Interview
Erscheinungsdatum: 14. Januar 2025

Mitgründer von Wahlrecht.de: „Es braucht mehr Transparenz bei Umfragen“

Als Wilko Zicht 1999 mit zwei Freunden startete, war er Student. Heute arbeitet er als Justiziar für die Grünen-Fraktion in Bremen – und betreut nebenbei zusammen mit den anderen die Seite.

Sie schauen seit mehr als 25 Jahren auf Umfragen. Sind sie besser oder schlechter geworden?

Vor allem ist die Antwortquote krass eingebrochen, weil die Leute kaum noch Festnetz haben. Es gibt heute kein Umfrageinstitut, das telefonisch auch nur ansatzweise noch auf eine Antwortquote von 10 Prozent kommt. Deshalb gibt es mehr Online-Umfragen, bei denen es aber schwieriger ist, eine Zufallsstichprobe zu erreichen. Denn auch im Internet sind Leute nicht so leicht anzusprechen und unterschiedlich oft online. Von daher kann man erstaunt sein, dass die Umfragen immer noch relativ gut sind.

Sehen Sie irgendwo Verbesserungspotenzial?

Ich würde mir mehr Transparenz wünschen. Nicht nur bei Newcomern wie Wahlkreisprognose.de, deren Daten wir bisher nicht publizieren, weil ihre Methodik unklar ist. Die Forschungsgruppe Wahlen ist das einzige Institut, das quasi auch die Rohdaten als sogenannte „Politische Stimmung“ zur Verfügung stellt. Wenn man die vergleicht mit dem, was das ZDF dann als Projektion veröffentlicht, sieht man, wie stark die Institute immer nachbessern müssen.

Haben Sie ein Beispiel?

In der am 10. Januar erschienenen Umfrage sagten ursprünglich 22 Prozent, sie würden die Grünen wählen – und nur 18 Prozent die AfD. Nun antworten Grünen-Wähler aber lieber auf Telefon-Umfragen und sind dadurch überrepräsentiert.

Das heißt?

Die Institute müssen den Grünen-Anteil auf Basis der Erfahrungen aus früheren Umfragen herunterrechnen und den für die AfD nach oben korrigieren. So kamen im Politbarometer am Ende 21 Prozent für die AfD und 15 Prozent für die Grünen heraus. Der Umgang mit solchen Verzerrungsfaktoren ist das übliche Handwerk der Umfrageinstitute. Aber weil die Vorher-Nachher-Unterschiede doch erheblich sind, wäre es schön, auch die eigentlich erhobenen Daten zu erfahren, zumal wenn die Umfrage aus unseren Rundfunkbeiträgen finanziert wurde.

Wie könnte man das erreichen?

Freiwillige Selbstverpflichtungen sind nicht in Sicht, daher wäre es letztlich Aufgabe der Politik, da Vorschriften zu machen. Es ist ja durchaus so, dass man bei bösem Willen die öffentliche Meinung durch Umfragen steuern kann. Daher wäre mehr Transparenz eine wichtige Maßnahme, um die Resilienz unserer Demokratie zu stärken.

Inwiefern?

Es könnte das Vertrauen in Umfragen verbessern. Viele gehen davon aus, dass das mehr oder weniger ausgedachte Zahlen sind. Erstaunlicherweise kriegen wir gerade von AfD-nahem Publikum oft Vorwürfe, wir würden bei Wahlrecht.de die Partei künstlich herunterrechnen. Abgesehen davon, dass wir selbst keine Umfragen machen: Wenn man die vollständigen Daten veröffentlicht, könnten alle sehen, dass das Gegenteil passiert.

Was ist mit Entwicklungen wie bei der Wahl in Rumänien? Da spielte offensichtlich Tiktok eine große Rolle, das kann kein Institut vorhersehen.

Wir sind in Deutschland bisher nicht gut vorbereitet auf solche Phänomene. Innerhalb von wenigen Tagen ein Wahlergebnis aufzuheben, wie in Rumänien, wäre hierzulande zudem nicht möglich. Aus historischen Gründen liegt es am Parlament selbst, über eine Wahlwiederholung zu entscheiden. Das kann ein Jahr oder länger dauern, erst danach darf man ein Gericht anrufen. Heutzutage ist das völlig aus der Zeit gefallen.

