Das Problem ist schon lange bekannt – und wird ernsthaft von niemandem bestritten: Der Bundestag ist zu groß. Nach der gesetzlichen Regelgröße sollen es 598 Abgeordnete sein, 2021 zogen 736 Parlamentarier ein. Die Ampel hat ein neues Wahlrecht erarbeitet, seit Juni 2023 ist es in Kraft, der Bundestag soll künftig nur noch 630 Abgeordnete zählen. Nun muss sich das Bundesverfassungsgericht damit befassen. Für Dienstag und Mittwoch steht ein Mammutprozess an, allein die Anzahl der Kläger ist bemerkenswert: CSU und Linke, die Unionsfraktion im Bundestag, die bayerischen Staatsregierung und mehr als 4.000 Privatpersonen, deren Verfassungsbeschwerden von der Organisation „Demokratie jetzt“ vertreten werden.
Friedrich Merz will persönlich in Karlsruhe erscheinen. Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hat sich angekündigt. Sie halten die Neuregelung für verfassungswidrig, sehen die „Gleichheit der Wahl“ verletzt. „Das Wahlgesetz der Ampel bricht mit einem grundlegenden Prinzip unseres Wahlrechts, das seit der ersten Bundestagswahl gilt und dass jeder Wähler intuitiv versteht“, sagt Günter Krings, rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, Table.Briefings. Die Ampel schwäche die Wahlkreismandate, „den wichtigen, stabilisierenden Faktor in unserer parlamentarischen Demokratie“, so Krings.
Die Grünen halten erwartungsgemäß dagegen. Till Steffen, Berichterstatter für das Wahlrecht, findet, in der Debatte werde das Direktmandat „überhöht“. Zum Teil reichten 18 Prozent, um einen Wahlkreis direkt zu gewinnen. Auch die Düsseldorfer Wahlrechtsexpertin Sophie Schönberger, Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung, argumentiert: „Das neue Wahlrecht ist das gleichheitsgerechteste, dass es je gab, weil es systematisch die Privilegierungen Einzelner abschafft. Dass vor diesem Hintergrund trotzdem sogar von Manipulation gesprochen wird, ist mehr als unverständlich.“
Nach dem neuen Wahlrecht fallen Überhang- und Ausgleichsmandate weg. Das bedeutet, dass der Gewinn eines Wahlkreises nach Erststimmen noch nicht den Einzug in den Bundestag garantiert, das Mandat muss auch vom Ergebnis der Zweitstimmen gedeckt sein. Vor allem die CSU hat in Bayern stets deutlich mehr Direktmandate erobert, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustünden. Im Laufe der Arbeiten am Wahlrecht hat die Ampel auch die Grundmandatsklausel gestrichen, dank derer die Linkspartei in der Stärke des Zweitstimmenergebnisses im Bundestag sitzt. Auch die CSU ist davon potenziell gefährdet, sie hat 2021 bundesweit gerechnet 5,2 Prozent bekommen. Rutscht sie eines Tages unter fünf Prozent, wäre kein einziger CSU-Abgeordneter im Bundestag, es sei denn CDU und CSU schlössen ihre Listen zusammen.
Wie das Verfahren ausgeht, ist schwer vorherzusagen. In der Vergangenheit hat Karlsruhe einerseits strikte Vorgaben für das Wahlrecht gemacht (was die Aufblähung des Bundestags mitverursacht hat), andererseits in einer Entscheidung von 2021 den „weiten Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers betont, der auch ein ganz anderes Wahlrecht einführen könnte, etwa das Mehrheitswahlrecht. Dazu kommt, dass der bisherige Berichterstatter für das Wahlrecht, Peter Müller, das Gericht verlassen hat, nun ist Astrid Wallrabenstein zuständig, die auf Vorschlag der Grünen gewählt wurde.
Über ein Defizit sind sich alle einig: Es ist die Politisierung des Wahlrechts, die dessen Legitimation schwächt. Es war in der Geschichte der Bundesrepublik gute Tradition, dass Änderungen am Wahlrecht aus der Mitte des Bundestags kommen und nicht mit Regierungsmehrheit durchgedrückt werden. Der Grüne Till Steffen verteidigt das Vorgehen: „Wir hätten uns gewünscht, wir hätten es breiter hingekriegt, aber da stand die CSU quer im Raum, die auch die CDU in Geiselhaft genommen hat.“ Ein Urteil soll möglichst noch vor der Sommerpause fallen – in den ersten Wahlkreisen bereiten sich die Parteien im Sommer auf die Nominierung ihrer Kandidaten vor. Lässt das Gericht den Ampel-Entwurf durchfallen und gibt den Klägern Recht, tritt quasi automatisch ein Gesetzentwurf der vormaligen Großen Koalition in Kraft, der von 280 Wahlkreisen ausgeht.