Table.Briefing: Europe

Juncker im Interview + Knackpunkte bei Sondierungen + Lagarde zur Inflation

  • Juncker: SPD sollte Regierung bilden
  • Termine der kommenden Tage
  • Knackpunkte bei den Sondierungen für Ampel oder Jamaika
  • Brüssel mahnt zur Eile
  • Lagarde: Inflation nicht von Dauer
  • Google wehrt sich gegen Rekordstrafe
  • Vălean wirbt für Verbrenner-Aus
  • Forderungen von Eco-Chef Süme an neue Regierung
Liebe Leserin, lieber Leser,

nach der Bundestagswahl sortieren sich die Parteien, und zwar, je nach Abschneiden, mehr oder weniger geräuschvoll. Die FDP hat ihr Team schnell benannt, Parteichef Christian Lindner und Generalsekretär Volker Wissing wollen bis Ende der Woche Vorsondierungen mit den Grünen aufnehmen. Dort versicherte der Ko-Vorsitzende Robert Habeck, die Parteiführung sei bereits “komplett sortiert”. Habeck selbst hat dabei die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der internen Rangordnung überholt, jedenfalls wenn man den Redeanteil bei der gemeinsamen Pressekonferenz als Maßstab nimmt.

Die Spitzen von FDP und Grünen sprechen aber auch mit den anderen möglichen Koalitionspartnern Olaf Scholz und Armin Laschet, wenn auch vorerst nur in losen Formaten. Man wolle alle Optionen ausloten, sagte Habeck, es spreche aber “einiges dafür, dass es eher die Ampel wird“. Für die Sozialdemokraten soll ein sechsköpfiges Team um Scholz und die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans erste Gespräche führen.

Während sich die anderen formieren, kämpft Armin Laschet um sein politisches Überleben. Die vage Aussicht, mithilfe von FDP und Grünen doch noch die Regierung bilden zu können, hält ihn zwar im Amt, trotz aller Kritik aus den eigenen Reihen. Aber die erste Fraktionssitzung an diesem Dienstag birgt Sprengkraft. Laschet musste seinen eigenen Ambitionen auf den Posten des Fraktionsvorsitzenden am Montag abschwören, nachdem Amtsinhaber Ralph Brinkhaus im Parteipräsidium protestiert hatte. Doch geklärt war die Personalie damit noch nicht. Der einflussreiche Posten könnte andere Bewerber anlocken und einen offenen Machtkampf entzünden.

In Brüssel und anderen Hauptstädten nährt die schwierige Gemengelage die Sorge, dass es noch einige Monate dauern könnte, bis die neue Regierung in Berlin steht. Der frühere Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mahnt im Interview: “Eine lange Hängepartie ist nicht angebracht.” Mit Blick auf den nahenden Abschied von Angela Merkel wird Juncker ein wenig sentimental, wenn er sagt: “Wer lange dabei war, der verschwindet nie ganz.”

Ihr
Till Hoppe
Bild von Till  Hoppe

Analyse

Jean-Claude Juncker: “Eine Hängepartie ist nicht angebracht”

Herr Juncker, hat die Union einen Anspruch darauf, die Regierung zu bilden?
Ich bin der Meinung, dass man die stärkste Partei nicht umgehen sollte. In diesem Fall ist das die SPD. Sie hat deutlich zugelegt, während die Union deutlich verloren hat.

Raten Sie CDU/CSU den Wechsel auf die Oppositionsbank?
Da halte ich mich heraus. Mein Arm ist lang, aber er reicht nicht bis hin zur deutschen Regierungsbildung.

Wie schätzen Sie die Rolle von Grünen und FDP ein?
Wir müssen abwarten, was bei den Gesprächen zwischen Grünen und FDP herauskommt. Beide Parteien müssen große programmatische Divergenzen überwinden. Wenn sie das schaffen, dann sind sie in einer Position der Stärke. Sie können sich an die Partei wenden, mit der sie am liebsten koalieren. Ob es die SPD oder die CDU/CSU wird, steht in den Sternen.

Olaf Scholz und Armin Laschet haben den Wunsch ausgedrückt, die Regierungsbildung noch in diesem Jahr abzuschließen. Halten Sie das für realistisch?
Es wäre jedenfalls gut, wenn die Sondierungsgespräche so schnell wie möglich über die Bühne gingen. Eine lange Hängepartie ist nicht angebracht. Wir brauchen in Europa eine handlungsfähige deutsche Regierung.

Wie wird die zukünftige Regierung die EU-Politik beeinflussen?
Ich denke, da wird sich auch mit einem Kanzler Scholz nicht viel verändern. Manche glauben, alles werde anders, wenn ein Sozialdemokrat an die Macht kommt. Aber das wird auch diesmal nicht passieren. Es dürfte Deutschlands Nachbarn beruhigen, dass sowohl Laschet als auch Scholz pro-europäisch eingestellt sind.

Ob Jamaika oder Ampel-Koalition macht also europapolitisch kaum einen Unterschied?
Der Unterschied zwischen SPD und CDU in der Europapolitik war noch nie sehr groß. In den vergangenen Jahren war die SPD in der Regierung. Sie hat den Vizekanzler gestellt und hatte alle Möglichkeiten, die deutsche Europapolitik umzuorientieren, hätte sie den Willen dazu gehabt. Das ist aber nicht passiert. Wieso sollte sie das also jetzt tun? Ich sehe nicht, dass Deutschland jetzt auf einmal einen ganz neuen Kurs einschlägt.

Mehr europäische Integration, etwa in puncto Finanz- und Steuerpolitik, eine kulantere Haltung beim Stabilitätspakt, weitere Schritte in Richtung gemeinsamer Schulden – darauf hoffen einige in der EU. Sie sagen, nach der Ära Merkel bleibe alles wie gehabt. Es gibt ja ein europäisches Wiederaufbauprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, dank gemeinsamer Schuldenaufnahme. Ich glaube nicht, dass ansonsten viel passieren wird. Im Wahlkampf hat Olaf Scholz schließlich mehrmals gesagt, dass man keinen neuen Kurs in der europäischen Schuldenpolitik einschlagen sollte. Die Grünen sind zwar anderer Meinung. Die FDP aber glaubt an einen sturen orthodoxen Finanzdeal. Es scheint mir nicht so, als gebe es hier viel Spielraum. Vielleicht kommt es beim Stabilitätspakt zu ein paar neuen Flexibilitäten. Fundamentale Änderungen werden aber nicht kommen.

Was wäre Ihre Wunschliste an die künftige Bundesregierung?
Der deutsche Einfluss auf die Europapolitik ist groß. Er darf aber auch nicht überschätzt werden. Deutschland ist nicht allein. Der neue Bundeskanzler muss ebenso eine Balance finden zwischen den nationalen Interessen und dem europäischen Ganzen wie Angela Merkel.

