Analyse
Erscheinungsdatum: 14. November 2023

EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit über nicht verwendete Corona-Milliarden: "Dieses Geld sollten wir für den Wohnungsbau verwenden"

Croatian PM Andrej Plenkovic met with EU Commissioner Nicolas Schmit European Commissioner for Jobs and Social Rights Nicolas Schmit ahead of a meeting with Prime Minister of Croatia Andrej Plenkovic at Banski dvori, in Zagreb, Croatia, on February 27, 2023. PatrikxMacek/PIXSELL
Seit 2019 ist der Luxemburger Nicolas Schmit EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte. Vor der Europawahl 2024 zieht er Bilanz und sagt, was es braucht, damit die EU noch sozialer wird.

Nächstes Jahr endet Ihre Amtszeit. Haben Sie erreicht, was Sie sich 2019 vorgenommen haben?

Diese Kommission hat einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik eingeleitet. Hätten Sie mir vor zehn Jahren gesagt, dass Europa eine Richtlinie über Mindestlöhne haben werde, hätte ich das nicht geglaubt. Aber wir haben es geschafft. Denn Europa soll nicht nur wirtschaftlich zusammenwachsen. Europa muss unbedingt auch sozial stärker zusammenwachsen. Wenn wir es zulassen, dass die sozialen Unterschiede in der Union noch größer werden, birgt das enormen Konfliktstoff. Auch deshalb ist die Mindestlohn-Richtlinie so wichtig. Auch die Länder in Zentral- und Osteuropa haben dies verstanden.

Ist die Abwanderung junger Menschen aus diesen Staaten gestoppt?

Die Abwanderung ist nicht gestoppt, aber immerhin gebremst. Die Arbeitnehmermobilität bleibt ein Grundrecht und natürlich verlassen junge Menschen weiter diese Staaten, weil sie dort wenig Perspektive für sich sehen. Die Löhne sind teilweise so niedrig, dass sie sich kein anständiges Leben leisten können. Gerade deshalb brauchen wir diese soziale Anpassung nach oben, um ein innereuropäisches Gleichgewicht zu schaffen. Es gibt außerdem eine geopolitische Dimension: Ohne sozialen Zusammenhalt sind die europäischen Gesellschaften schwächer. Das ist keine gute Voraussetzung, um im Wettkampf mit Russland oder China zu bestehen.

Was wäre Ihr Traum: Wie sollte das soziale Europa in zehn Jahren aussehen?

Wir müssen die soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln und anpassen an Technologie, Globalisierung und die alternde Gesellschaft. Die Welt der Arbeit ist im Wandel, und ich glaube, dass wir das Ausmaß dieses Wandels noch nicht vollständig erfasst haben. Die Frage ist: Wie stellen wir sicher, dass am Ende nicht die Maschinen, sondern immer noch die Menschen im Zentrum stehen? Außerdem müssen wir die soziale Kluft angehen, die es nicht nur zwischen, sondern genauso innerhalb von Mitgliedsstaaten gibt – auch in einem reichen Land wie Deutschland. Daran hängt sehr viel.

Was meinen Sie?

Wir beklagen uns über Fachkräftemangel. Aber gleichzeitig gibt es Leute, die komplett vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, weil sie keine schulische Ausbildung haben. Und das hat natürlich mit der sozialen Kluft in einer Gesellschaft zu tun, die häufig keine Aufstiegsmöglichkeiten mehr bietet. Das ist eine große Aufgabe, die nicht nur von Brüssel aus bewältigt werden kann. Das muss von allen zusammen gedacht und gemacht werden.

Warum gibt es dann immer noch kein gemeinsames System für Arbeitsmarkt und Sozialversicherung in der EU?

Wir werden auch in Zukunft keine einheitliche europäische Sozialversicherung haben. Das können wir gar nicht durchsetzen. Wir brauchen aber Versicherungen, die ineinandergreifen können, wenn Menschen über Ländergrenzen hinweg mobil sind. Wir brauchen ähnliche Leistungen, um die soziale Konvergenz – also Annäherung – voranzutreiben, um allen europäischen Bürgern ein Minimum an Leistung zu garantieren.

Führt das nicht zu einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner?

Nein. Es ist klar, dass die Länder, die ein hohes Niveau an Sozialleistungen haben, immer „oben“ sein werden. Es fordert auch keiner, dass sie die Leistungen verringern sollten. Diese Angst vor Sozialdumping nutzen Europafeinde schamlos aus. Sie sagen: Mit der wirtschaftlichen Integration geht ein Herunterschrauben des sozialen Niveaus einher. Ich sage: Das darf nicht geschehen, und das wird auch nicht geschehen. Wir können zwar nicht von heute auf morgen die Sozialsysteme zum Beispiel in Rumänien auf den gleichen Stand wie die in Luxemburg, Deutschland oder Österreich bringen. Aber wir brauchen eine Dynamik in diese Richtung.

