In München war für Annalena Baerbock Speed-Dating-Time. Im 25-Minuten-Takt traf die Außenministerin am Wochenende ihre Amtskollegen aus den G7-Staaten, um über die Lage im Nahen Osten zu beraten. Dazu kamen Meetings mit Außenministern aus den Golfstaaten, China, der Türkei und Argentinien. Diplomatische Hochgeschwindigkeit, wenn man so will. Und der Versuch, durch Hartnäckigkeit vielleicht doch den einen oder anderen Verhandlungserfolg im Ringen um die Freilassung von Geiseln zu erzielen. Dass sie zwei Tage zuvor in Israel war, kam Baerbock zupass. Mit unmittelbaren Eindrücken lassen sich die zahllosen Gespräche trittfester führen als mit Sprechzetteln.
Steter Tropfen höhlt den Stein, so lässt sich ihr Vorgehen beschreiben. Verbunden mit dem Bemühen, im Gleichklang mit Verbündeten Schritt für Schritt wenigstens kleine Fortschritte zu erzielen. So etwa, wenn die EU-Außenminister in ihren Einzeltreffen mit Chinas Chefdiplomaten Wang Yi die immergleiche Botschaft kommunizieren: Peking müsse seinen Einfluss auf den Iran geltend machen, um die Huthi-Milizen im Jemen vor weiteren Angriffen auf Frachter im Roten Meer abzuhalten.
Doch auch Baerbock kann nicht verbergen, wie sehr sich für Deutschland die Welt verändert hat. Gerade beim Umgang mit dem Nahostkonflikt. Spricht man in diesen Tagen mit Diplomaten und erfahrenen Botschaftern, dann spürt man viel Leidenschaft und große Sorge. Niemand will es öffentlich besser wissen. Aber alle beschreiben, wie anders die Lage geworden ist.
Im Kern zeigen sich fünf Entwicklungen, die fast alles verändern. Erstens gehört Deutschland zu den ganz wenigen Staaten, die noch Zugang zur aktuellen israelischen Regierung haben. Zu erkennen auch daran, dass Israels Premier Benjamin Netanjahu zuletzt nicht nur Kanzler Olaf Scholz, sondern auch Baerbock und den Oppositionsführer Friedrich Merz empfangen hat. Zunächst ist das ein großes Plus. „Bei aller Kritik – wir können die Lage nur heilen, wenn wir uns diesen Zugang bewahren“, heißt es im AA.
Zweitens muss Berlin erkennen, dass es mit seinen Sorgen gleichwohl kaum noch durchdringt. Und das gilt nicht nur für die Bundesregierung, es gilt – was viel gravierender ist – auch für die USA. Weder Berlin noch Washington finden in Jerusalem noch ausreichend Gehör und damit die letzten, die noch gute Drähte halten. „Das ist sozusagen der geteilte Frust aller Freunde Israels“, ist zu hören.
Drittens hat die enge Solidarität mit Israel auf Seiten der Palästinenser einen Preis. Die meisten Kontakte zu wichtigen Führungspersönlichkeiten in Westbank und Gaza sind auf Eis gelegt. „Selbst enge Freunde sind im Augenblick praktisch nicht mehr ansprechbar für uns“, berichtet ein erfahrener Botschafter, der seit mehr als 30 Jahren im Geschäft ist. Seiner Einschätzung nach hat das mit dem aus Sicht der Palästinenser unverhältnismäßigen Militäreinsatz zu tun. Noch wichtiger aber, so erzählt es der Botschafter, sei der Bruch mit quasi allen zivilgesellschaftlichen NGOs, denen man auch die Förderung gestrichen habe. „Damit haben wir den Kontakt auch zu denen abgebrochen, die man für eine friedliche Lösung dringend brauchen wird.“
Viertens handelt es sich seit dem 7. Oktober nicht nur „um die größte und komplexeste Krise“ seit langem. Es handelt sich auch „um die erste Krise in einer neuen Zeit“, in der „die bisher üblichen Mechanismen nicht mehr wirken“. So drückt es ein hochrangiger Ex-Diplomat aus. Gemeint ist damit: Die USA haben dramatisch an Einfluss verloren; dafür werden Länder wie Saudi-Arabien, Katar und auch China für eine Lösung unverzichtbar. Kein Wunder, dass Baerbock beides versucht: Israel zu stützen und zu beeinflussen und daneben die arabischen Staaten in Gespräche zu holen. Von einem „Outreach in zwei Richtungen“ ist die Rede.
Fünftens macht China den Amerikanern ihre Rolle als Machtfaktor Nummer eins in der Region streitig. Seit der Vermittlung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran ist allen in der Region bewusst geworden, dass Peking auch hier seinen politischen Einfluss ausbaut. Für Baerbock heißt das: Ausgerechnet mit einem Regime das Gespräch suchen zu müssen, das sie noch vor Monaten hart kritisiert hat. Unter deutschen Diplomaten und Botschaftern ist man deshalb schon froh, dass Peking mindestens an dieser Stelle „kein destruktives, sondern zur Rettung der Handelswege absolut konstruktives Interesse“ habe.
Alte Mechanismen unnütz, der engste Verbündete zunehmend ohnmächtig, dazu ein heikles Verhältnis zu den Palästinensern – was muss man da tun? Ex-Botschafter und Diplomaten fragen sich, ob Baerbock nicht versuchen sollte, was Frank-Walter Steinmeier vor 18 Jahren anstieß. Im Sommer 2006 schickte der damalige Außenminister als Reaktion auf den ausgebrochenen Libanonkrieg vier erfahrene Diplomaten in verschiedene Hauptstädte, um Fühler auch zu denen auszustrecken, die enttäuscht, verärgert, gefährdet waren. Zu diesem Quartett gehörten Volker Perthes, Martin Kobler, Peter Wittig und Horst Freitag. Einer flog nach Damaskus, ein zweiter nach Beirut, ein dritter zur Uno. Es war ein erfolgreicher Versuch, „in beschissener Lage Brücken zu prüfen und Kontakte aufrechtzuerhalten“, wie es später hieß.
Dass so etwas bitter nötig wäre, steht eigentlich außer Zweifel. In München sah sich Deutschland offener Kritik für seine als unkritisch empfundenen Haltung gegenüber Israel ausgesetzt, insbesondere durch Vertreter des sogenannten Globalen Südens, die in München so stark vertreten waren wie nie zuvor. Dazu berichtete ein erfahrener Botschafter von einem Gespräch mit einem palästinensischen Freund, der sich abgewendet hat. Er habe ihm gerade geschrieben: „Wir werden nie vergessen, wer den Israelis die Waffen geliefert hat für ihr Vorgehen in Gaza.“ Eine schmerzhafte Botschaft.