Im Wahlkampf hat Europa kaum eine Rolle gespielt.
Europa hat keine Rolle gespielt, weil über Europa nicht gestritten wird. Es gibt kaum europapolitische Unterschiede zwischen den Parteien, auch nicht bei der FDP. Das ist ein Unterschied zu den Franzosen. Emmanuel Macron hat 2017 einen sehr pro-europäischen Wahlkampf geführt, und er hält daran fest. In Frankreich gibt es eine viel größere Absetzbewegung zur EU.

Es ist nicht mehr lange hin bis zu den französischen Präsidentschaftswahlen. Ist das die eigentliche Schicksalswahl für Europa?
Ich finde Frankreichs Politlandschaft schwierig einzuschätzen – allein schon deshalb, weil Macron über keine Partei im klassischen Sinne verfügt. Aber er steht deutlich für Europa. Andere haben Bedenken. Im französischen Wahlkampf müssen wir die Debatte über die europäische Integration genaustens im Auge behalten.

Es wird oft gesagt, dass Ursula von der Leyen im Schatten der Bundeskanzlerin stand, sich vielleicht sogar weiter als ihre Ministerin verstand. Kann sich die Kommissionspräsidentin jetzt freischwimmen?
Der Kommissionspräsident ist nicht da, um nationale Interessen zu vertreten. Ich habe das nie gemacht. Jeder einzelne Präsident vor mir und nach mir muss das Europäische im Blick haben. Das muss die Priorität von Frau von der Leyen bleiben.

Im Europäischen Rat wird Angela Merkel ein großes Vakuum hinterlassen. Welche Dynamik ist bei den nächsten EU-Gipfeln zu erwarten?
Deutschland war nie in einer Position, in der es alleine entscheiden konnte, was in Europa passiert. Sogar zusammen mit den Franzosen konnte es nicht agieren, wenn andere Partnerländer sich nicht in die gleiche Richtung bewegten. Ich sehe kein Vakuum, schließlich gibt es einen neuen Bundeskanzler. Der vertritt die größte Volkswirtschaft der EU und das Land mit den meisten europäischen Nachbarn. Darauf gilt es Rücksicht zu nehmen.

Welchen Kurs gilt es denn gegenüber Viktor Orbán und Co einzuschlagen? Frau Merkel hat versucht, den Graben nicht zu groß werden zu lassen.
Niemand gewinnt, wenn der Graben noch breiter wird. Aber es ist an Ungarn, Polen und Co, Brücken zu schlagen. Es ist nicht an den anderen EU-Partnern, ihre Haltung und ihre Politik radikal zu ändern, sei es in puncto Rechtsstaatlichkeit oder Flüchtlingspolitik.

Wird sich die europäische Außenpolitik nach Merkel verändern, etwa gegenüber Russland?
Russland gehört zur europäischen Sicherheitskarte. Es ist unser großer Nachbar. Man muss versuchen, die Verhältnisse so normal wie möglich zu gestalten, ohne aber die Kritik an Putins Handeln zu minimieren, etwa bezüglich der Krim und der Ostukraine. Dennoch: Ich wünsche mir, dass es wieder zu einem kontinuierlichen Dialog kommt, ohne dass die EU von ihren Werten absieht.

Und China?
In der Chinapolitik könnten sich die Nuancen jetzt eventuell verschieben. Die Grünen waren immer sehr chinakritisch und haben auch Angela Merkels Chinapolitik kritisiert. Aber auch das sind europäische Fragen, die Deutschland nicht alleine klären wird. Sie müssen engstens mit den europäischen Partnern abgestimmt werden.

Nach Donald Trump hatte man gehofft, dass sich die EU wieder auf die USA als starken Partner verlassen kann. Doch die Vereinigten Staaten scheinen ganz gut ohne Europa auszukommen.
Ich habe mit vier US-Präsidenten zusammengearbeitet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Europa entweder näher treten oder sich abwenden. Joe Biden gehört zu Ersteren. Dennoch: Die US-amerikanischen Interessen werden immer im Mittelpunkt stehen. Es braucht weitere Gespräche mit Biden, um die transatlantische Allianz zu reanimieren. Um das zu schaffen, braucht es starke Reanimationsmaßnahmen.

Frau Merkel tritt nach 16 Jahren von der nationalen und europäischen Bühne ab. Sie haben das bereits getan. Welchen Ratschlag haben Sie an Frau Merkel?
Ich hatte erst Donnerstag ein langes Telefonat mit Frau Merkel. Sie hat ja noch keine konkreten Zukunftspläne. Aber sie will weiterhin in der europäischen Landschaft präsent bleiben, ohne aber ein europäisches Amt zu übernehmen. Wer lange dabei war, der verschwindet nie ganz.

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Termine

29.09.2021 – 02:30-10:45 Uhr, online
FG, Conference Third Data Privacy Conference USA
The Forum Global (FG) 3rd Annual Data Privacy Conference USA will gather thought leaders, legislators, the public and private sectors, and civil society representatives to discuss issues relating Data Privacy in the US and Europe. INFOS & REGISTRATION

29.09.2021 – 10.00-14.50 Uhr, online
ZVEI, Konferenz Digitale Ökosysteme für die Industrie
Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) thematisiert die Entstehung eines globalen digitalen Ökosystems und die damit einhergehenden Wachstumspotenziale für Unternehmen. INFOS & ANMELDUNG

29.09.2021 – 10:00-11:00 Uhr, online
BA, Seminar Von Menschen und Maschinen – Grenzen der künstlichen Intelligenz
Die Veranstaltung der Bitcom Akademie (BA) beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von KI im Unterschied zu den kognitiven Fähigkeiten des Menschen in Entscheidungssituationen und sozialer Interaktion. INFOS & ANMELDUNG

29.09.2021 – 11:00-12:00 Uhr, online
Eurelectric, Panel Discussion Power Barometer: How can the EU power sector get Fit for 55?
This Eurelectric panel discussion addresses the potential contributions of the power sector to the decarbonization ambitions of the European economy. INFOS & REGISTRATION

29.09.2021 – 13:00-14:00 Uhr, online
Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union, Seminar Klimaschutz tanken in der Land- und Forstwirtschaft – welchen Rahmen setzt das Beihilferecht?
Die Veranstaltung der Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union beschäftigt sich mit dem Einfluss des Beihilferechts auf die Möglichkeiten des Klimaschutzes in Land- und Forstwirtschaft. INFOS & ANMELDUNG

30.09.-01.10.2021, online
Handelsblatt, Konferenz KI Summit
Der KI Summit des Handelsblatts beschäftigt sich mit den verschiedenen Dimensionen von KI und ihrem Verhältnis zu Innovationen in Deep Tech, Industrie und Mittelstand. INFOS & ANMELDUNG

30.09.2021-10:00-12:00 Uhr, online
EEX, Seminar Marktzugang zur Teilnahme am nationalen Emissionshandel
Der European Energy Exchange (EEX) informiert anlässlich des Starts der Verkäufe von nEHS-Zertifikaten am 5. Oktober über Marktzugänge und Angebote. Zugangslink zum Seminar

30.09.2021 – 14:00-16:00 Uhr, online
DE, Discussion Build Back Smarter: the digital potential of the Energy Performance of Buildings Directive
Digital Europe (DG) will gather experts in order to discuss the interdependence of the digital transformation, the innovation of building value chains and the European climate targets. INFOS & REGISTRATION

Jamaika oder Ampel: Knackpunkte bei den Sondierungen

In den vergangenen Wochen hat Europe.Table die Wahlprogramme der vier Parteien analysiert, die nun für die nächste Bundesregierung infrage kommen (und zwar hier: CDU/CSU, FDP, Grüne, SPD). Dabei haben wir uns vor allem auf die Standpunkte bei klima-, digital- und europapolitischen Fragen fokussiert. Diese könnten nun bei den Sondierungen und den anschließenden Koalitionsverhandlungen für ordentlich Reibung sorgen.

