Die Strategie von Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz im Kampf um eine Verschärfung der Asyl- und Flüchtlingspolitik wird immer mehr zu einem Hochrisikoprojekt. Je näher die für Freitag vorgesehene Abstimmung über das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz rückt, desto sorgenvoller werden vor allem die liberaleren Kräfte in der Union. In den Führungsgremien von Partei und Fraktion zeigte sich, wie sich die Stimmung leise verschiebt. Gab es am Anfang unisono Unterstützung für Merz und seine Reaktion auf die Mordtat von Aschaffenburg, so wächst jetzt die Befürchtung, dass die Debatte über eine Zustimmung der AfD zu dem Gesetz alle anderen Fragen überlagern könnte. „Wir sind alle der Überzeugung, dass nach Aschaffenburg was passieren musste“, sagte ein prominentes Mitglied des Fraktionsvorstands Table.Briefings. „Aber die allermeisten von uns wollen mit der AfD einfach nicht in Berührung kommen.“
Grüne und Sozialdemokraten warnen vor einem Tabubruch. Die Rest-Ampel-Parteien verweisen auf die Ankündigung der AfD-Führung, dem Gesetz mehrheitlich zuzustimmen. Und erinnern auch an die Behauptung von Alice Weidel, die Brandmauer sei gefallen; jetzt könne man das Land verändern. SPD und Grüne schimpfen nicht nur, sie hoffen natürlich auch, dass ihnen die mögliche AfD-Zustimmung für das Unionsgesetz neue Wähler aus der liberalen Mitte zutreibt. Nach einer Forsa-Umfrage für RTL/N-TV deutet sich so etwas an. Demnach verliert die Union in der politischen Stimmung drei Prozentpunkte von 31 auf 28 Prozent, die SPD gewinnt zwei hinzu und kommt auf 17 Prozent. In der Sonntagsfrage verortet Forsa die Union bei 30 Prozent, die AfD bei 20, die SPD bei 16 und die Grünen bei 14 Prozent.
Dieser erste Trend dürfte erklären, warum Merz auch am Dienstag noch einmal um die Zustimmung von Grünen und SPD warb. Und zwar „ausdrücklich“, wie er vor der Fraktionssitzung erklärte. In der Fraktion sagte er, er wolle keine Mehrheit mit der AfD. „Wir reden mit der AfD nicht.“ Allerdings hatte Merz unmittelbar nach Aschaffenburg mit der Aussage, es sei „völlig gleichgültig, wer diesen Weg politisch mitgeht, selbst keinen einladenden Ton gesetzt. Ein Gespräch zwischen den Ampel-Parteien und der Union über das Zustrombegrenzungsgesetz oder den Fünf-Punkte-Plan ist denn auch nicht zustande gekommen. Merz berichtete, die Grünen hätten abgesagt, die FDP werde zustimmen und die SPD habe nicht mal reagiert. Die Folge: Die Union entkommt dem Vorwurf nicht mehr, dass sie die Unterstützung der AfD in Kauf nimmt – die Partei, über deren Verbot der Bundestag am Donnerstag berät.
Um die Wucht, die das auslösen könnte, abzuschwächen, organisiert Thorsten Frei eine Art Gegenoffensive. Der erste PGF und engste Mitstreiter von Merz in der Fraktion hat ein Interview des Kanzlers aus dem Sommer 2023 ausgegraben. Olaf Scholz debattierte damals mit der Thüringer Allgemeinen darüber, wie man sich im Konflikt mit der AfD verhalten sollte. Auf die Frage, wie er es bewerte, wenn die AfD ein Kitaprojekt mitbeschließe, das die SPD im Gemeinderat eingebracht habe, antwortete Scholz: „Das ist doch keine Zusammenarbeit.“ Und er fügte den interpretierbaren Satz hinzu, man dürfe sich bei Abstimmungen nicht von der AfD abhängig machen. Für Frei und Co ist das der Beleg dafür, dass die Union das Richtige macht. Ob das aber auch die eigenen Leute und die Wähler zuhause so einordnen, weiß niemand zu sagen.
Gegen die Unsicherheiten in den eigenen Reihen hat Merz außerdem die Innenexpertin Andrea Lindholz um einen Auftritt gebeten. Die CSU-Politikerin, in deren Wahlkreis Aschaffenburg liegt, las in der Fraktion minutenlang aus dem Polizeibericht zum Anschlag vor. Hinterher hieß es, man hätte währenddessen eine Stecknadel fallen hören. Jeder solle das mal lesen, sagte sie. Merz erklärte danach, er habe seine Position genau abgewogen. Jetzt bitte er alle um Unterstützung. Eine Abstimmung, ursprünglich angedacht, fand nicht statt.
Die Partei hält zu Merz – zumindest öffentlich. Spricht man mit Nachdenklicheren in der Unionsfraktion, dann spürt man die Befürchtung, dass der neue Rigorismus von Merz (in dem nicht wenige den alten Merz erkennen) die Brücken auch zu denen gefährdet, die ein Wahlsieger Merz nach der Wahl noch brauchen würde. „Wir sind jetzt mitten im größtmöglichen Streitthema“, sagt ein in Jahrzehnten Berlin geeichter CDU-Abgeordneter. „Wenn wir so weitermachen, entstehen Wunden, die nicht schnell verheilen.“ Und das, obwohl Merz versprochen habe, dass er die Regierungsbildung schneller und verlässlicher organisieren werde.
Eines ist außerdem klar: Im Bundesrat würde es für die Merz-Pläne aktuell keine Mehrheit geben.Die CDU-geführten Länderregierungen in Hessen, Schleswig-Holstein und NRW haben intern nämlich schon mitgeteilt, dass sie im Bundesrat aufgrund ihrer Koalitionsvereinbarung dem Gesetz nicht zustimmen könnten. Ein positives Votum der Länderkammer wäre aber nötig. Die nächste Sitzung des Bundesrats ist für den 14. Februar terminiert – also noch vor der Wahl. Eine Abstimmung wird es dort zum Merz-Gesetz voraussichtlich aber nicht geben. Dafür müsste entweder die Bundesregierung oder die Union eine Fristverkürzung beantragen – und das werden beide unter den gegebenen Umständen nicht tun.