Was fordern Sie?

Es müsste die Möglichkeit geben, in krassen Fällen direkt das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Man muss allerdings aufpassen: In Rumänien wurde ja nicht das Wahlergebnis manipuliert, sondern allenfalls der Wahlkampf unzulässig beeinflusst. In solchen Fällen ist es heikel, gerichtlich in das Wahlergebnis einzugreifen. Denn am Ende war das Wahlergebnis ja so, wie die Leute nun mal abgestimmt haben.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Es wäre gefährlich, zu sagen, Einflussnahmen begegnen wir dadurch, dass wir einfach noch mal wählen. Das löst das Problem nicht.

Sondern?

Man muss die einflussreichen Social-Media-Plattformen so regulieren, dass nicht einzelne Akteure die Möglichkeit haben, im großen Umfang Desinformation zu betreiben. Wahlwiederholungen sollten beschränkt bleiben auf Unregelmäßigkeiten direkt bei der Wahl. Wie bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin. Da darf es dann aber auch nicht wie geschehen zwei Jahre dauern, bis entschieden wird.

Sie und Ihr Kollege, der Physiker Martin Fehndrich, haben 2008 erreicht, dass Karlsruhe das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Wie kam es dazu?

Damals wurden Überhangmandate nicht ausgeglichen. Das hätte dazu führen können, dass eine Koalition am Ende eine Mehrheit bekommt, die sie gar nicht hat. So ähnlich wie bei Donald Trump, der 2016 nach Wählerstimmen ja gegen Hillary Clinton verloren hatte. Schlimmer noch: Durch das negative Stimmgewicht hätten gerade die Stimmen für eine Partei ihr die Mehrheit kosten können. Das wollten wir mit unserer Klage verhindern. Leider hat der Gesetzgeber aber nicht so reagiert, wie von uns erhofft.

Wie denn?

Nach dem Urteil haben die Parteien versucht, ihre Besitzstände zu verteidigen. Niemand wollte etwas abgeben, weder Wahlkreis- noch Listenmandate. Also hat man sich letztlich auf die Einführung von Ausgleichsmandaten verständigt, die zur Aufblähung des Bundestags geführt haben. Indirekt sind also wir dafür verantwortlich. Das ist aber nicht das, was wir wollten. Deswegen sind wir froh, dass die Größe des Bundestags jetzt durch die jüngste Reform klar begrenzt ist. Aber auch die ist nicht unproblematisch.

Was meinen Sie?

Es ist unschön, wenn manche Wahlkreise nicht im Parlament vertreten sind. Aber an irgendeiner Stelle muss man halt Abstriche machen. Und natürlich ist es gefährlich, dass es noch immer keine Einigkeit zwischen den politischen Lagern gibt. Wenn das Wahlrecht so umstritten ist, dass es nach jeder Wahl immer neue Änderungen gibt, dann ist unserer Demokratie ganz sicher nicht gedient.

Was sind Ihre Highlights aus der bisherigen Wahlrecht.de-Zeit?

Abgesehen von den gerichtlichen Erfolgen war es uns immer eine Freude, wenn wir das Endergebnis einer Wahl schneller als der jeweilige Bundes- oder Landeswahlleiter verkünden konnten. Wir sammeln die Daten über Schnittstellen direkt bei Kommunen und haben dann etwa auch mal früher gesehen, dass eine Partei knapp an der Fünfprozenthürde gescheitert ist – was ja große Auswirkungen haben kann. Manchmal haben wir auch festgestellt, dass der Wahlleiter sich verrechnet hat.

Zum Beispiel?

Bei der Landtagswahl in Sachsen hat er zuerst eine falsche Sitzverteilung veröffentlicht. Wir mussten darauf hinweisen, dass nach korrekter Berechnung die AfD einen Sitz weniger und so keine Sperrminorität mehr hatte.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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