Jamaika-Koalition: Grüne brauchen Erfolge

Ein potenzielles Konfliktfeld in Jamaika-Verhandlungen ist die künftige europäische Finanzpolitik: Die Grünen dringen, ebenso wie Frankreich (Europe.Table berichtete), auf mehr Spielraum für Investitionen in den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade die FDP hat beim Stabilitäts- und Wachstumspakt in der Vergangenheit aber wenig Spielräume signalisiert. In der Union ist das Stimmungsbild nicht ganz so klar: Während Armin Laschet offen ist für Ausnahmen für Klimaschutzausgaben, finden sich gerade in der Fraktion viele Hardliner.

In der Digitalpolitik gibt es wiederum größere Schnittmengen zwischen den Grünen und den Liberalen: Zwar haben sie ein unterschiedlich ausgeprägtes Verständnis von Marktregulierung – hier liegen Unionsparteien und Grüne etwas näher beieinander. Aber bei der Datenpolitik, insbesondere beim Datenschutz im Verhältnis zur inneren Sicherheit, ziehen FDP und Grüne grundsätzlich an einem Strang. Auch bei den Konzepten zur Cybersicherheit gibt es deutlich mehr grün-gelbe Schnittmengen als schwarz-grüne oder schwarz-gelbe.

Derweil liegen mit ihrer Forderung nach einem Digitalministerium FDP und Unionsparteien auf einer Linie. Hier sind die Grünen skeptisch und würden es kaum in Unionshand sehen wollen. Primär jedoch hinge die Errichtung wohl von der Zahl der zur Zufriedenheit aller Beteiligten notwendigen Ministerposten ab.

Eng mit den Digitalthemen verknüpft ist eine eher überraschende grün-gelbe Gemeinsamkeit: Beide befürchten eine wirtschaftliche und technologische Übermacht Chinas, beide sind sehr viel kritischer gegenüber der Volksrepublik eingestellt, als die Unionsparteien dies bislang waren. Die FDP zieht daraus vor allem den Schluss, mehr Freihandelsabkommen mit demokratischen Staaten zu schließen. Die Grünen sehen hier vor allem Maßnahmen wie Haftung entlang der Lieferketten als nötig an, die von gelb-schwarzer Seite als problematisch erachtet werden.

In anderen Themen müssten FDP, CDU und CSU vor allem schauen, wie sie den Grünen so große Erfolge zugestehen können, dass deren Basis sich auf die ungeliebte Konstellation einließe. Da sich CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm in den Klimafragen viele Optionen offengehalten haben, wird die Debatte um die genaue Ausrichtung einer möglichen gemeinsamen Klimapolitik vor allem zwischen FDP und Grünen ausgetragen werden. Und das voraussichtlich schon, bevor diese Konstellation überhaupt für gemeinsame Sondierungen zusammenkommt.

Zwar wollen FDP und Grüne den europäischen Emissionshandel zum Leitinstrument für die Dekarbonisierung von Industrie, Verkehr und Energie machen. Doch das Ausmaß der staatlichen Lenkung des ETS wird ein zähes Ringen. Die Freien Demokraten lehnen eine Regulierung des CO2-Preises ab und wollen lediglich einmalig die Menge der Emissionsrechte auf dem Markt festlegen. Der Preis pro Tonne CO2 würde sich dann auf dem Markt ergeben.

Die Grünen befürchten zu starke Preisschwankungen und wollen einen Mindestpreis von 60 Euro pro Tonne ab 2023 und einen anschließenden Preisanstieg, der sich an den 2030er-Klimazielen Deutschlands orientiert. Ungenutzte Zertifikate sollen vom Markt genommen werden, um das Hedging und Bunkern von Emissionsrechten einzuschränken und die Industrie dazu zu bewegen, möglichst schnell klimaneutral zu werden. Der FDP geht dieser “Markteingriff” deutlich zu weit.

Nächster Knackpunkt: die Energiepolitik. Blauer und türkiser Wasserstoff ist für die FDP als Brückentechnologie kein Problem – wie auch für CDU/CSU. Die Grünen lehnen dies wiederum kategorisch ab und sehen darin eine Verzögerungstaktik für die Nutzung fossiler Energieträger. Sie wollen ausschließlich klimaneutralen grünen Wasserstoff. Womöglich würden die Grünen hier den Kürzeren ziehen, was für die Klimapartei nur schwer zu verkraften wäre.

Ein Randschauplatz, der aber aufgrund seiner öffentlichen Wirkung nicht unterschätzt werden sollte, ist die Forderung der Grünen nach einem generellen Tempolimit. Union und FDP lehnen das ab, könnten aber möglicherweise durch Kompromissbereitschaft an dieser Stelle höhere Forderungen ihrerseits an anderer Stelle durchsetzen. Klar ist aber: Alle Jamaika-Parteien müssten schmerzhafte Kompromisse eingehen, die nicht besonders gut bei ihren Wähler:innen und Parteimitgliedern ankommen werden.

Ampel-Koalition: Spielt die FDP mit?

Das Schreckensszenario der Konservativen, eine Links-Koalition, grenzt nach dem schwachen Abschneiden der Linken an Unmöglichkeit. Damit verlieren SPD und Grüne ein wichtiges Druckmittel auf die FDP, sich in Gesprächen über eine Ampel-Koalition kompromissbereit zu zeigen.

Nun, da R2G nahezu ausgeschlossen ist, ist die FDP das Zünglein an der Waage für eine Regierungsbildung unter SPD-Führung. Die FDP kann somit deutlich höhere Ansprüche stellen. Schlucken müsste sie in dieser Konstellation aber womöglich gewisse Zugeständnisse beim EU-Stabilitätspakt. Auch einen staatlich festgelegten CO2-Preis im Emissionshandelssystem (ETS) könnte sie wohl kaum verhindern. Dafür hätte sie die Chance, der Steuerpolitik aus dem Finanzministerium ihren Stempel aufzudrücken.

Schwieriger wird es bei der EU-Außengrenzpolitik. Die FDP will die Grenzschutzbehörde Frontex ausbauen, SPD und Grüne wollen das Asylrecht (Dublin III) reformieren, den Familiennachzug ausweiten und mehr Personal in den Botschaften, um Asylanträge schneller bearbeiten zu können. Doch da das Thema für die FDP keine gesteigerte Relevanz aufweist, dürfte sie sich wohl eher kompromissbereit zeigen.

