Damit hatte Thomas Schmid nicht gerechnet. Der BSW-Politiker ist Direktkandidat im Wahlkreis Erfurt IV, wo er mit seiner Familie auch wohnt. In einem Plattenbau, wie die meisten Menschen in seinem Wahlkreis. Als er Unterschriften für den Antritt der neuen Partei um Sahra Wagenknecht zur Thüringer Landtagswahl sammelte, war auf den Papieren seine Privatadresse zu lesen. „Haben Sie dort Ihr Büro?“, fragten die Leute. „Sie waren ganz verwundert, dass ich hier auch wohne“, sagt Thomas Schmid. „Die Menschen haben das Gefühl, die Politiker kommen hier sonst nur hin, wenn Wahlen sind.“
„Früher hatte die CDU ihr Wahlkreisbüro hier im Plattenbezirk“, sagt Schmid vom BSW. „Ich habe für kurze Zeit mal für einen Abgeordneten dort gearbeitet. Da kamen die Leute jeden Tag im Büro vorbei mit ihren Ärgernissen und Sorgen“. Heute sei das Wahlkreisbüro der CDU schon fast in der Innenstadt von Erfurt. Weit weg von den Menschen.
Die etablierten Parteien könnten bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September die größten Verluste ihre Geschichte einfahren. Und vor allem könnten sie es mit Mehrheitsverhältnissen zu tun bekommen, die keine Mehrheitsregierung mehr ohne AfD oder BSW ermöglichen. Eine Koalition mit der AfD haben alle Parteien ausgeschlossen. Die „Brandmauern“ stehen – zumindest bekennt sich die vorderste Reihe der CDU dazu. Mit dem BSW sieht es anders aus; während etwa Michael Kretschmer schon mit den sächsischen Landesvorsitzenden verhandeln soll, fragen sich viele andere noch: Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte die Mitte den Etablierten so entgleiten?
Viele Faktoren haben sich über Jahrzehnte addiert. Viel Ignorieren ist dabei, viel Leugnen und Verbrämen, viel Sparen, wenig Hinsehen und Zuhören. Im Osten folgte auf die Nazizeit der SED-Parteienstaat. Für viele war der Zusammenbruch der DDR 1989 nicht nur das Erleben von Freiheit, sondern auch das eines kollektiv-traumatisierenden Umbruchs, der ihr gekanntes Universum sprengte: verlorene Jobs, verlorene Sicherheiten, massenweise Familienwegzug, gerade aus dem ländlichen Raum, ein überforderndes neues System namens Kapitalismus – und eine Unwissenheit darüber, die reihenweise Investoren ausnutzten. Bis heute fließen Mietmillionen aus Dresden oder Leipzig oft nach München oder Stuttgart.
In den 1990er-Jahren gibt es teilweise Gesetzlosigkeit auf ehemaligem DDR-Gebiet; während der „Baseballschläger-Jahre“ verbreiten Neonazis Schrecken. Ihre Taten bleiben oft ungesühnt. Als bittere Ignoranz mindestens, eher Hohn empfinden damals viele, dass Sachsens langjähriger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf das Land als „immun gegen Rechtsextremismus“ bezeichnet.
Auf Umbruch und Unsicherheit folgt rigide Sparpolitik. An jugend- und sozialpolitischen Projekten wird gekürzt, in Sachsen streicht die CDU reihenweise Lehrer- und Polizistenstellen. Arbeitslosigkeit und Armut sind in ostdeutschen Bundesländern ungleich als in westdeutschen. Mancherorts hat ein Fünftel der Arbeitsfähigen keinen Job. Wenige Menschen engagieren sich politisch. Außer der SED-Nachfolgerin PDS, der späteren Linken, und der ehemaligen Blockpartei CDU fehlt den Parteien eine Verankerung in der ostdeutschen Gesellschaft.
Viele Menschen hören allmählich auf, den Regierenden zu glauben, dass sie in ihrem besten Sinne handeln. Und Misstrauen gegen Regierende ist historisch ohnehin angelegt. Rechtsextreme nutzen den Frust, füllen ein Vakuum mit menschenfeindlicher Ideologie und Wut auf die Eliten, die infolge der SED-Sozialisierung ohnehin Nährboden hat.
Mit dem Aufkommen von Pegida 2014 und seinen Ablegern auch in anderen Ländern, mit gewalttätigen Protesten gegen Flüchtlingsheime 2015 entsteht eine erste Schockwelle: Der Abschied von demokratischen Überzeugungen erreicht die öffentliche Wahrnehmung. Extremismus wird salonfähig. Die AfD sitzt da schon in ersten Landtagen. Die ungeregelte Zuwanderung 2025 und 2016; 2020 die Versuche, die Corona-Pandemie einzudämmen, und 2022 die Solidarisierung mit der Ukraine infolge des russischen Angriffs verstärken die politische Polarisierung und die Opposition gegen die etablierten Parteien (des Westens), zu denen mittlerweile auch die Linke zählt.
