Analyse
Erscheinungsdatum: 11. Januar 2024

Reform des Sozialstaats: Worüber die Koalition diskutiert

Wer Sozialleistungen bezieht und gleichzeitig arbeitet, hat manchmal kaum mehr Geld, als wenn er nicht arbeitet. Die Bundesregierung will das ändern – was nicht leicht ist.

Kurz vor Jahresende veröffentlichte das Bundesarbeitsministerium einen vor allem von der FDP lange erwarteten Forschungsbericht zum möglichen Umbau des Sozialstaats – samt eines enttäuschenden Satzes für alle, die sich Ideen für die Zukunft erhofft hatten: „Die Entwicklung eines Reformvorschlags ist aufgrund von Zielkonflikten nicht einfach.“ Übersetzt heißt das: Gleichzeitig Armut zu bekämpfen, den Haushalt zu entlasten und Arbeitsanreize zu erhöhen, ist schwer.

Dabei sollten die Erkenntnisse der Forscher eigentlich der Ampel helfen. In ihrem Koalitionsvertrag hatten SPD, FDP und Grüne angekündigt, Bürgergeld, Wohngeld und gegebenenfalls weitere Sozialleistungen besser aufeinander abzustimmen und sie zusammenzufassen. Das Ziel: Betroffenen einen möglichst starken Anreiz geben, einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die sogenannte Transferentzugsrate.

Sie beschreibt beim Bürgergeld den Betrag, der einem Leistungsempfänger gekürzt wird, wenn er arbeitet. Bei einem Einkommen zwischen 538,01 Euro – der neuen Minijob-Grenze – und 1.000 Euro beträgt sie beispielsweise 70 Prozent. Das heißt, der Leistungsempfänger darf nur 30 Prozent des Geldes behalten, das er einnimmt. Ausgenommen ist ein Grundfreibetrag von 100 Euro, den man immer behalten darf.

Allein diese Regelung ist im Detail nicht einfach zu durchschauen, dazu kommen verschiedene Wechselwirkungen und Vorgaben dazu, was wie angerechnet wird. Insgesamt gibt es in Deutschland mehr als 170 Sozialleistungen, die mal steuerfinanziert und mal beitragsfinanziert sind. Je nach Fallkonstellation kann es sein, dass jemand monatlich nicht oder kaum mehr – oder im Extremfall sogar weniger – Geld auf dem Konto hat, wenn er parallel zum Leistungsbezug mehr arbeitet.

Diese sogenannten Grenzbelastungen von 100 Prozent und mehr – also einen Abzug des gesamten Hinzuverdiensts – wollen die Ampel-Parteien laut Koalitionsvertrag verhindern. Zudem wollen sie, wie bei der Bürgergeld-Reform in einem ersten Schritt schon geschehen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern. Das Sozialrecht macht das Ganze aber deshalb besonders kompliziert, weil es neben dem Bürgergeld als offizieller „Grundsicherung“ noch ein zweites System gibt: Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag.

Diese Leistungen sind vorrangig gegenüber dem Bürgergeld, müssen also zuerst beantragt werden. Hat man inklusive Wohngeld, das je nach Wohnort ein bestimmtes Mindesteinkommen voraussetzt, genug, um seinen „Bedarf“ zu decken, hat man keinen Anspruch auf Bürgergeld. Als bedarfsdeckend gelten der Regelsatz plus etwaige „Mehrbedarfe“ – etwa im Fall einer Schwangerschaft – plus die Kosten der Unterkunft inklusive Heizung, die je nach Region bis zu unterschiedlichen Höchstgrenzen übernommen werden.

Die Antwort auf die Frage, ob das eigene Geld reicht, kann sich aber schon mit einer Mieterhöhung ändern. Daher besteht die Gefahr, dass sich Anspruchsberechtigte „zwischen verschiedenen staatlichen Behörden hin- und hergeschoben fühlen“, wie der unabhängige Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium in einem kürzlich erschienenen Gutachten festhält. Denn weil Regel- und Höchstsätze bei der Übernahme der Kosten der Unterkunft sowie das Wohngeld zu unterschiedlichen Zeitpunkten angepasst werden, kann es sein, dass Leistungsempfänger immer wieder zwischen den verschiedenen Systemen wechseln müssen.

Daher war es aus Sicht von Fachleuten nicht geschickt, Wohngeld und Bürgergeld getrennt voneinander zu reformieren. Der BMF-Beirat schlägt deshalb ein einheitliches Grundsicherungssystem vor. Darin würden etwa die „Kosten der Unterkunft“ aus dem Bürgergeld sowie das Wohngeld zusammengefasst („neues Wohngeld“). Für junge Leute wäre die Kindergrundsicherung zuständig, anders als derzeit geplant allerdings ohne Wohnkostenpauschale. Für Erwachsene gäbe es ein „neues Bürgergeld“.

In eine ähnliche Richtung gehen auch die Wirtschaftsweisen in ihrem neuen Jahresgutachten. Sie sind dafür, die Komplexität des Systems durch die Zusammenlegung von Transferleistungen zu reduzieren. Das könnte auch dazu führen, dass Menschen Anträge stellen, die das bislang – oft aus Scham, Überforderung oder Unkenntnis – nicht machen. Je nach Ausgestaltung sei es möglich, ohne Mehrausgaben die Armutsgefährdung zu reduzieren und die Erwerbsanreize zu stärken.

Ifo und ZEW sind in ihrer Studie zurückhaltender und schlagen eine „Reform im System“ vor. Diese wäre leichter umzusetzen, würde am Grundproblem mit den Wechselwirkungen aber nicht viel ändern. Die Transferentzugsrate würde nur für bestimmte Gruppen gesenkt. Darüber hinaus wäre eine Reform des Gesamtsystems aus Grundsicherung, Sozialversicherung und Steuersystem „bedenkenswert“, so die Forscher.

Die Politik in Berlin fokussiert sich derzeit auf kleinere Lösungen. Dabei geht es vor allem um Erwerbsanreize. Dass Leistungsempfänger, die sich etwas hinzuverdienen wollen, nur wenig von ihrem erarbeiteten Geld behalten dürfen, sei „eine der größten Ungerechtigkeiten unseres Sozialsystems“, sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Er rief Hubertus Heil dazu auf, eine „grundlegende Reform der Zuverdienstregeln“ auf den Weg zu bringen, um den Anreiz zu erhöhen, arbeiten zu gehen. Im BMAS heißt es, die Ergebnisse der Studie würden im Ressortkreis „weiter ausgewertet und beraten“, konkrete Pläne gebe es bisher nicht.

Dabei hatte die Koalition ursprünglich noch für 2023 ein zweites Bürgergeld-Gesetz vorgesehen, das sich unter anderem den Zuverdienstgrenzen widmet – eine Ausweitung würde aber Geld kosten. Auch deswegen hatte das im Zuge der Diskussionen um den Haushalt zuletzt keine Priorität mehr. Das Bundesfamilienministerium teilte unterdessen mit, die Studienerkenntnisse seien Gegenstand der laufenden parlamentarischen Beratungen zur Kindergrundsicherung. Wichtig sei, dass sich Arbeit gerade für Eltern lohne. Denn eine auskömmliche Erwerbstätigkeit ermögliche gesellschaftliche Teilhabe für Familien und sei „ein guter Schutz vor Kinderarmut“.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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