Digitalpolitik: Nähe zwischen Grünen und FDP

Digitalpolitisch sind, wie schon bei Jamaika, gewisse Nähen zwischen Grünen und FDP unverkennbar, wenn es um das Verhältnis Staat-Bürger geht (Vorratsdatenspeicherung, Cybersicherheit). Allerdings wäre bei einer Ampel hier deutlich Spielraum: In der SPD hatten in der Vergangenheit zwar oft die Innenpolitiker das Sagen. Doch mit der neuen Bundestagsfraktion verschieben sich hier die Gewichte in Richtung digitalaffinerer, jüngerer Abgeordnete – was auch bei Sondierungen und Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielt.

In der Frage der adäquaten Marktregulierung sind SPD und Grüne nicht weit voneinander entfernt und wollen insbesondere den Googles und Amazons dieser Welt an den Kragen. Hier ist die FDP deutlich zurückhaltender, wenn es um Markteingriffe geht. Bei der Mindestbesteuerung, die gerade die großen Digitalkonzerne treffen soll, scheinen die drei Parteien nicht unüberbrückbar weit auseinander zu liegen. Da die entscheidenden Akteure nicht nur in Berlin sitzen, ließe sich das Thema weiterhin mindestens auf die OECD-Ebene delegieren.

Während die FDP ein Digitalministerium fordert, haben sich SPD und Grüne bisher skeptisch gegenüber einem eigenen Haus verhalten. Sollte dies aber als Verhandlungsmasse zur Überzeugung der Liberalen benötigt werden, spricht aus beiderlei Sicht wenig dagegen.

Beim Kohleausstiegstermin weisen die Wahlprogramme zwar Unterschiede auf: Die Grünen wollen bereits 2030 aus der Kohle aussteigen, die SPD will am bisherigen Ziel bis spätestens 2038 festhalten. Hier liegen ambitioniert klingende Kompromissformeln wie die eines schnellstmöglichen Ausstieges parat.

Die Grünen wollen das 2030-Ausstiegsziel durch einen entsprechenden CO2-Preis im Emissionshandel erreichen, sodass Kohlestrom unwirtschaftlich wird und die Energieunternehmen automatisch umsteigen, ohne dass das Kohleausstiegsgesetz angefasst wird. Das ist auch das Hauptanliegen der SPD, die verhindern will, dass weitere Milliarden Entschädigung an die Energiekonzerne fließen. Gegen einen schnelleren De-facto-Kohleausstieg als 2038 durch den ETS hätte Olaf Scholz sicherlich nichts. Und solange dieser über den Emissionshandel abgewickelt wird, wäre auch die FDP an Bord.

Intensiv dürften hingegen die Diskussionen um den Dekarbonisierungspfad der Bundesregierung werden. Beim Verkehr pocht die FDP auf Technologieoffenheit in allen Bereichen und will auch für Pkw E-Fuels und Wasserstoff förderfähig machen. SPD und Grüne wollen diese Energieträger nur für den Schwerlasttransport sowie Flug- und Schiffsverkehr – und beharren auf der E-Mobilität für die Straße. Der Verbrennermotor soll nach den Grünen bis 2030 Geschichte sein. Die SPD macht dazu keine genauen Angaben, möchte jedoch vor allem E-Autos auf die Straße bringen.

Hier werden die Liberalen jedoch nicht so schnell nachgeben, da sie den Fokus auf das E-Auto als Innovationsverbot betrachten und sich im Wahlkampf stets als die Innovations- und Anti-Verbots-Partei verstanden wissen wollten. Die Zukunft des Verbrenners könnte daher einer der zentralen Knackpunkte bei den Gesprächen zwischen FDP und Grünen werden, unabhängig davon, ob sie sich im Anschluss in eine Regierung mit Olaf Scholz oder Armin Laschet begeben. Lukas Scheid/Falk Steiner

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Brüssel mahnt Berlin zu Eile

Während die EU-Institutionen sich mit Äußerungen zur Wahl zurückhalten, werden Europapolitiker deutlicher. Viel diskutiertes Thema ist bereits jetzt die französische Angst vor der FDP. Und alle hoffen auf eine schnelle Regierungsbildung in Berlin.

In den EU-Institutionen in Brüssel ist das deutsche Wahlergebnis verhalten aufgenommen worden. Es sei gut, dass die Mehrheit für europafreundliche Parteien gestimmt habe, hieß es in EU-Kreisen. Doch nun müssten sich die Politiker mit der Regierungsbildung beeilen, damit kein Vakuum entstehe und die Arbeit ohne Verzug weitergehen könne (Europe.Table berichtete). 

Ungewöhnlich zugeknöpft zeigte sich die EU-Kommission. Die Behörde, die von der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen geführt wird, wollte sich am Montag nicht äußern. Man kommentiere Wahlergebnisse grundsätzlich nicht, sagte eine Sprecherin. Erst wenn der Nachfolger von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) feststehe, werde man gratulieren.

Schweigen auch im Ratsgebäude. Ratspräsident Charles Michel enthielt sich jeden Kommentars. Im Kreis der 27 EU-Staaten geht man davon aus, dass Merkel beim nächsten Europäischen Rat Ende Oktober noch die Geschäfte führt. Solange nicht klar ist, wer ihr Nachfolger wird, hält sich Michel – der die EU-Gipfel organisiert – bedeckt.

Ganz anders das Europaparlament. Dessen Präsident David Sassoli, ein Sozialist, beglückwünschte den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. “Europa braucht einen starken und verlässlichen Partner in Berlin, damit wir unsere gemeinsame Arbeit für eine soziale und grüne Erholung fortsetzen können”, schrieb Sassoli auf Twitter. Allerdings müsse es nun schnell vorangehen in Berlin: “Nach dieser historischen Krise gibt es keine Zeit zu verlieren”, so der Italiener mit Verweis auf die Corona-Pandemie.

“Chance auf andere Europapolitik”

Aufs Tempo drücken auch die Europaabgeordneten. Sie äußern sich gemäß ihrer Parteipräferenzen und werben dabei für mögliche Regierungskoalitionen. “In einem SPD-geführten Regierungsbündnis ergibt sich jetzt die Chance auf eine andere Europapolitik”, sagte Jens Geier, der Chef der SPD-Europaabgeordneten. “Wir wollen eine ökosoziale Transformation, die Industrie braucht klare Vorgaben, wir werden uns daher für eine aktive europäische Industriepolitik einsetzen.”

Die Grünen verlangten eine ehrgeizige Klimapolitik. Das Klima dürfe jetzt nicht mehr nur auf Wahlplakaten vorkommen, sagte der Sprecher der Grünen, Sven Giegold. Man habe mehr mit der SPD gemeinsam, könne sich aber auch eine gute Zusammenarbeit mit der FDP vorstellen. Als Beispiele nannte er die Digitalisierung, die Bürgerrechte und die Außenpolitik.

