Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Oktober 2023

Wuppertaler Jobcenter-Chef: „Nicht die Lebensrealität der Leute verkennen"

Thomas Lenz hat lange im Sozialdezernat der Stadt Wuppertal gearbeitet. Heute ist er Vorstandsvorsitzender im dortigen Jobcenter und macht sich Sorgen um die Akzeptanz des Sozialstaats.

Im Bundeshaushalt sind umfangreiche Kürzungen geplant. Was würde das für Wuppertal bedeuten?

Bis zu zehn Millionen Euro weniger für Maßnahmen der Arbeitsmarkt-Integration. Wir hatten dieses Jahr schon eine Kürzungsrunde, unser Budget dafür liegt im Moment bei 45 Millionen Euro. Wenn der Haushalt so kommt wie geplant, werden viele Projekte, die wir derzeit haben, 2024 eingestellt.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wir haben rund zweieinhalbtausend Drogenkranke im System. Für die haben wir im Stadtzentrum eine Anlaufstelle. Das ist eine sehr teure Maßnahme, weil da auch viel Sozialarbeit dazugehört, um an die Leute heranzukommen. Für die vielen Flüchtlinge, die hier leben, haben wir massiv die Beratung ausgebaut. Dazu kommen viele Ausbildungsprojekte. Sowas würde eingestellt.

Teil der Bürgergeld-Reform ist ein Fokus auf Qualifizierung und Coaching. Wie viel davon lässt sich bei solchen Einsparungen umsetzen?

Weniger. Wobei das Angebot auch kaum genutzt wird: Nur weil es zusätzlich Geld für Qualifizierung gibt, rennen die Leute uns nicht die Bude ein. Aber durch die Kürzungen haben wir eine neue Dimension: Wenn man sich die mittelfristige Haushaltsplanung anschaut, werden wir auf das Niveau von 2005 heruntergereicht. Die Bundesagentur für Arbeit, der Städtetag und der Landkreistag haben schon im Juli gefordert: Stattet die Jobcenter endlich mit vernünftigen Ressourcen aus! Wir können mit dem Geld noch nicht einmal die Tariferhöhungen durch den Abschluss im öffentlichen Dienst bezahlen. Und darunter leidet dann auch die Integration in den Arbeitsmarkt, weil wir das Budget dafür dann in das Budget für die Verwaltung umschichten müssen.

Vor der Einführung des Bürgergelds sagten Sie, der Streit darum habe nur wenig mit der Realität zu tun. Ein Jahr später gibt es wieder Streit – die CDU fordert härtere Vorgaben. Wie blicken Sie darauf?

Die Umsetzung zu Jahresbeginn hat gut funktioniert. Die Regelsatz-Erhöhung, die jetzt zum 1. Januar kommt, ist allerdings üppig. Da sagen bei uns vor Ort viele Leute schon: Mensch, Arbeit lohnt sich eigentlich gar nicht mehr. Es fallen Sätze wie: „Wenn ich mir angucke, wie viel eine vierköpfige Familie bei euch bekommt und wie viel ich als einfacher Arbeiter habe, dann ist das nicht viel." Diese Debatte gibt es.

Wer arbeitet, hat mit Freibeträgen und ergänzenden Ansprüchen immer mehr als jemand, der nicht arbeitet. Zudem arbeiten viele Menschen, die Bürgergeld beziehen – oder können nicht arbeiten.

Das stimmt. Aber man muss trotzdem ein bisschen genauer hingucken. Zum Beispiel bei den Leistungen für Bildung und Teilhabe – das habe ich für Wuppertal mal auswerten lassen. Eine Familie mit zwei Kindern bekommt bei uns monatlich zusätzliche Leistungen im Wert von durchschnittlich rund 500 Euro. Das sind Dinge wie die Nachhilfe, Klassenfahrten, das kostenlose Mittagessen in der Schule. Dazu kommen die Übernahme von Heizkosten und geldwerte Leistungen wie die Befreiung vom Rundfunkbeitrag. Das ist mehr, als Sie mit geringer Ausbildung zum Mindestlohn verdienen. Natürlich hat man immer ein bisschen mehr, wenn man arbeitet...

...aber?

Uns schallt immer entgegen: Warum soll ich für wenige hundert Euro mehr 40 Stunden in der Woche arbeiten?

Was sagen Sie dann?

Da kann ich nur schwer argumentieren, weil man ja auch nicht die Lebensrealität der Leute verkennen soll – Stichwort Schwarzarbeit. Es ist zum Beispiel schwierig, legal eine Raumpflegerin zu bekommen. Das ist die Realität und das merke ich in vielen Diskussionen mit der Stadtgesellschaft. Da heißt es dann: Das kann doch nicht sein, dass Menschen mit Sozialleistungen und Schwarzarbeit mehr haben als wir, die euer Spiel bezahlen.

