Analyse
Erscheinungsdatum: 16. Oktober 2024

Sven Rebehn: Warum die Justiz zum Flaschenhals geworden ist

Der Richterbund schlägt Alarm. Das größte Problem im Kampf für Rechtsstaat, Sicherheit und eine geordnete Migration sind nicht neue Gesetze, sondern eine nicht mehr voll funktionstüchtige Justiz. Es fehlt dramatisch an Personal und Ausstattung.

Nach dem Anschlag von Solingen hat die Ampelkoalition ein „Sicherheitspaket“ geschnürt, das unter anderem auf Messerverbote, neue Polizeibefugnisse und schnellere Abschiebungen setzt, in dem die wirksamste Maßnahme aber fehlt: Der Schlüssel zu mehr Sicherheit liegt in einer effektiveren Rechtsdurchsetzung. Überforderte Behörden und überlastete Gerichte können mit ihren wachsenden Aufgaben aber immer weniger Schritt halten. Deshalb braucht es jetzt ein groß angelegtes Investitionspaket von Bund und Ländern, mit dem es gelingt, Polizei, Staatsanwaltschaften und Strafgerichte, Migrationsbehörden und Verwaltungsgerichte personell und technisch auf die Höhe ihrer Aufgaben zu bringen.

Die Justiz droht bei der Kriminalitätsbekämpfung und Migrationssteuerung mehr denn je zum Flaschenhals zu werden. Bundesweit fehlen inzwischen rund 2000 Staatsanwälte. Die Rekordzahl von mehr als 5,5 Millionen neuen Fällen hat die Strafverfolger 2023 erreicht, etwa 350.000 mehr als im Vorjahr und rund 860.000 mehr als vor zehn Jahren. Zum Jahresende 2023 haben die Staatsanwaltschaften 923.000 offene Verfahren gemeldet, ein Viertel mehr als 2021. Tendenz weiter steigend. Gleichzeitig sinkt die Anklagequote: Weniger als jedes 15. Verfahren hat 2023 zu einer Anklage geführt, während es 2013 noch jeder 10. Fall war. Fast jedes dritte Verfahren haben die Ermittler 2023 trotz hinreichenden Tatverdachts nach Ermessensvorschriften als geringfügig eingestuft und mit oder ohne Auflagen eingestellt.

Auch die Verwaltungsgerichte sind vielfach zu dünn besetzt, um das vom Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten ausgerufene Ziel zu erreichen, Asylklagen grundsätzlich innerhalb weniger Monate abzuschließen. Soll das flächendeckend gelingen, braucht es rund 500 zusätzliche Verwaltungsrichter. Viele Gerichte haben noch immer mit hohen Aktenbergen in Asylsachen zu kämpfen, die bis in die Jahre 2016 und 2017 zurückreichen.

Die Strafgerichte klagen ebenfalls über Personallücken, Verfahrensstaus und wachsende Laufzeiten. So ist die Dauer erstinstanzlicher Strafverfahren vor den Landgerichten zuletzt im bundesweiten Schnitt auf 8,4 Monate gestiegen. Gerechnet ab Eingang bei der Staatsanwaltschaft haben diese Verfahren sogar 21,5 Monate gedauert. Zehn Jahre zuvor ging es noch vier Monate schneller. Auch bei den Amtsgerichten haben sich die Laufzeiten auf fast sechs Monate verlängert. Die Verfahren werden immer aufwendiger, weil die Regelungsdichte und Detailtiefe der Gesetze aus Berlin und Brüssel seit Jahren zunehmen. Der politische Reflex, auf ein Problem jeweils mit einer schnellen Gesetzesverschärfung zu reagieren und es damit als gelöst zu betrachten, ist sehr verlässlich.

Nach allen Umfragen haben die Themen Kriminalitätsbekämpfung, Innere Sicherheit und Migrationssteuerung für die Bürgerinnen und Bürger derzeit hohe Priorität. Sie haben die Erwartung, dass die politischen Parteien die Probleme aufgreifen und tatsächlich wirksame Lösungen dafür finden. Der von der Bundesregierung 2021 versprochene Bund-Länder-Pakt für einen wehrhaften Rechtsstaat ist dennoch bis heute nicht umgesetzt worden. Während die Bundestagsfraktionen von Grünen und SPD unter dem Eindruck von Solingen im September nach einer gemeinsamen „Basisinvestition“ von Bund und Ländern für die Sicherheitsbehörden und die Justiz gerufen haben, stehen der Bundesfinanzminister und seine FDP weiterhin hart auf der Investitionsbremse. Sie verweisen stereotyp auf die Zuständigkeit der Länder und verweigern sich damit einer „gesamtstaatlichen Anstrengung“ für einen durchsetzungsfähigen Rechtsstaat, die jetzt dringend geboten wäre.

Das hat auch der Bundespräsident nach dem Anschlag von Solingen angemahnt. Gelingt jetzt kein großer Wurf, dürfte sich der Vertrauensverlust in die Politik bei vielen Menschen beschleunigen, was die politischen Ränder weiter nähren und die demokratische Mitte auszehren würde. Es wäre ein hoher Preis.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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