Seine dänische Parteifreundin Kira Marie Peter-Hansen, mit 23 Jahren jüngste Europaabgeordnete, begrüßte das Wahlergebnis: Es zeige, dass Deutsche bereit für neue politische Kräfte seien, die die Klimakrise angehen und dabei nicht die sozialen Aspekte vergessen. “Das ist ein Mandat für Veränderung”, fügte sie hinzu. “Und das wird schwierig, wenn die Union mit in der Regierung sitzt.”

Die Euphorie von Peter-Hansen teilt Philippe Lamberts nicht. Der Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion hatte auf ein deutlich besseres Ergebnis der Grünen gehofft. “Und in Umweltfragen ist die SPD oft nicht besser als die Union, auch wenn sie etwas anderes behaupten.” Daran, dass die SPD wie im Wahlprogramm beschrieben für eine “echte Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion” eintreten werde, hat der Belgier angesichts der deutschen Schuldenbremse ebenfalls starke Zweifel.

Mehr Ehrgeiz versprach Nicola Beer von der FDP. “Europa hat im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt”, kritisierte die Vizepräsidentin des Europaparlaments (Europe.Table berichtete). Diese Lücke wollten die Liberalen nun schließen – gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: “Jene, die eine französische Angst hinaufbeschwören gegenüber einer FDP in Regierungsverantwortung, denen sei versichert: Auf europäischer Ebene arbeiten FDP und Macrons Partei längst erfolgreich an einem Tisch”. 

Furcht vor Jamaika-Bündnis

Frankreichs Europa-Staatssekretär Clément Beaune hatte schon am Montagmorgen im französischen Fernsehsender France 2 erklärt, dass er sich wegen der FDP Sorgen mache. “Mit den Liberalen würde es komplizierter werden”, sagte Beaune. Die Befürchtung sei, so der Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep) in Paris, Julien Thorel, dass FDP-Chef Christian Lindner als Bundesfinanzminister strenger über die Einhaltung der Maastrichter Verschuldungskriterien wache als Amtsinhaber Scholz.

Sehr deutlich formuliert diese Sorge die französische Europaabgeordnete Sylvie Guillaume (S&D). Sie befürchtet, dass die FDP in einer Ampel-Koalition bei der Reform des Stabilitätspaktes bremsen würde. Ein Jamaika-Bündnis wäre aus ihrer Sicht aber das größere Übel: “Deutschland würde mit diesem Bündnis zurück in die Austerität gleiten, sich den ‘Frugalen Vier’ anschließen und der europäischen Solidarität den Rücken kehren”.

Jean-Dominique Giuliani, Präsident Robert Schuman Stiftung in Paris, hält der FDP vor, eine “etwas altmodische Position” zu vertreten: Viele Ökonomen seien mittlerweile der Ansicht, dass die Wachstumsschwäche in Europa auch auf zu restriktiven Budgetregeln und der Geldpolitik beruhe. “Die FDP muss zeigen, dass sie nicht im Jahr 2008 verhaftet bleibt”, mahnt er.

“Alle Parteien sind Pro-Europäer”

Beaune stellt aber klar, dass er auf Kontinuität in der deutschen Europapolitik setze. “Ich fürchte mich nicht vor dem Wechsel, alle Parteien sind Pro-Europäer.” In gewisser Weise hätten die Deutschen weiterhin Merkel gewählt. Zudem äußerte er die Hoffnung, dass es bis spätestens Ende des Jahres zu einer Koalition in Deutschland kommen werde. 

Auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hofft, dass die neue Bundesregierung bis Weihnachten steht. Ansonsten drohe Europa “eine lange Phase der Untätigkeit“, warnte er in der “Neuen Osnabrücker Zeitung”. Wegen wichtiger Weichenstellungen in der Klimapolitik und im Streit mit Polen und Ungarn um die Rechtsstaatlichkeit könne es sich die EU nicht leisten, dass wichtige Länder ausfielen. 

Aufs Tempo drückt auch Rainer Wieland, Präsident der überparteilichen Europa-Union Deutschland. Europa brauche “ein handlungsfähiges Deutschland, das wieder eine proaktive Rolle im europäischen Integrationsprozess einnimmt”. Berlin müsse mehr Verantwortung für Europa zeigen. “Europapolitik ist Innenpolitik”, so Wieland. Eric Bonse/Jasmin Kohl/Tanja Kuchenbecker

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News

Lagarde: Inflationsschub nicht von Dauer

EZB-Chefin Christine Lagarde sieht trotz rasant gestiegener Preise keine Gefahr, dass die Inflation aus dem Ruder läuft. Es gebe zwar einige Faktoren, die die Teuerung stärker als erwartet hochtreiben könnten, sagte sie am Montag in einer Anhörung vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments. Dies gelte beispielsweise für den Einfluss der Lohnrunden. Weitere mögliche Preistreiber seien Lieferengpässe und hohe Energiekosten.

“Wir haben allen Grund zu glauben, dass dies keine dauerhaften Faktoren sind und sie sich insbesondere im Laufe des Jahres 2022 verringern werden“, betonte Lagarde. Die Bundesbank erwartet allerdings bis weit ins kommende Jahr hinein eine erhöhte Inflation in Deutschland. Die Volkswirte der deutschen Zentralbank gehen davon aus, dass ab September bis zum Jahresende vorübergehend sogar Teuerungsraten zwischen vier und fünf Prozent möglich sein werden. Bis zur Jahresmitte 2022 werde sie voraussichtlich noch über zwei Prozent liegen.

Bundesbankchef Jens Weidmann hatte gemahnt, die EZB sollte die Gefahr einer zu hohen Inflation nicht aus den Augen verlieren. Angebotsengpässe könnten zusätzliche Preisschübe auslösen. Die EZB geht laut Lagarde in ihrem Basis-Szenario weiter davon aus, dass die Inflation mittelfristig unter dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent bleiben werde. Für 2021 wird eine Teuerungsrate von 2,2 Prozent unterstellt, die 2022 auf 1,7 Prozent fallen soll. Im Dezember werden die Vorhersagen allerdings wieder aktualisiert.

Die Inflationsrate in der Euro-Zone kletterte zuletzt auf 3,0 Prozent nach oben und erreichte den höchsten Stand seit zehn Jahren. Manche EZB-Währungshüter denken laut Insidern aber schon über ein Auslaufen des Corona-Krisenprogramms im Frühjahr nach. Jüngste Daten bestärkten die Skeptiker im Führungskreis der EZB demnach darin, dass die Teuerung nächstes Jahr entgegen der Erwartungen nahe oder über der Zwei-Prozent-Marke liegen könnte. Dies liefere weitere Argumente für ein Aus des in der Corona-Krise eigens geschaffenen Anleihen-Ankaufprogramms PEPP Ende März. rtr

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Google wehrt sich vor Gericht gegen Rekordstrafe

Google wehrt sich vor Gericht gegen die 2018 verhängte Rekord-Kartellstrafe und verweist auf den Rivalen Apple. “Die Kommission hat die Augen vor der wahren wettbewerbsrechtlichen Dynamik in dieser Industrie verschlossen – der zwischen Apple und Android“, sagte Google-Anwalt Matthew Pickford vor dem Gericht der Europäischen Union am Montag in Luxemburg zu Beginn einer fünftägigen Anhörung. Die Kartellwächter hätten die Bedeutung Googles überschätzt. Stattdessen sei Android ein Paradebeispiel für funktionierenden Wettbewerb.

