In Gaza herrscht eine menschengemachte Katastrophe – und so wie es aussieht, wird die neue Regierung unter Friedrich Merz der Linie ihrer Vorgängerin treu bleiben, wenn es um Israel und Palästina geht. Solange sie an geplanten Waffenlieferungen nach Israel festhält, mögliche Kriegsverbrecher wie Benjamin Netanjahu durch Staats- und Regierungsbesuche weiterhin legitimiert und keine wirksamen Schritte zur Beendigung des humanitären Grauens in Gaza unternimmt, macht sie sich mitschuldig.
Vor allem aber muss die Bundesregierung im Einklang mit dem Völkerrecht handeln. Seit dem 26. Januar 2024 ist offiziell ein Verfahren des Internationalen Gerichtshofs (IGH) gegen Israel anhängig wegen des Verdachts auf Verletzung der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Noch bevor diese Entscheidung in Den Haag überhaupt getroffen war, beeilte sich Berlin, die Vorwürfe als haltlos abzukanzeln, und verstieg sich sogar dazu, der Republik Südafrika die Instrumentalisierung des schwerwiegenden Völkermordvorwurfs vorzuwerfen.
Die südafrikanische Anklageschrift belegte unterdessen gleich auf mehreren Seiten genozidale Hassrede führender israelischer Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Israel. Unabhängig davon, wie der Gerichtshof in der Frage entscheiden wird: Es ist völlig unstrittig, dass in Gaza schwerste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden, woraus sich alleine schon nach anderen Abkommen, deren Vertragspartei die Bundesrepublik ist, Verpflichtungen ergeben, alles Erdenkliche zu tun, um diese schwerwiegenden Verbrechen zu beenden.
Stattdessen bleibt Deutschland seinem Kurs treu, bei Israel eine Ausnahme zu machen, wenn es um die Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Verpflichtungen geht. Ob es der von Friedrich Merz nach seinem Wahlsieg in Aussicht gestellte Besuch des per internationalem Haftbefehl ausgeschriebenen israelischen Premierministers Benjamin Netanjahus in Berlin ist oder das Treffen zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Netanjahu am 13. Mai – so wird das Völkerrecht nicht gestärkt, sondern weiter unterminiert.
Die Mitarbeiter:innen der medico-Partnerorganisationen, die in der humanitären Hilfe und im Gesundheitswesen im Gazastreifen arbeiten, erleben einen Krieg, der kaum in Worte zu fassen ist. Wie die komplette palästinensische Bevölkerung wurden auch sie immer wieder vertrieben, gezwungen, ihr Leben neu zu ordnen, nur um am nächsten Morgen erneut ums bloße Überleben und um das Nötigste zum Leben zu kämpfen.
Unterdessen hat der neue Außenminister der Bundesrepublik, Johannes Wadephul, Netanjahu bereits in Israel getroffen. Bei der Gelegenheit begrüßte er den sogenannten „humanitären Plan“ der israelischen Regierung, der die Auslagerung der Hilfe an eine private US-amerikanische Sicherheitsfirma und den Einsatz von Hilfsgütern vorsieht, um signifikante Teile der Bevölkerung in ein kleines Gebiet südlich des Morag-Korridors zu zwingen.
Bis heute hat keine internationale Hilfsorganisation zugestimmt, Teil dieses Vorhabens zu sein – denn es widerspricht den Grundprinzipien der humanitären Hilfe: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Es untergräbt nicht nur jede Ethik der Hilfeleistung, sondern bricht auch mit dem zentralen Grundsatz, Menschen dort zu unterstützen, wo sie sich befinden – und sie nicht durch erzwungene Ortswechsel zusätzlich zu belasten, nur um Zugang zu überlebensnotwendiger Nahrung zu erhalten. Mit dem jüngsten Vorhaben der israelischen Regierung sollen nun auch die letzten palästinensischen und internationalen humanitären Akteure in Gaza gebrochen werden, die mit aller Kraft versuchen, das Überleben der Palästinenser:innen in Gaza irgendwie zu ermöglichen.
Die Bekenntnisse der Bundesregierung zu Menschenrechten alleine bleiben leere Worte, solange das Unrecht in Gaza weiter unterstützt wird. Es obliegt daher auch der Gesellschaft, über den humanitären Horror in Gaza zu sprechen. Nicht irgendwann, sondern jetzt.
Riad Othman ist Nahost-Referent der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International.