Keine Frage, der Auftritt in der russischen Hauptstadt war alles andere als einfach. Große Bühne, hoch angespannte politische Lage und dazu ein Gastgeber, der ob seiner Erfahrung, seiner Chuzpe und seiner Tricksereien alles sein kann, nur nicht zugewandt oder verlässlich. Und doch lag etwas Berechenbares in Annalena Baerbocks erster Begegnung mit Sergej Lawrow. Als die deutsche Außenministerin im Februar 2022 in Moskau neben ihrem russischen Kollegen vors Mikrofon trat, hatte sie nämlich nicht so sehr viel zu verlieren. Ja, sie hätte unsicher wirken können ob der neuen Rolle und der politischen Lasten. Aber ihre Rolle als Verteidigerin der freien und friedfertigen Welt – die war doch eindeutig vorgezeichnet. Russlands offenkundige Angriffspläne gegen die Ukraine und die innere Überzeugung, gegen jede Art von Krieg anzutreten, machte die Worte vergleichsweise einfach: Dort der Gegner, der falsches tut; hier die erste deutsche Außenministerin, die für die gute Sache eintritt.
Ein Jahr später ist das ganz anders. Als Baerbock in diesem Frühjahr in Pretoria ihre südafrikanische Amtskollegin traf, hätten die beiden Frauen von außen betrachtet leichtes Spiel haben können. Hier die forsche Deutsche mit ihrer feministischen Außenpolitik, dort die weibliche Wolfgang Schäuble der südafrikanischen Politik Naledi Pandor, seit Jahrzehnten in zahlreichen politischen Ämtern gestählt und durchsetzungsfähig in der Männer-dominierten ANC-Machthierarchie. Doch wo ein enges Verhältnis nur zu verständlich schien, brach sich in der Pressekonferenz ein südafrikanisches Selbstbewusstsein Bahn, das offen legte, wie sehr sich die Welt verändert hat. Verändert auch für ein Deutschland, das noch vor kurzem an vielen Orten der Welt ob seiner Wirtschaftsmacht hofiert worden war.
In Südafrikas Hauptstadt aber wurde deutlich, dass im ehemaligen Apartheidstaat der Drang nach mehr Unabhängigkeit von westlicher Dominanz groß ist. Vielleicht so groß wie noch nie. Baerbocks Kollegin nämlich reagierte auf die leise Kritik der Deutschen, warum man in der Kritik an Russland nicht stärker Hand in Hand gehe, mit einer rüden Erinnerung an die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat. Damals habe man Südafrika nur gesagt: Mach mit, und zwar so, wie wir es Dir sagen. „Friss oder stirb“ – das sei der westliche, auch deutsche Gestus gewesen. Und genau deshalb habe Südafrika nicht mitgemacht, sondern sich enthalten.
Nein, es kam bei dieser Begegnung nicht zum Streit, es war nur eine kurze Bemerkung. Aber sie machte überdeutlich, wie sehr sich auch in einem Land wie Südafrika der Wind gedreht hat. Und wie kompliziert die Diplomatie werden kann. Anders als im Duell mit Lawrow gibt es hier kein klares Ja oder Nein, kein Ihr oder wir. Plötzlich geht es um komplizierte, selbstbewusste Partner mit kritischen Ansichten, die man für sich gewinnen will und muss. Insbesondere dann, wenn man verhindern möchte, dass sich mit den fünf Brics-Staaten und ihren womöglich bald noch mehr Mitgliedern ein neues Machtzentrum auf der Welt etabliert, das je nach Frage ganz andere Werte vertritt als zum Beispiel die G7.