Die Europäische Kommission hatte den US-Konzern vor drei Jahren wegen illegaler Praktiken beim Handy-Betriebssystem Android zur Zahlung von 4,3 Milliarden Euro verdonnert. Zur Begründung hieß es, die Alphabet-Tochter habe etwa Smartphone-Herstellern und Mobilfunknetzbetreibern seit 2011 unzulässige Vorschriften für die Verwendung von Android gemacht und verlangt, bestimmte Google-Apps vorzuinstallieren. Das ficht Google nun an.

Kommissionsanwalt Nicholas Khan verwies darauf, dass Apple eine untergeordnete Rolle spielt und mit iOS im Vergleich zu Android auf einen kleinen Marktanteil kommt. Zugleich betonte er, Googles Vorgehen habe auf den Ausschluss von Wettbewerbern abgezielt.

Aktuell ist auf vier von fünf Smartphones weltweit Android installiert. Die mündliche Anhörung ist für die gesamte Woche angesetzt. Ein Urteilsspruch könnte im kommenden Jahr kommen. rtr

  • Digitalpolitik
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  • Margrethe Vestager

Vălean wirbt für Verbrenner-Aus

Bei einer Debatte im Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments verteidigte Verkehrskommissarin Adina Vălean die Fit-for-55-Pläne der Kommission, darunter die Vorschläge für den Ausbau der Ladeinfrastruktur und für die Förderung alternativer Kraftstoffe. Vălean plädierte außerdem klar für die Ausweitung des EU-Emissionshandels auf den See- und Straßenverkehr sowie für die schrittweise Abschaffung des Verbrennungsmotors.

Die Abgeordneten stellten die vorgeschlagenen Wege teils infrage, etliche forderten besonders für den Straßenverkehr mehr Technologieoffenheit, statt nur auf Elektromobilität zu setzen. Auch die konkreten Vorgaben hinsichtlich der Distanz zwischen Ladestationen seien nicht ausreichend durchdacht. Hier müssten regionale Unterschiede, etwa bei der Bevölkerungsdichte, berücksichtigt werden. Vălean versprach mehr Flexibilität. Andererseits müsse die Bewegungsfreiheit und volle Mobilität innerhalb der EU sichergestellt werden.

Mehrere Abgeordnete forderten die Kommissarin zudem auf, die globale Dimension des grünen Wandels in den Vordergrund zu rücken und Vereinbarungen mit anderen Regionen der Welt zu treffen, um die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Verkehrssektors nicht zu gefährden. Außerdem müsse auch der soziale Aspekt, etwa beim ETS, stärker berücksichtigt und ein fairer Übergang gewährleistet werden. til

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Presseschau

End to freedom of movement behind UK fuel crisis, says Merkel’s likely successor GUARDIAN
US LNG exporters plan projects to capitalise on European shortages FT
Polen will Ausnahmezustand wegen Migranten an Grenze mit Belarus verlängern RND
Nato ruft Serbien und Kosovo zur Zurückhaltung auf SPIEGEL
1 person dead, buildings damaged as 5.8 magnitude earthquake strikes Greek island of Crete CNN
Lava from the La Palma volcano is approaching the Atlantic Ocean, as coastal areas are locked down CNN
EU envoys create 11th-hour hitch for transatlantic tech alliance POLITICO
Europäische Richter verhandeln über die Macht von Google – Apple dürfte genau hinhören HANDELSBLATT
Ermittlungen gegen Salvinis Social-Media-Chef wegen möglichem Drogenhandel MERKUR
Gebühren auch für ORF-Streaming geplant DERSTANDARD
Commission says Germany lags behind in reducing agriculture emissions EURACTIV

Standpunkt

Regierung muss Digitalpolitik zum Leitmotiv machen

Von Oliver Süme
Porträtfoto von Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender bei Eco - Verband der Internetwirtschaft e.V
Oliver Süme ist Vorstandsvorsitzender bei Eco – Verband der Internetwirtschaft e.V

Digitalpolitik müsse der rote Faden des Koalitionsvertrags sein, schreibt Oliver Süme, Eco-Vorstandsvorsitzender, im Standpunkt. Er fordert, die Koordinierung und Steuerung der digitalen Aufgaben in einem Digitalministerium zu bündeln.

Die Digitalisierung spielte im Wahlkampf in kaum einer Debatte eine Rolle. Und wenn, dann nur am Rande und sehr verengt auf wenige Aspekte. Dies mag verwundern angesichts aktueller repräsentativer Umfragen, die wir gemeinsam mit Civey im Rahmen unseres digitalpolitischen Wahlbarometers durchgeführt haben. Das Ergebnis: Rund 50 Prozent aller Bürger:innen in Deutschland messen dem Thema Digitalisierung einen großen bis sehr großen Einfluss auf ihren privaten und beruflichen Alltag bei.

Aber letztlich zeigt sich auch hier ein generelles Phänomen deutscher Politik, die häufig in Zustands- und Problembeschreibungen verharrt, anstatt konkrete Lösungsstrategien zu entwickeln und diese mit den passenden Instrumenten umzusetzen. Wäre Letzteres der Fall, käme praktisch keine aktuelle Politikdebatte um das Thema Digitalisierung herum, denn Digitalisierung – so meine feste Überzeugung – ist der Schlüssel zur Bewältigung nahezu sämtlicher großer Herausforderungen, denen wir uns in den kommenden Jahren stellen müssen. 

Ich appelliere daher dringend an alle Parteien, das Thema Digitalisierung in den Mittelpunkt ihrer Koalitionsverhandlungen zu stellen und zum Leitmotiv künftiger Regierungspolitik zu machen und möchte dies am Beispiel einiger zentraler Fragestellungen, die diese Dekade prägen werden, verdeutlichen:

Die Bewältigung des Klimawandels und der Umgang mit Ressourcen dürfte eine der größten, wenn nicht DIE zentrale Herausforderung für die kommenden Jahre sein. Der Erhalt eines lebenswerten Planeten für künftige Generationen kann nur gelingen, wenn wir Mittel und Wege finden, ressourcensparender, energieeffizienter und insgesamt nachhaltiger zu wirtschaften.

Digitalisierung ist in diesem Kontext eindeutig Teil der Lösung und nicht Teil des Problems. Natürlich steigt der Energiebedarf bei zunehmendem Datenverkehr und zunehmender digitaler Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft. Aber die Energieeffizienz bei der Speicherung und Verarbeitung von Daten hat sich in den vergangenen Jahren seitens der Betreiber digitaler Infrastrukturen deutlich verbessert. Nur leider ist der verfügbare Energiemix in Deutschland weiterhin von fossilen Energieträgern geprägt, und das ist ein Problem der bisherigen Energiewendepolitik der letzten Regierungen.

