Analyse
Erscheinungsdatum: 17. November 2024

Habecks Appell zur eigenen Kür: „Nicht über und nicht unter anderen wollen wir sein“

Heikle Debatten haben die Grünen auf ihrem Parteitag in Wiesbaden weitgehend vermieden. Stattdessen schwor sich die Partei gut 100 Tage vor der außerplanmäßigen Bundestagswahl auf ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck ein.

Die Grünen haben sich auf ihren Kanzlerkandidaten Robert Habeck eingeschworen. In nächtlichen Verhandlungen, um mögliche Konflikte abzuwenden, hat die Partei heikle Debatten vermieden oder abgedämpft, um sich ganz auf Geschlossenheit und Aufbruch zu konzentrieren. Die sonst üblichen Auseinandersetzungen wichen diesmal einer Mission, die sich rund 100 Tage vor der Bundestagswahl wie von selbst entwickelte: zusammenstehen, einschwören, motivieren. Die Partei erinnerte an ein Familientreffen, auf dem mancher Streit droht, aber man dann doch merkt, wie gut es tut, wenn die Familie zusammenhält.

Die Delegierten dürften mit dem Gefühl abgereist sein, dass sie wieder wissen, wofür sie in den kommenden drei Monaten kämpfen sollen. Und das nach vielen Monaten größerer Verunsicherung durch schlechte Wahlergebnisse, Krisen in der Ampel und dem Rücktritt des gesamten Bundesvorstands. Jubelrufe und „Robert“-Sprechchöre waren der Sound des Sonntags. Annalena Baerbock gab dieses Mal die Conferencière, die den Kandidaten präsentierte. Der Vizekanzler sei „auch immer Draußen-Minister“, der im Sturm das Ruder rumreißen könne wie kein anderer.

Nachdenklicher gab sich Habeck selbst in seiner einstündigen Rede. Nicht der zurückgetretene Bundesvorstand habe die jüngsten Wahlniederlagen maßgeblich zu verantworten; gelegen habe es vor allem an der Performance der Ampel, den Grünen in der Ampel „und meiner Rolle“. Er wisse, dass er Schaden hinterlassen habe, sagte Habeck. Deshalb habe er im Sommer auch den eigenen Rückzug erwogen. Aber er wolle aus den Fehlern lernen und nicht kneifen. Seine Botschaft: Fehler können einen und stärker machen, wenn man sie erkennt und ernst nimmt.

Habeck rief seine Partei zu Optimismus und Zukunftsgewandtheit auf. Er beschrieb die Welt als eine, in der Freiheit, Demokratie und liberale Gesellschaften durch Populisten und Rechtsextreme im Inland, durch Autokraten in der Welt und den Klimawandel bedroht seien. Er versprach, sozialpolitisch seine Anstrengungen auf günstige Energie und günstigen Strom zu richten – als Schlüssel für eine sozial gerechtere Gesellschaft. Zugleich machte er klar, dass er alles tun werde, um nicht als Besserwisser, aber auch nicht duckmäuserisch zu erscheinen. Es war eine Beschreibung für sich, die auch ein Appell an die Partei war. Zur Unterstreichung zitierte er die Kinderhymne von Bertolt Brecht : „Nicht über und nicht unter anderen Völkern wollen wir sein.“ 741 von 768 Delegierten stimmten für Habeck, das sind 96,5 Prozent.

Für Karl-Rudolf Korte wirkt die Partei erlöst vom Ampel-Aus. Der Politikwissenschaftler sagte Table.Briefings, die Partei habe durchaus die Chance, zweitstärkste Kraft im Bundestag zu werden, sofern es ihr gelinge, trotz der eigenen Fehler in der Ampel „die progressive linke Mitte“ anzusprechen. Er betonte: „Eine Sehnsucht nach einer zuversichtlichen Stimme für die liberale Gesellschaft ist am Wählermarkt messbar: die Aufbruchsbereiten!“ Zugleich warnte Korte die Partei davor, die Fehler wie beim Heizungsgesetz zu wiederholen: „Mit jeder Art dirigistischer Bevormundung würde jede Mobilisierung scheitern.“ Welche Lücke die Grünen noch schließen müssen und wie er über die Auswechslung der Parteispitze denkt, lesen Sie im Interview.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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