Was heißt das für eine deutsche Außenministerin, die sich einer feministischen Außenpolitik rühmt, von wertebasierter Diplomatie spricht und die Klimaaußenpolitik zu einem zentralen Anliegen ihrer Amtszeit erklärt hat? Was bedeutet all das im Umgang mit Staaten wie Indien, China und Russland, die während der Pandemie erleben mussten, wie sich ausgerechnet die G7 bei den Impfstoffen erstmal nachhaltig um sich selbst gekümmert haben? Was heißt das für Staaten und Weltregionen, für die der Krieg gegen die Ukraine allenfalls in der Peripherie eine Rolle spielt, aber unter den westlichen Sanktionen gegen Russland leiden? Wie geht man um mit Ländern, in denen durch diese Erlebnisse ein altes anti-koloniales Gefühl neu erwacht ist?
Es bedeutet, dass eine Außenministerin, die bislang von ihren klaren Botschaften und Positionen gelebt hat, plötzlich sehr genau überlegen muss, an welcher Stelle sie diesen Staaten entgegenkommt, um das Anliegen einer Kooperation auf Augenhöhe auch glaubwürdig verkörpern zu können. Sie wird Kompromisse machen müssen, will sie nicht in weitere Konflikte geraten. Sie wird als Diplomatin also in jene Sphäre eintauchen, wo das klare Schwarz-Weiß einem kompromissfähigeren Grau weicht. Wie Baerbock das machen wird – und wie sie es rechtfertigt, bei den eigenen hehren Zielen Abstriche zu machen – das wird die Außenministerin in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit neu herausfordern.
Am Dienstag ist die Außenministerin zum Gipfel der Brics in Südafrika befragt worden. Baerbock sagte, sie schaue „total interessiert“ auf das Treffen und sei „total gespannt“, was am Ende rauskommen werde. Neugierig sei sie auf die Abschlusserklärung, aber auch auf die Frage, ob und mit wem sich das Bündnis vergrößern werde. Besonders zufrieden zeigte sie sich darüber, dass der russische Präsident nicht habe teilnehmen können. Das belege, dass solche Treffen für Staaten, die das Völkerrecht brechen, nicht nur einfach seien. Der Internationale Strafgerichtshof sei eben doch „kein zahnloser Tiger“. Das sollte man im Lichte dieses Brics-Treffens nicht vergessen.
Baerbocks Einordnungen sind verständlich; Putins Nichterscheinen wird in Berlin als wichtigster Beleg dafür gelesen, dass auch größere Veränderungen nicht gleich alles auf den Kopf stellen. Zugleich zeigte sich Baerbock sehr bemüht zu zeigen, dass sie die aktuelle Gefühlslage in Südafrika, Indien, Brasilien durchaus verstehen könne. Es sei völlig richtig, dass mehr Länder Mitsprache einfordern. Dafür stehe auch Berlin. „Wir wollen mit anderen mehr gemeinsam sprechen. Wir wollen uns besser abstimmen“, so Baerbock. Sie räumte zugleich ein, dass es nicht nur in Südafrika immer wieder den Reflex gebe: „Was beschwert ihr euch?“ Immerhin habe Russland im Kampf gegen die Apartheid auf der richtigen Seite gestanden. Dieser Kritik müsse man sich stellen, um gleichzeitig deutlich zu machen, „dass zum Glück Fehler der Vergangenheit ja nicht Fehler der Zukunft sind.“
Da klingt viel mit an später Einsicht – und an Hoffnung, dass trotz allem ein positives neues Kapitel möglich sein sollte. Ein neues Kapitel, für das Baerbock nicht müde wird zu betonen, dass man künftig selbstverständlich „auf Augenhöhe“ kooperieren werde. Was erstens das Bekenntnis beinhaltet, dass das bis zuletzt eben doch nicht der Fall war. Und was zweitens noch vollkommen offen lässt, was es für die bislang so selbstbewusst vorgetragenen eigenen Ziele bedeutet. Wertebasiert, feministisch, als Kampf gegen den Klimawandel – nichts davon ist falsch. Und doch muss Baerbock es jetzt in einem anderen, komplexeren Umfeld neu austarieren.