Was sollte die Bundesregierung tun, damit sich das ändert?

Viele sagen: Es kann nicht sein, dass denen nicht abverlangt wird, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Beitrag dazu leisten müssen, dass es der Stadt besser geht – etwa durch Projekte in der Grünflächen-Pflege oder bei der Stadtreinigung. Ich kann das nachvollziehen.

Wie groß ist eigentlich Ihr Haushalt?

Der gesamte Haushalt der Stadt, für Schulen, Sportstätten und alles andere beläuft sich auf 1,6 Milliarden Euro. Wir als Jobcenter haben einen Haushalt von 450 Millionen. Das heißt, ein kleines Jobcenter braucht im Vergleich rund ein Drittel des Haushalts einer ganzen Stadt. Von den 400 Millionen Euro geht das meiste für den Bürgergeld-Regelsatz und die Kosten der Unterkunft drauf: rund 300 Millionen. 45 Millionen gehen in Maßnahmen der Arbeitsmarkt-Integration und 50 Millionen in Personal und Gebäude.

Sie sagten, Sie können den Unmut der Menschen nachvollziehen – inwiefern?

Ich arbeite seit fast vier Jahrzehnten in diesem Bereich und habe festgestellt: Jemand, der keiner geregelten, wie auch immer gearteten Beschäftigung nachgeht, fällt aus der Gesellschaft heraus. Ich habe Angst, dass so etwas zunehmend passiert – und kenne viele Beispiele, wo sich Leute total verändert und gefreut haben, wenn sie wieder drin waren. Um das mal sinngemäß mit Friedrich Engels – ein gebürtiger Wuppertaler – zu sagen: Arbeit ist mehr als eine Beschäftigung, für die man Geld bekommt.

Das heißt, Sie wären für eine Arbeitspflicht, wie Sie die Union ins Spiel gebracht hat und wie Sie die auch die Ministerpräsidentenkonferenz erwägt ?

Zumindest eine Ausbildung oder eine Qualifizierung zu machen, also irgendwie weiter an sich zu arbeiten, das müsste man schon verlangen. So etwas würde zu mehr Akzeptanz in der Gesellschaft beitragen. Das gilt auch für die Integration von Geflüchteten.

Die Bundespolitik diskutiert gerade über eine schnellere Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge.

Es wäre gut, wenn sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Beitrag zur Verbesserung der Situation in ihrer Stadt leisten. Ich merke selbst in linksliberalen Kreisen, in denen ich mich normalerweise aufhalte, dass Leute sagen: Es geht nicht, dass die Sozialleistungen so hoch sind und im Prinzip keine Gegenleistung gefordert wird. Da gibt es immer weniger Akzeptanz, und das macht mir Sorgen.

Warum?

Wir können stolz darauf sein, welches Sozialsystem wir in Deutschland haben. Ich finde es vollkommen richtig, dass wir Geflüchtete aufnehmen und wir müssen sie menschenwürdig behandeln – was in Massenunterkünften zum Beispiel nicht der Fall ist. Aber wir dürfen das, was wir haben, auch nicht gefährden. Mein Eindruck ist, dass das im Moment wirklich so auf der Kippe steht. In Italien – und anderswo – kann man sehen, welche Auswirkungen das hat: Da bekommt man nur noch ein paar Monate lang Sozialleistungen und dann eben nichts mehr. Sowas möchte ich in unserem Land nicht erleben.

Wie ist die Lage in Wuppertal mit Blick auf Flüchtlinge?

Wir haben seit 2015 10.000 syrische und 5.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das sind Leute, die mit ganz schwierigen Lebenssituationen herkommen. Wer da die Hoffnung hat, dass die innerhalb von ein, zwei Jahren alle in den Arbeitsmarkt integriert werden können, der verkennt die Lebenssituation der Menschen. Sprache, Wohnung, Schule: Das dauert lange. Und insbesondere die Menschen aus der Ukraine haben immer noch die Perspektive, zu sagen: Wir gehen wieder zurück. Das haben wir bei allen Fluchtbewegungen.

Was genau?

Dass die Leute in der ersten Zeit immer noch zurückwollen. Je länger das Ganze dauert, nimmt das natürlich ab. Aber die haben alles im Kopf, nur nicht zu arbeiten – weil sie seelisch dazu auch gar nicht in der Lage sind.

Das Bürgergeld soll Menschen ermöglichen, sich auch länger Zeit zu nehmen für eine Qualifizierung, statt direkt in die erstbeste Arbeit gesteckt zu werden. Hilft das nicht?