Was heißt das konkret?

Das heißt konkret, dass wir mehr Geld für Soziales aufwenden müssen. In den kommenden Jahren müssen wir nicht nur die Wirtschaft transformieren, sondern auch mehr in Verteidigung und Sicherheit investieren. Aber das darf nicht auf Kosten der sozialen Sicherheit gehen. Sonst verlieren wir den Grundkonsens in unseren Gesellschaften.

Die Generaldirektionen der EU-Kommission arbeiten derzeit an der Agenda für die nächste Kommission. Was darf im Sozialressort nicht fehlen?

Wir haben 2021 die sogenannten Porto-Ziele beschlossen…

... die drei Punkte enthalten, die bis 2030 erreicht werden sollen : Mindestens 78 % der 20- bis 64-Jährigen sollen Arbeit haben. Mindestens 60 % aller Erwachsenen sollen jedes Jahr eine Weiterbildung machen. Mindestens 15 Millionen Menschen weniger sollen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sein, davon mindestens 5 Millionen Kinder.

Genau. Das heißt, wir müssen zum einen mehr Leute auf den Arbeitsmarkt bekommen, gerade Frauen. Das zeigt sich gerade auch bei den geflüchteten Frauen aus der Ukraine. Sie haben Schwierigkeiten, in den Arbeitsmarkt zu kommen. Das hat viele Gründe, aber die problematischste Ursache ist die fehlende Kinderbetreuung. Das betrifft alle Mitgliedsstaaten. Das zweite wichtige Thema ist die berufliche Mobilität. Manche Länder sagen: Es kann nicht sein, dass unsere bestausgebildeten Leute weggehen und wir ein unglaubliches Problem mit dem Fachkräftemangel bekommen. Und wenn am Ende nur die älteren Leute bleiben: Wer bezahlt dann deren Rente? Die Mobilität innerhalb der Union bleibt ein Grundrecht, aber wir müssen stärker dagegen vorgehen, dass Menschen abwandern, weil sie keine guten Perspektiven für sich sehen - Stichwort Mindestlohn.

Was ist mit der Mobilität von außen?

Wir brauchen Arbeitskräfte aus Drittstaaten. Aber das darf nicht auf Kosten sozialer Standards gehen. Ich habe mit Leuten gesprochen, die für die streikenden Lastwagenfahrer in Gräfenhausen verhandelt haben: Das ist das schlimmste Sozialdumping, das man sich vorstellen kann. Die Menschen werden ausgebeutet, weil sie ihre Rechte nicht kennen. Sie glauben, sie unterschreiben einen normalen Arbeitsvertrag. Doch in Wirklichkeit unterschreiben sie: Ich bin ein selbstständiger Unternehmer, der für die Firma X fährt – und wenn ich soziale Rechte haben möchte, muss ich mir die selbst organisieren. Die Leute hatten keine Krankenversicherung, waren nicht rentenversichert. So darf das nicht weitergehen. Das müssen wir in den Griff bekommen.

Wie blicken Sie auf die Sozialpolitik-Debatten in Deutschland? Die EU hat 2021 eine „Kindergarantie“ beschlossen, doch die Kindergrundsicherung ist in Deutschland sehr umstritten.

Ich werde mich nicht in die nationale Debatte einmischen. Aber klar ist: Wir alle haben inzwischen verstanden, dass Kinderarmut ein Problem ist, das sich vererbt. Also muss Chancengleichheit bei Kindern anfangen. Deshalb haben wir als Kommission die Empfehlung über eine sogenannte Kindergarantie angenommen. Wir versuchen auch immer wieder, die Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, das auch konkret umzusetzen. Aber wir können leider nur empfehlen, nicht verordnen.

Sie haben sich mit Bundesbauministerin Klara Geywitz getroffen. Wie in der EU soll auch in Deutschland Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 überwunden sein. Klappt das?

Das kann ich nicht verbindlich sagen. Aber wir müssen es versuchen. Schätzungen zufolge gibt es etwa 800.000 Obdachlose in Europa, Tendenz: steigend. Für diese Menschen müssen wir Lösungen finden. Es gibt in Europa einige Probleme, die alle Mitgliedsstaaten mehr oder weniger betreffen. Das eine ist der Fachkräftemangel und das andere ist die Wohnungsnot. Die strukturellen Ursachen sind je nach Land unterschiedlich, aber es gibt auch viele gemeinsame Punkte. Es gibt keine uniforme Lösung. Aber wir können gemeinsame Initiativen mit den Mitgliedsstaaten starten.

Mehr nicht?

