Analyse
Erscheinungsdatum: 21. Juli 2024

Kindergrundsicherung: Was von den Paus-Plänen übrig bleibt

Zwölf Milliarden Euro wollte Lisa Paus ursprünglich haben, um Kinderarmut zu bekämpfen. Mittlerweile hat die Regierung ihre Pläne deutlich eingestampft. Komplett begraben sind sie dennoch nicht.

Für einige FDP-Politiker war es neben der Einhaltung der Schuldenbremse die wichtigste Nachricht, die ihr Chef Christian Lindner in der Sonderfraktionssitzung nach der Haushaltseinigung verkündete: Die Kindergrundsicherung, wie Familienministerin Lisa Paus sie geplant hat, wird nicht kommen. Dafür habe man ihr mit der Einigung für das Kinderpaket – unter anderem eine Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag – den Wind aus den Segeln genommen. So zumindest sieht es die FDP-Spitze.

Etwa 30 Meter entfernt, im Fraktionssaal der Grünen, klang das ganz anders. 1,1 Milliarden Euro mehr für armutsgefährdete Kinder, das sei schon mal ein Erfolg, den Paus im engen Schulterschluss mit Vizekanzler Robert Habeck erzielt habe. Mit der Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag leiste man einen weiteren Beitrag zum Hauptziel, Kinderarmut zu bekämpfen. Und das sei erst der Anfang. Die Kindergrundsicherung werde selbstverständlich nun im Parlament weiterverhandelt. So erzählen es die Grünen.

Was denn nun? Ist die Kindergrundsicherung wirklich tot? Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell kommt im Deutschlandfunk zu dem klaren Urteil: Ja. Andere Medien (RND, SZ) sehen es ähnlich. Man kann zu diesem Schluss kommen, wenn man sich an die hohen Ziele zurückerinnert, die bereits Annalena Baerbock im Bundestagswahlkampf ausgerufen und Paus anschließend mantraartig wiederholt hat. Doch es gibt auch noch Hoffnung für die Ministerin, deren politische Bilanz am Ende der Legislatur vor allem an der Einführung der Kindergrundsicherung gemessen wird.

Klar ist: Von dem Preisschild „12 Milliarden Euro“, das Paus anfangs an das Projekt gehängt hatte, ist man mittlerweile meilenweit entfernt. Dass die Ministerin die Zahl lange vor sich her trug, ohne die Rechnung dahinter je richtig erklärt zu haben, wird ihr selbst aus der eigenen Fraktion als Fehler angelastet. Auch von den 2,4 Milliarden, die Linder ihr im vergangenen Jahr zugestanden hatte, ist mittlerweile keine Rede mehr. Finanziell ist also mehr als die jetzt beschlossene Erhöhung von Kindergeld und Kinderzuschlag um fünf Euro pro Monat nicht drin.

Allerdings – und das wird für Paus nun zum Problem – war die finanzielle Erhöhung der Leistungen nie das einzige Ziel Projekts. Der Eindruck entstand jedoch, da die öffentliche Diskussion lange im Wesentlichen so geführt wurde, dass Paus eine Summe forderte und Lindner diese abmoderierte. Dass aus Sicht der Grünen schon viel damit getan wäre, die Abrufquote des Kinderzuschlags zu erhöhen, geriet in Vergessenheit.

Anspruch auf Kinderzuschlag haben Familien, die kein Bürgergeld beziehen, deren Einkommen für ein Leben mit Kindern aber trotzdem nicht hoch genug ist. Diese Familien unterstützt der Staat derzeit mit bis zu 292 Euro im Monat pro Kind zusätzlich. Die Leistung muss allerdings beantragt werden. Viele Familien, so Paus' Argumentation, wüssten allerdings oft gar nicht, dass sie Anspruch auf die Sozialleistung haben.

Der Gesetzentwurf für die Kindergrundsicherung, den Paus bereits im vergangenen September durchs Kabinett gebracht hat, sieht deshalb die Einführung eines „Kindergrundsicherungschecks“ vor. Die Idee: Familien erklären einmal ihre Bereitschaft, dass der Staat die ihm zur Verfügung stehenden Daten nutzen darf, um den Check durchzuführen. Der Staat prüft dann von sich aus den Anspruch und informiert die Familien, wenn sie dem Prüfergebnis zufolge wahrscheinlich Anspruch auf Kinderzuschlag haben und empfiehlt ihnen, einen Antrag zu stellen. Das Verfahren soll dann vollautomatisch und papierlos erfolgen.

Das Problem: Der Staat hat nicht alle notwendigen Daten, um den Anspruch mit Gewissheit prüfen zu können. Er kennt zwar das Einkommen von Arbeitnehmern, aber nicht von Selbstständigen. Auch die Wohnkosten sind in keinem behördlichen Register gespeichert. Hier das Check-Verfahren auf Schätzwerte zurückgreifen müssen.

