an unterschiedlichen IT-Infrastrukturen der Verwaltungen. Deshalb fürchte ich, dass man bei der Kindergrundsicherung nicht so weit vorankommt, wie man es gerne hätte.
Österreich hat schon ein Klimageld, in Deutschland verzögert es sich um mehrere Jahre. Warum dauert es so lang, IBAN und Steuer-ID zu verknüpfen?
Die technischen Schwierigkeiten sind massiv. In Deutschland kommunizieren Staat und Bürger digital wenig direkt miteinander, und in etlichen Fällen ist eine IBAN gar nicht gespeichert. Vorhandene Daten lassen sich nur schwer zusammenführen, weil sie in nicht zueinander passenden IT-Systemen abgelegt sind. Und die IT-Infrastruktur des Bundes ist zu klein dimensioniert: Sie schafft laut Finanzminister Lindner nur 100.000 Überweisungen täglich, nicht viel bei fast 41 Millionen Haushalten.
Warum ist die Regierung in Wien bei der Digitalisierung so viel weiter?
Österreich hat schon seit 20 Jahren die Zeichen der Zeit erkannt und ein „E-Government“-Gesetz beschlossen. Seitdem treibt man die Digitalisierung der Verwaltung mit Schwung voran – mit einem Digitalministerium. Das Ergebnis: ein leistungsstarkes Digitales Amt, über das man verschiedenste Behördenangelegenheiten einfach abwickeln kann. Vorbildlich ist auch, dass alle Meldedaten zentral gespeichert und abrufbar sind.
Auch der österreichische Sozialstaat gilt als Vorbild. Was kann Deutschland lernen?
Das ist schwierig zu beantworten, die institutionellen Geflechte sind anders. In Österreich gibt es zum Beispiel keinen gesetzlichen Mindestlohn. Die Debatten in beiden Ländern laufen jedenfalls sehr unterschiedlich. Hier gilt es zum Beispiel als große Errungenschaft, dass das Renteneintrittsalter für Frauen bis 2033 von 60 auf 65 erhöht wird, in Deutschland gehen wir jetzt auf die 67 zu.
Der gerade erst eingeführte Bürgergeld-Bonus für Weiterbildungen wird wieder abgeschafft, die österreichische Regierung baut ihr Pendant dazu aus.
Die vielfach entscheidende Hürde bei Langzeitarbeitslosen, der Hauptzielgruppe des Bonus, ist die Weiterbildungsfähigkeit. Viele haben bereits das Bildungssystem ohne Abschluss verlassen. Deswegen werden, wenn wir Weiterbildung finanziell attraktiver machen, nicht unbedingt mehr Leute erfolgreich mitmachen. Zentral ist, die Leute intensiv zu fordern und zu fördern – mit auf die einzelnen Leute passgenau zugeschnittenen Maßnahmen. Das ist anspruchsvoll.
Sie sitzen im Expertenbeirat zum Fachkräftemonitoring des BMAS. Wie steht das Nachbarland beim Thema Fachkräfteengpässe da?
Auch hier suchen viele Unternehmen händeringend nach Arbeitskräften. Österreich tut sich bei der Integration von Älteren und Frauen schwerer als Deutschland. Dafür wandern im Vergleich mehr Menschen zum Arbeiten zu. Die Prognosen gehen davon aus, dass die Bevölkerung in den nächsten 25 Jahren um über zehn Prozent wächst. Auch hier läuft die Anerkennung ausländischer Qualifikationen bei Weitem nicht reibungslos. Aber manches, wie die Erfassung der beruflichen Qualifikationen jedes Angehörigen der Gesundheitsberufe in einem zentralen Register, könnte sich Deutschland zum Vorbild nehmen. Aber auch das geht wieder nur mit mehr Digitalisierung im öffentlichen Bereich.