Probleme mit nationalen Vorgaben muss jedes Mitgliedsland selbst lösen. Aber es geht nicht, dass die Schuld immer nur der EU-Bürokratie zugeschoben wird, um einen Sündenbock zu haben. Das sage ich auch deutschen Gesprächspartnern, die sich so gerne über die Reglementierungswut der EU beklagen. Ja, man kann wahrscheinlich die Dinge in Brüssel vereinfachen. Aber die Frage stellt sich auch: Wie ist es denn mit den nationalen Bestimmungen? Sind die etwa nicht Teil des Problems? Wohnungsnot kann man nur lösen, wenn man schneller mehr Wohnungen baut. Der öffentliche Wohnungsbau wurde in der Vergangenheit zurückgefahren, weil man der liberalen Illusion erlegen ist.

Welche Illusion?

Man dachte viel zu lange: Der Markt regelt alles, Privatisierung löst alles. Auch in Deutschland war das so. Doch der Markt hat das nicht so geregelt, wie wir es erwartet haben. Wir brauchen also auch hier neue Regeln, damit wieder in den Bau erschwinglicher Wohnungen investiert wird. Wir dürfen nicht übersehen: Wohnungsnot betrifft längst nicht mehr nur Menschen mit kleinen Einkommen. Das greift jetzt über in die Mittelschicht. Leider sind die europäischen Regeln in der Frage, wie man Investitionen in diesem Bereich unterstützen kann, unklar. Das müssen wir dringend ändern und europäische Gelder freimachen. Es liegen noch etliche Milliarden Euro im Corona-Wiederaufbaufonds, die nicht ausgegeben wurden. Dieses Geld sollten wir für den Wohnungsbau verwenden.

Welche Rolle spielen Arbeitnehmerrechte bei der Transformation? Bundesarbeitsminister Hubertus Heil fordert neben fairer Mobilität auch mehr Mitbestimmung für Arbeitskräfte.

Am Anfang der deutschen Ratspräsidentschaft Mitte 2020 entdeckten wir plötzlich die Zustände auf den Schlachthöfen in Nordrhein-Westfalen. Komisch, dass das nicht früher schon Thema war. Keiner in der Politik hatte so richtig darüber gesprochen. Wir haben dann relativ schnell zusammen mit Hubertus Heil reagiert und die Regeln verbessert. Wir müssen sowas künftig noch besser regeln und dafür auch die 2019 geschaffene ELA stärken, die Europäische Arbeitsbehörde. Wenn wir mehr Mobilität, besonders auch aus Drittstaaten haben, müssen wir dafür sorgen, dass das nicht auf solcher Sozialdumping-Basis geschieht.

In der Fleischindustrie haben sich die Probleme nach der Verschärfung der deutschen Gesetze einfach in die Niederlande verlagert. Wie verhindert man das?

Das lässt sich nur verhindern, wenn wir das Soziale wie die Wirtschaft behandeln. Bislang läuft das leider oft so ab: Wenn ein Mitgliedsland einem Wirtschaftssektor staatliche Beihilfen gibt, sagt die EU-Kommission manchmal: Stopp, das verfälscht den Wettbewerb. Wenn aber Menschen ausgebeutet werden, wird nicht so reagiert und es heißt lapidar: So sieht eben Wettbewerb aus. Ein Unding. Das muss sich ändern, denn darin ist Sprengstoff verborgen, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa gefährdet.

Eine europäische Richtlinie, die in Deutschland gerade für viele Diskussionen sorgt, ist die über "angemessene Mindestlöhne". Hierzulande steigt er bald von 12 Euro auf 12,41 Euro, nach den Richtwerten der EU könnten es bis zu 14 Euro sein.

Es gibt keinen einheitlichen Mindestlohn in Europa. In Luxemburg liegt er für Unqualifizierte bei mehr als 2500 Euro, in Bulgarien bei rund 400 Euro. Und in den Verträgen der EU steht: Die Kommission darf keine Löhne festsetzen. Daher haben wir in die Richtlinie geschrieben: Ihr müsst beim Mindestlohn die Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns im Blick haben. Warum? Weil auch die Armutsgrenze bei dieser Schwelle liegt: Wer weniger als 60 Prozent des Medianlohns hat, gilt als arm. Die EU-Kommission darf aber nicht sagen, wie hoch der Mindestlohn sein muss, weil wir diese Gesetzgebungskompetenz nicht haben. Beim Europäischen Gerichtshof läuft gerade ohnehin ein Verfahren, bei dem es um die Frage geht, ob wir mit der Richtlinie wie sie beschlossen wurde nicht jetzt schon unsere Kompetenzen überschreiten.

Was könnte Deutschland von anderen Ländern lernen oder umgekehrt?

Jeder kann immer etwas von jemand anderem lernen. Ich glaube, Deutschland war sehr lange nicht auf der Höhe in Sachen Kitas. Früher hieß es in Deutschland: Es ist nicht nötig, dass Frauen arbeiten gehen. Das hat sich aber dann sehr schnell geändert. Und da hat sich das Land natürlich stark von guten Beispielen inspirieren lassen, insbesondere aus Nordeuropa. Die Ministerin, die den Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg gebracht hat, ist übrigens jetzt die Präsidentin der EU-Kommission.

Letzte Aktualisierung: 24. Juli 2025
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