Gamechanger für Gelingen der Klimawende

Aktuelle Studien gehen davon aus, dass digitale Technologien schon jetzt dabei helfen, jede fünfte Tonne an CO2 einzusparen. Digitalisierung könnte zum Gamechanger für das Gelingen der Klimawende werden, wenn sie von Anfang an in energie- und wirtschaftspolitische Strategien integriert wird. Die Nachhaltigkeitspotenziale digitaler Technologien für den Klimawandel müssen genutzt werden. Voraussetzungen dafür sind: 

  • Ein vorgezogener Kohle-Ausstieg bis 2030 sowie der Ausbau erneuerbarer Energie angesichts des im European Green Deal formulierten Ziels, dass Rechenzentren bis 2030 klimaneutral sein sollen.
  • Der rasche und flächendeckende Ausbau von Gigabitnetzen wie Glasfaser angesichts der enormen Energieeinsparpotenziale gegenüber Kupfer.
  • Die Einbeziehung der von Rechenzentren erzeugten Abwärme in städtische Wärmekonzepte.

Wirksame Klimaschutzpolitik wird nur gelingen, wenn Digitalisierung und Nachhaltigkeit künftig zusammen gedacht werden.

Wir brauchen einen modernen und wettbewerbsfähigen Rechtsrahmen für digitale Geschäftsmodelle, der Innovationen und Investitionen ermöglicht. Ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt ist stärker als seine 27 Teilmärkte und bietet Unternehmen mit einem Markt von rund 450 Millionen Einwohnern eine hervorragende Ausgangslage und Möglichkeiten für wirtschaftlichen Erfolg Europas im internationalen Wettbewerb. Voraussetzung dafür sind jedoch einheitliche Rahmenbedingungen.

Nur wenn unter Regulierungsbehörden ein konsistentes Vorgehen besteht, wenn für Unternehmen klare Zuständigkeiten existieren und wenn nicht die Größe einer Rechtsabteilung über den Erfolg eines Unternehmens in Europa bestimmt, können auch europäische Start-ups und KMU in Bereichen wie Telekommunikation oder Cloud konkurrenz- und wettbewerbsfähig in einem globalen Umfeld bestehen. Deshalb ist ein gemeinsamer europäischer Ansatz essenziell.

Auf europäischer Ebene stehen unter anderem mit dem Digital Services Act und Digital Markets Act wichtige Vorhaben an. Diese werden nicht nur den europäischen digitalen Binnenmarkt für die nächsten Jahrzehnte entscheidend prägen, sondern auch den Rechtsrahmen für die digitale Wirtschaft in Deutschland vorgeben. Bei diesen zentralen digitalpolitischen Debatten muss Deutschland auf nationaler und europäischer Ebene handlungsfähig sein und klare Positionen vertreten. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union und muss mit seiner Stimme in Brüssel für die Vollendung des digitalen Binnenmarktes eintreten.

Nachholbedarf bei der digitalen Bildung

Nicht erst seit Corona wissen wir, dass Deutschland beim Thema Bildung und insbesondere beim Thema digitale Bildung weltweit zu den Schlusslichtern zählt. Die Auswirkungen davon bekommt die Wirtschaft bereits jetzt zu spüren. Aktuelle Studien gehen von über 80.000 fehlenden Fachkräften im Bereich IT aus und prognostiziert, dass sich dieser Mangel bis 2030 weiter verschärfen wird. 

Für den Digitalstandort Deutschland, aber auch für die erfolgreiche digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist es essenziell, die Vermittlung digitaler Kompetenzen in allen Schulformen zum festen Bestandteil der Lehrpläne zu machen. Dabei ist es nicht mit der technischen Ausstattung der Schulen getan. Die Politik muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die vorhandene Technik in den Schulen verwendet werden kann und Lehrer:innen im Rahmen ihrer Ausbildung dazu befähigt werden, digitale Kompetenzen zu vermitteln.

Die künftige Bundesregierung muss in diesem Kontext auch in Erwägung ziehen, im Bereich Bildungspolitik dem Bund mehr Kompetenzen zu geben und föderalistische Strukturen aufzubrechen und so zumindest ein einheitliches Niveau digitaler Kompetenzen in ganz Deutschland und allen Schulen zu gewährleisten. 

Die Digitalisierung ist ein strategisches Querschnittsthema, das ressortübergreifend gedacht werden muss. Neben zahlreichen Detailregelungen, die in den entsprechenden Fachressorts behandelt werden, gibt es übergeordnete zentrale Fragestellungen zum Umgang mit Daten, Diensten und Netzen, die einer klaren, effizienten und stringenten Regulierung bedürfen. Besonders sichtbar wird dies zum Beispiel auch beim aktuellen Umgang mit Datacentern und Initiativen wie GAIA-X.

Auch hier zeigt sich, dass es einer konsistenten und agilen Digitalpolitik aus einem Guss bedarf. Wir brauchen ein zentrales Digital-Ressort, das die großen Linien einer digitalen Agenda im Blick behält, die Fäden zusammenführt, und über die Kompetenzen sowie budgetären und personellen Ressourcen verfügt, ressortübergreifend digitalpolitische Maßnahmen von strategischem Interesse für die Bundesregierung umzusetzen. Nur so lassen sich das Kompetenzgerangel und die Inkonsistenz der letzten Jahre im Bereich Digitalpolitik verhindern.

Nur wenn wir die Chancen und Potenziale der Digitalisierung konsequent nutzen, kann Deutschland die Herausforderungen der kommenden Jahre – seien es der Strukturwandel der Wirtschaft, der demografische Wandel oder die Energiewende – erfolgreich bewältigen. 

Die digitale Transformation ist in vollem Gange und duldet keinen weiteren Aufschub. Ich appelliere daher an alle Parteien, die jetzt anstehenden Sondierungsgespräche nicht unnötig in die Länge zu ziehen, sondern zügig eine handlungsfähige Regierung zu bilden.

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Apéropa

Fast hätte Island Geschichte geschrieben: Nach der Parlamentswahl sah es zunächst so aus, als werde der Inselstaat das erste europäische Land sein, in dessen Parlament mehr Frauen als Männer sitzen. Doch die Nachzählung ergab: Es reichte dafür nicht ganz. 

Immerhin: Knapp über 47 Prozent beträgt künftig der Anteil der Frauen im Althing, dem isländischen Parlament. Eine Zahl, die in Deutschland eine Sensation wäre. 

Zwar sitzen im künftigen Bundestag voraussichtlich mehr weibliche Abgeordnete als in den vergangenen vier Jahren. Das zeigt die vorläufige Sitzverteilung, die das Parlament am Montag veröffentlichte. Doch mit fast 35 Prozent Frauenanteil ist der Bundestag noch weit von Geschlechtergerechtigkeit entfernt – anders als etwa Ruanda

Deutliche Unterschiede gibt es dabei in den einzelnen Fraktionen. Beispiel Union: Unter den insgesamt 196 Abgeordneten sind sage und schreibe 46 Frauen.