Für die CDU galt lange, dass sie auch einen Besenstiel aufstellen könnte und trotzdem die meisten Direktstimmen holen würde. Die Mühe, jedes Dorf zu besuchen, machten sich viele Kandidaten gar nicht mehr – außer jene der AfD. Jeden Stammtisch, jede Vereinsfeier und jeden Spatenstich nahmen Wahlkämpferinnen der Partei mit, hinterließen bei vielen den Eindruck, sie interessierten sich als einzige für die vermeintlich Vergessenen. Heute gilt in vielen Wahlkreisen Sachsens, Thüringens und Brandenburgs für die AfD, was einst CDU und SPD auszeichnete: Selbst mit Besenstielen ließen sich Wahlen gewinnen.
Die Bundestagswahl 2017 raubt der CDU endgültig die alte Gewissheit. Sie landet hinter der AfD. Der Bundestagsabgeordnete Michael Kretschmer verliert sein sicher geglaubtes Direktmandat an Tino Chrupalla, dem dieser Erfolg den Weg an die Bundesspitze ebnet. Und Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich offenbart noch am Wahlabend, wie sehr er das Gefühl für die Menschen verloren hat. Auf die Frage, was er als Reaktion auf das Ergebnis gemacht hat, antwortet Tillich, er habe einen CDU-Bürgermeister angerufen und ihn um eine Erklärung für das Ergebnis gebeten. Er tritt wenige Wochen später zurück. Seither reist sein Nachfolger Kretschmer kreuz und quer durchs Land, um zuzuhören und zu signalisieren: Wir haben verstanden. Doch die AfD hat sich schon längst etabliert.
Die Linke kämpfte jahrelang eher mit sich selbst als gegen jene, die ihre Wähler gern bekämpft sähen. In den strukturkonservativen Ländern gewinnt die Partei ohnehin nicht mit Themen, die ihre großstädtischen Jung-Mitglieder priorisieren. Viele wählten die Partei in Thüringen, Sachsen und den anderen Ländern eher als Fortsetzung der DDR-Linken denn als progressive Kraft der Moderne. Sahra Wagenknecht dringt mit ihren Thesen viel näher an diese Interessengruppen als die verlassene, inzwischen ordentlich ausgeblutete Linke.
Der Politikwissenschafter Thorsten Oppelland von der Friedrich-Schiller-Universität Jena betrachtet das BSW eher als Teil einer Lösung denn als Problem, wenn es um fehlende Mehrheiten in ostdeutschen Bundesländern geht. „Die Parteien der Mitte werden sich darauf einstellen müssen, dass sie um das BSW nicht herumkommen“, sagt Oppelland Table.Briefings. Wenn sich die aktuellen Umfragen in allen drei Bundesländern bewahrheiten sollten, sind ohne die AfD sonst nur Minderheitsregierungen möglich. Am meisten Stimmen einbüßen dürfte durch das BSW die Linkspartei, schätzt Oppelland.
Er sieht auf Landesebene gute Chancen für Regierungsbeteiligungen des BSW. Das Personaltableau der neuen Partei auf Landesebene bestehe sowohl in Sachsen als auch in Thüringen aus pragmatischen Politikerinnen und Politikern. Dafür steht in Thüringen die ehemalige Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf, die Anfang des Jahres von der Linken zum BSW wechselte. „Sie hat eine solide und antifaschistische Politik gemacht”, sagt Oppelland. Mancher von der CDU munkelt schon, sie werde nächste Ministerpräsidentin Thüringens.
In der Migrationspolitik gibt es große Überschneidungen mit der CDU. Beide wollen die Zahlen der Zuwanderer verringern. Aber auch bei der Bildungspolitik gibt es Ähnlichkeiten. Die Möglichkeiten für eine Koalition mit der CDU seien aber nur auf Landesebene gegeben, betont Oppelland, auf Bundesebene sehe das ganz anders aus. Hier hat CDU-Chef Friedrich Merz eine Zusammenarbeit mit Sahra Wagenknecht ausgeschlossen. Entscheidend ist die Position zum Ukraine-Krieg, hier steht die Position des BSW der aller anderen Parteien außer der AfD diametral entgegen. „Aber der Ukraine-Krieg spielt für die Landespolitik keine große Rolle“, sagt Oppeland.
