Eine Welt im Wandel
Wir leben in einer Zeit, die von wachsender Unsicherheit geprägt ist. Aggression, Krieg und Terrorismus stellen die internationale Gemeinschaft vor enorme Herausforderungen. Die Vielzahl globaler Konflikte –in der Ukraine, im Nahen Osten oder in der Sahelzone– gefährdet nicht nur den globalen Frieden und die Stabilität der Vereinten Nationen, sondern stellt auch die Geltung der internationalen Ordnung in Frage, die auf der UN-Charta, dem Völkerrecht und dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beruht. Für diese Werte wird sich Lettland als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in den Jahren 2026 und 2027 aktiv einsetzen.
Europas Sicherheit auf dem Prüfstand
Seit dem 24. Februar 2022 tobt in Europa ein Krieg, der die Grundfesten der europäischen Sicherheit erschüttert. Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein gravierender Bruch des Völkerrechts und hat das strategische Sicherheitsumfeld in Europa unumkehrbar verändert. Die Ukraine bleibt die Frontlinie der europäischen Sicherheit – ihr Kampf ist auch unser Kampf um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und ein regelbasiertes internationales System. Als Staat an der östlichen Grenze der EU und der NATO, der fast 50 Jahre lang eine sowjetische Okkupation erlebte, weiß Lettland, was von seinem imperialistischen Nachbarn Russland zu erwarten ist. Wir haben am eigenen Leib erfahren, dass Freiheit und Unabhängigkeit keine Selbstverständlichkeit sind sondern dass sie Werte darstellen, die wir bewusst schützen müssen. Die NATO hat auf die neue Bedrohungslage entschlossen reagiert. Die Mitgliedstaaten stärken ihre Verteidigungsfähigkeit, modernisieren ihre Strukturen und passen ihre Strategien an. Lettland wird noch in diesem Jahr seine Verteidigungsausgaben auf 4 % des Bruttoinlandprodukts erhöhen und im kommenden Jahr 5 % anstreben. Gleichzeitig wächst die Erwartung, dass auch die Europäische Union eine größere sicherheitspolitische Verantwortung übernimmt. Die Entwicklung gemeinsamer Verteidigungsfähigkeiten ist nicht nur für die Unterstützung der Ukraine entscheidend, sondern auch für die Stärkung der eigenen Widerstandsfähigkeit Europas.
Deutschlands Führungsrolle in Europa
In dieser neuen Realität trägt Deutschland besondere Verantwortung. Als größte Volkswirtschaft und politisches Schwergewicht der EU erwarten wir von Deutschland, dass es die sicherheits- und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit Europas aktiv prägt. Die 2022 ausgerufene „Zeitenwende“ hat die ersten konkreten Formen angenommen – durch erhöhte Verteidigungsausgaben und eine wachsende Bereitschaft, militärische Verantwortung zu übernehmen. Besonders sichtbar ist dies im Nordosten Europas. Deutschland führt die NATO-Brigade in Litauen und leistete 2024 mit dem Air-Policing-Einsatz von Lettland aus einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des baltischen Luftraums. Diese Präsenz stärkt nicht nur die Sicherheit unserer Region, sondern auch das Vertrauen und die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den baltischen Staaten. Zugleich wünschen sich viele Partner in Europa, dass der eingeschlagene Kurs mit noch größerer Entschlossenheit und Tempo voranschreitet. Denn die sicherheitspolitischen Herausforderungen dulden kein Zögern – sie erfordern gemeinsames und rasches Handeln. Für Lettland ist die deutsche „Zeitenwende“ nicht nur ein innenpolitischer Wandel, sondern ein sichtbarer Beitrag zur kollektiven Sicherheit Europas.
Sicherheit braucht wirtschaftliche Stärke
Eine verantwortungsvolle Sicherheits- und Außenpolitik setzt zugleich eine solide wirtschaftliche Grundlage voraus. Deutschlands Engagement wird nur dann dauerhaft tragfähig sein, wenn es auf einer starken wirtschaftlichen Basis ruht. Um Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, braucht es Reformen – von der Digitalisierung bis zur Energie- und Industriepolitik. Nur so kann Deutschland seine sicherheitspolitische Verantwortung mit wirtschaftlicher Stabilität verbinden.
Partnerschaft für ein starkes Europa
Lettland und Deutschland verbindet eine enge Partnerschaft – sicherheitspolitisch, wirtschaftlich und kulturell. Wir teilen gemeinsame Werte und Ziele und arbeiten eng in der EU und der NATO zusammen. Lettland bringt dabei seine Erfahrungen ein, etwa bei der Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen oder in der Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz gegenüber hybriden Bedrohungen. Lettlands und Deutschlands wirtschaftliche und gesellschaftliche Stärke bilden ein wichtiges Fundament für ein starkes Europa. Gemeinsam tragen wir zu einer handlungsfähigen und widerstandsfähigen Union bei. In einer Welt, die zunehmend von Machtpolitik geprägt ist, müssen wir als Europäer geschlossen, entschlossen und vorausschauend handeln. Deutschland kann durch seine neue Rolle dabei zum Motor werden – für Frieden, Stabilität und eine regelbasierte internationale Ordnung.
Autorin: Alda Vanaga ist die deutsche Botschafterin der Republik Lettland.
In einer Zeit globaler Umbrüche bitten wir Botschafterinnen und Botschafter um ihre Sicht auf Deutschlands zukünftige Rolle in der Welt. Was wird in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Klima- und Handelspolitik von Berlin erwartet? Welche Impulse sollte Deutschland in internationalen Institutionen setzen – und wie lässt sich die bilaterale Zusammenarbeit weiterentwickeln?