Doch. Aber man verkennt vollkommen, mit welchen Leuten wir zum Teil arbeiten. Es gibt einen kleinen Teil, bei dem es super funktioniert – denen muss man nur auf dem Weg dorthin helfen. Bei vielen Geflüchteten ist das schwieriger. Oder bei den vielen psychisch Kranken und Drogenkranken, die wir haben – für viele davon ist eine normale Arbeit kaum erreichbar. Aber wir bieten auch vieles andere, was wichtig ist für sie: eine Regemäßigkeit im Alltag, soziale Kontakte. Wenn wir Glück haben, überzeugen wir den einen oder anderen, eine Entgiftung zu machen und dann in Therapie zu gehen. Ein Jobcenter ist nicht nur eine Arbeitsvermittlung, sondern der Garant für den sozialen Frieden.

Fachleute sagen, das eigentliche Problem sei der große Niedriglohnsektor. Ist der Mindestlohn zu niedrig?

Ja, natürlich. Wenn Sie alleine leben, sind Sie mit 12 Euro brutto pro Stunde über dem Bürgergeld-Regelsatz. Sobald eine zweite Person dazu kommt, sind Sie bei uns. Es gibt Schätzungen, dass der Mindestlohn auf mindestens 16 Euro steigen müsste – München zum Beispiel hat das für seine Verwaltung beschlossen. Sowas hätte aber natürlich andere Konsequenzen: Dann werden das Bier in der Gastronomie und weitere Dienstleistungen teurer.

Noch immer für Diskussionen sorgt in Berlin auch die Kindergrundsicherung. Ihre Meinung dazu?

Die Kindergrundsicherung ist materiell, organisatorisch und inhaltlich Murks.

Wieso? Lisa Paus sagt, der Familienservice als zentrale Anlaufstelle werde die Jobcenter entlasten.

Zum einen ist das insgesamt nicht mehr Geld für die Kinder, wenn man sich das mal genau anguckt. Zum anderen wird das Gesetz, wenn es so kommt wie geplant, dazu beitragen, dass die betroffenen Menschen zum Teil gar nicht mehr wissen, wo sie hinmüssen. Je nachdem müssen sie dann nämlich zu mindestens zwei Stellen, dem Familienservice und dem Jobcenter. Das ist verwaltungsmäßig wirklich der absolute Wahnsinn. Dazu kommt ein dritter Punkt.

Und zwar?

Wenn wir nicht mehr für Kinder und Jugendliche zuständig sind, widerspricht das einem ganzheitlichen Beratungsansatz. Die Leute kommen dann irgendwann mit 25, 26 Jahren wieder zu uns zurück.

Die FDP will dem Vorhaben nicht zustimmen, solange es nicht überarbeitet wird und mehr Arbeitsanreize enthält. Was fordern Sie?

Wenn man Kindern helfen will, dann investiert man in die soziale Infrastruktur: Ganztagsschulen mit Betreuung und Nachhilfe, Jugendhilfe, sowas. Ich habe auch mit der zuständigen Staatssekretärin darüber gesprochen und gefragt: Wenn Sie denken, dass mehr Geld hilft, warum erhöhen Sie dann nicht einfach den Regelsatz?

Was war die Antwort?

Ich habe sie so verstanden, dass es diskriminierend sei, wenn Kinder im SGB-II-Bezug – also Bürgergeld – sind. Wenn die Jobcenter nicht mehr zuständig sind, sind sie aus der Statistik raus – und damit hat man dann die Kinderarmut beseitigt? Das ist naiv und entspricht nicht der Lebensrealität in Städten und Gemeinden. Das größte Problem ist Bildung: Wir haben unglaublich viele Kinder und Jugendliche, die ohne Abschluss die Schule verlassen und keine Ausbildung machen.

Für bundesweite Aufregung sorgte der Plan von Hubertus Heil, die Betreuung Unter-25-Jähriger von Jobcentern zu den Agenturen für Arbeit zu verlagern. Das soll jetzt doch nicht passieren. Gut so?

Ja. Man muss nur auch schauen, was jetzt aus den Alternativplänen wird, die Zuständigkeit für Weiterbildung und Reha zu übertragen. Die sind bisher noch unkonkret. Das Entscheidende ist aber etwas anderes.

Und zwar?

Die Haushaltskürzungen. Auch wenn ich für Unter-25-Jährige zuständig bin: Wenn dahinter potemkinsche Dörfer sind, weil ich kein Geld mehr habe, kann ich mir das auch sparen. Wir subventionieren immer noch Dienstfahrzeuge mit fast sechs Milliarden Euro Steuergeldern im Jahr. Wenn Herr Heil anderthalb Milliarden einsparen soll, dann streiche ich doch lieber anderthalb Milliarden beim Dienstwagenprivileg. Denn mit den Kürzungen, die jetzt anstehen, zerschlagen wir in den Stadtteilen die sozialen Infrastrukturen, von denen Eltern und ihre Kinder profitieren. Das ist verheerend.

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Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025

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