Kritiker argumentieren zudem, dass es einen solchen Check schon gebe: Den KIZ-Lotsen der Bundesagentur für Arbeit. Hier wiederum, so sehen es die Grünen, liege genau das Problem: Viele wüssten gar nicht, dass es dieses Angebot gibt oder seien nicht in der Lage, die Daten richtig einzugeben. Laut Zahlen der BA, die Table.Briefings vorliegen, wurde der KiZ-Lotse im ersten Halbjahr 2024 rund 400.000 Mal abgerufen. 1,24 Millionen Kinder beziehen die Leistung derzeit. Wie viele einen Anspruch hätten, weiß niemand genau. Durch den Check soll sich das ändern. Paus spricht in diesem Zusammenhang gerne von einer „Bringschuld des Staates“ – zum Unmut der Liberalen.

Dennoch hat sich auch die FDP offenbar dazu bereiterklärt, die Verhandlungen zum Kindergrundsicherungscheck im parlamentarischen Verfahren fortzuführen. Dahinter steckt ein Deal : Grüne und SPD haben sich im Gegenzug darauf eingelassen, ein „Kinderchancenportal“ in das Gesetz zu integrieren. Es war von Anfang an das Lieblingsprojekt der Liberalen, von dem Paus aber nichts wissen wollte. In ihrem Gesetzentwurf hat sie den Wunsch der FDP auch ignoriert. Nun haben die Ampel-Fraktionen dem Familienministerium aber den Auftrag erteilt, hier nachzuarbeiten. Paus muss das Kinderchancenportal also doch entwickeln.

Das Portal soll eine Art Online-Buchungsplattform für die Leistungen des Bildung-und-Teilhabe-Pakets sein. Familien mit wenig Geld können darüber beispielsweise Klassen- und Kitaausflüge, die Musikschule oder Mitgliedsbeiträge in Sportvereinen überweisen. In dem Portal sollen Kinder selbst einsehen könne, welche Freizeitmöglichkeiten sie in ihrem Ort haben und ihnen so gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Die FDP hat das Konzept bereits in einem Positionspapier zusammengefasst.

Dass das Portal nun doch Teil der Kindergrundsicherung werden soll, hält die FDP bei Laune. Ohne diesen Teil des Pakets hätte die Gefahr bestanden, dass sie die Verhandlungen platzen lassen oder so weit hinauszögern, bis die Legislatur vorbei ist. Auf Berichterstatterebene ist ein ehrliches Interesse zu vernehmen, die Kindergrundsicherung in abgespeckter Form ins Ziel zu bringen. Auffällig ist allerdings auch: Je höher die Ebene ist, auf der man sich umhört, desto geringer ist die Begeisterung bei den Liberalen.

Zudem müssten die Ampel-Fraktionen im parlamentarischen Verfahren zum Bundeshaushalt noch Geld für die Umsetzung auftreiben. Denn das Portal ließe sich wohl nicht ohne einen externen Dienstleister umsetzen. Der Titel „Planungs- und Umsetzungskosten zur Einführung der Kindergrundsicherung“ im Haushaltsplan des Familienministeriums ist im Kabinettsbeschluss von 100 Millionen Euro im vergangenen Jahr auf null gesenkt worden.

Check und Chancenportal sind jetzt der erste Teil eines Zwei-Stufen-Plans, den die Grünen Mitte Juli vorgelegt und auf den sich die Fraktionen vorerst offenbar verständigt haben. Im zweiten Schritt sollen Leistungsbündelungen angegangen werden. Ministerium und Fraktionen haben sich daran bereits die Zähne ausgebissen. Paus würde Kindergeld, Kinderzuschlag und die Leistungen des Bildungs-und-Teilhabe-Pakets gerne zusammenführen. Dafür bräuchte es laut Gesetzentwurf aber eine neue Behörde mit 5000 Stellen. Auch die SPD hält diesen Teil aus fachlicher Sicht für katastrophal. Ob die Zeit bis zum Ende der Legislatur für dieses komplexe Vorhaben noch reicht, ist mehr als fraglich.

Paus kann dennoch optimistisch sein, am Ende behaupten zu können, eine Kindergrundsicherung eingeführt zu haben. „Die Kindergrundsicherung kommt“, war der Satz, den die Ministerin und ihre Fraktion seit der Verabschiedung des Gesetzentwurfs in allen Statements voranstellten. Wenn darin dann noch keine signifikanten Leistungserhöhungen enthalten sind, läge das nächste Wahlkampfthema für die Grünen bereits auf dem Tisch. Sowohl für den Bundestag, als auch für Berlin. Denn Paus wird Interesse nachgesagt, 2026 den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner herausfordern zu wollen.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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