Den Erfolg des BSW führt er auf einen wirtschaftlich eher linken und gesellschaftlich eher rechten Kurs zurück, mit einer harten Migrationspolitik und einer Ablehnung von dem, was Sahra Wagenknecht selbst „Lifestyle-Linke“ nennt. „Diese Einstellungen sind im Osten verbreitet“, sagt Oppelland. Darum weiß auch Michael Kretschmer, der gegen den eigenen Noch-Koalitionspartner, die Grünen, regelmäßig Stimmung macht. Das Heizungsgesetz hat den Grünen so schwer geschadet, dass sie gerade in ostdeutschen Bundesländern bis heute nicht mehr gegen den Vorwurf ankommen, sie wollten übergriffig in den Privatraum der Menschen eindringen; für CDU und AfD eine gefundene Angriffsfläche. In Brandenburg und Sachsen macht sich die Partei noch Hoffnungen, wieder in die Landtage einzuziehen; in Thüringen dürfte es knapp werden.
Auch mit ihrer klaren Position pro Ukraine schrecken die Grünen in diesen Bundesländern reihenweise Menschen ab, die Russland weniger kritisch sehen und den Grünen wegen der Waffenlieferungen nun Kriegstreiberei vorwerfen. Das BSW wirbt dagegen mit „Frieden“.
Deren große Unbekannte sieht Politikwissenschaftler Oppelland in der Struktur, der Aufnahme von Mitgliedern, also ihrer inneren Entwicklung. „Wenn sie in Regierungsverantwortung ist, kann es sein, dass die Mitglieder und die Wähler da nicht zufrieden sind und sich schnell wieder abwenden.“
Der Wahlkreis von BSW-Kandidat Thomas Schmid umfasst acht kleinere Orte außerhalb von Erfurt, die aber noch zur Stadt gehören. Früher sei davon jeder Ort ein eigener kleiner Kosmos gewesen, mit Läden und Treffpunkten. „Jetzt ist das hier nur noch Wohngebiet.“ Die Leute treffen sich heute in einer Bäckerei-Kette im Einkaufszentrum, erzählt Schmid. „Dort trinken sie ihren Kaffee und unterhalten sich. Das ist jetzt der Stammtisch.“
Die anderen Direktkandidaten wohnten nicht im Wahlkreis. Schmid findet, die Parteien sollten das zur Regel machen. Wer in einem Ort kandidiert, sollte dort auch seinen Wohnsitz haben. Das praktizieren viele Politiker ganz anders. In Sachsen etwa kandidiert der aus Baden-Württemberg zugezogene, bislang nie gewählte CDU-Innenminister Armin Schuster in der Sächsischen Schweiz. Das ist inzwischen AfD-Kernland. Und Schuster formulierte in einem Interview auch noch höchst unglücklich, dass er „kein Dorfdepp“ sei – für seinen Gegner von der AfD ein gefundenes Fressen, wenn auch mit viel willentlicher Missinterpretation.
Besser macht es zwar Kretschmer, er ist schließlich auch tief verwurzelt in seinem Görlitzer Wahlkreis. Doch ist dort auch sein direkter Gegner Sebastian Wippel (AfD) populär. Intern heißt es, Kretschmer könne sich nicht halten, sollte Wippel gewinnen; oder die CDU unter 27 Prozent kommen. Ähnliches ist aus der SPD zu hören: Sollte sie in Brandenburg nicht nur hinter der AfD, sondern so weit hinten landen, dass sich Dietmar Woidke nicht als Ministerpräsident halten kann, sagen manche voraus, dass Olaf Scholz ebenfalls wackeln würde.
„Die etablierten Parteien haben die Haftung verloren und müssten sich ganz schön anstrengen, wieder Fuß zu fassen“, sagt BSW-Mann Schmid in Erfurt. „Das Feld ist hier gerade frei und ich bin der Einzige, der da gerade hineinkommt.“ Die Leute hätten das Gefühl abgeschnitten zu sein, sagt Schmid. Die Politiker, die über sie entscheiden, sind gar nicht hier, kennen sie gar nicht. „Ich werde so manche Stimme bekommen, nur weil ich hier wohne.“
Das Wort Kümmerer-Partei mag Thomas Schmid nicht. Obwohl er das Verb „kümmern“ häufig verwendet, wenn er über seine Arbeit spricht. Fest steht für ihn: Politiker und damit eine Partei müssten greifbar sein für die Menschen und mit ihnen auf Augenhöhe sprechen. Wenn Schmid in den Landtag kommt, will er ein mobiles Abgeordneten-Büro einrichten, mit dem er durch die acht Orte in seinem Wahlkreis fahren kann. Seine Hoffnung auf den Einzug ist groß.