Wollte man sich aus dieser für die deutsche Politik peinlichen Angelegenheit herausreden, schien es naheliegend, auf die Kanzlerin zu verweisen. Doch die Zeiten, in denen eine Frau die mächtigste Person im Land ist, sind nun erst mal vorbei. Und als ernsthaftes Argument hat dieser Verweis sowieso nie getaugt.

Merkel selbst sagte dazu, ganz im merkeltypischen Satzbau: “Aus der Tatsache, dass es mich gibt, da darf kein Alibi draus werden.” Sarah Schaefer

Europe.Table Redaktion

EUROPE.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Juncker: SPD sollte Regierung bilden
    • Termine der kommenden Tage
    • Knackpunkte bei den Sondierungen für Ampel oder Jamaika
    • Brüssel mahnt zur Eile
    • Lagarde: Inflation nicht von Dauer
    • Google wehrt sich gegen Rekordstrafe
    • Vălean wirbt für Verbrenner-Aus
    • Forderungen von Eco-Chef Süme an neue Regierung
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    nach der Bundestagswahl sortieren sich die Parteien, und zwar, je nach Abschneiden, mehr oder weniger geräuschvoll. Die FDP hat ihr Team schnell benannt, Parteichef Christian Lindner und Generalsekretär Volker Wissing wollen bis Ende der Woche Vorsondierungen mit den Grünen aufnehmen. Dort versicherte der Ko-Vorsitzende Robert Habeck, die Parteiführung sei bereits “komplett sortiert”. Habeck selbst hat dabei die Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der internen Rangordnung überholt, jedenfalls wenn man den Redeanteil bei der gemeinsamen Pressekonferenz als Maßstab nimmt.

    Die Spitzen von FDP und Grünen sprechen aber auch mit den anderen möglichen Koalitionspartnern Olaf Scholz und Armin Laschet, wenn auch vorerst nur in losen Formaten. Man wolle alle Optionen ausloten, sagte Habeck, es spreche aber “einiges dafür, dass es eher die Ampel wird“. Für die Sozialdemokraten soll ein sechsköpfiges Team um Scholz und die Parteivorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans erste Gespräche führen.

    Während sich die anderen formieren, kämpft Armin Laschet um sein politisches Überleben. Die vage Aussicht, mithilfe von FDP und Grünen doch noch die Regierung bilden zu können, hält ihn zwar im Amt, trotz aller Kritik aus den eigenen Reihen. Aber die erste Fraktionssitzung an diesem Dienstag birgt Sprengkraft. Laschet musste seinen eigenen Ambitionen auf den Posten des Fraktionsvorsitzenden am Montag abschwören, nachdem Amtsinhaber Ralph Brinkhaus im Parteipräsidium protestiert hatte. Doch geklärt war die Personalie damit noch nicht. Der einflussreiche Posten könnte andere Bewerber anlocken und einen offenen Machtkampf entzünden.

    In Brüssel und anderen Hauptstädten nährt die schwierige Gemengelage die Sorge, dass es noch einige Monate dauern könnte, bis die neue Regierung in Berlin steht. Der frühere Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mahnt im Interview: “Eine lange Hängepartie ist nicht angebracht.” Mit Blick auf den nahenden Abschied von Angela Merkel wird Juncker ein wenig sentimental, wenn er sagt: “Wer lange dabei war, der verschwindet nie ganz.”

    Ihr
    Till Hoppe
    Bild von Till  Hoppe

    Analyse

    Jean-Claude Juncker: “Eine Hängepartie ist nicht angebracht”

    Herr Juncker, hat die Union einen Anspruch darauf, die Regierung zu bilden?
    Ich bin der Meinung, dass man die stärkste Partei nicht umgehen sollte. In diesem Fall ist das die SPD. Sie hat deutlich zugelegt, während die Union deutlich verloren hat.

    Raten Sie CDU/CSU den Wechsel auf die Oppositionsbank?
    Da halte ich mich heraus. Mein Arm ist lang, aber er reicht nicht bis hin zur deutschen Regierungsbildung.

    Wie schätzen Sie die Rolle von Grünen und FDP ein?
    Wir müssen abwarten, was bei den Gesprächen zwischen Grünen und FDP herauskommt. Beide Parteien müssen große programmatische Divergenzen überwinden. Wenn sie das schaffen, dann sind sie in einer Position der Stärke. Sie können sich an die Partei wenden, mit der sie am liebsten koalieren. Ob es die SPD oder die CDU/CSU wird, steht in den Sternen.

    Olaf Scholz und Armin Laschet haben den Wunsch ausgedrückt, die Regierungsbildung noch in diesem Jahr abzuschließen. Halten Sie das für realistisch?
    Es wäre jedenfalls gut, wenn die Sondierungsgespräche so schnell wie möglich über die Bühne gingen. Eine lange Hängepartie ist nicht angebracht. Wir brauchen in Europa eine handlungsfähige deutsche Regierung.

    Wie wird die zukünftige Regierung die EU-Politik beeinflussen?
    Ich denke, da wird sich auch mit einem Kanzler Scholz nicht viel verändern. Manche glauben, alles werde anders, wenn ein Sozialdemokrat an die Macht kommt. Aber das wird auch diesmal nicht passieren. Es dürfte Deutschlands Nachbarn beruhigen, dass sowohl Laschet als auch Scholz pro-europäisch eingestellt sind.

    Ob Jamaika oder Ampel-Koalition macht also europapolitisch kaum einen Unterschied?
    Der Unterschied zwischen SPD und CDU in der Europapolitik war noch nie sehr groß. In den vergangenen Jahren war die SPD in der Regierung. Sie hat den Vizekanzler gestellt und hatte alle Möglichkeiten, die deutsche Europapolitik umzuorientieren, hätte sie den Willen dazu gehabt. Das ist aber nicht passiert. Wieso sollte sie das also jetzt tun? Ich sehe nicht, dass Deutschland jetzt auf einmal einen ganz neuen Kurs einschlägt.

    Mehr europäische Integration, etwa in puncto Finanz- und Steuerpolitik, eine kulantere Haltung beim Stabilitätspakt, weitere Schritte in Richtung gemeinsamer Schulden – darauf hoffen einige in der EU. Sie sagen, nach der Ära Merkel bleibe alles wie gehabt. Es gibt ja ein europäisches Wiederaufbauprogramm mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, dank gemeinsamer Schuldenaufnahme. Ich glaube nicht, dass ansonsten viel passieren wird. Im Wahlkampf hat Olaf Scholz schließlich mehrmals gesagt, dass man keinen neuen Kurs in der europäischen Schuldenpolitik einschlagen sollte. Die Grünen sind zwar anderer Meinung. Die FDP aber glaubt an einen sturen orthodoxen Finanzdeal. Es scheint mir nicht so, als gebe es hier viel Spielraum. Vielleicht kommt es beim Stabilitätspakt zu ein paar neuen Flexibilitäten. Fundamentale Änderungen werden aber nicht kommen.

    Was wäre Ihre Wunschliste an die künftige Bundesregierung?
    Der deutsche Einfluss auf die Europapolitik ist groß. Er darf aber auch nicht überschätzt werden. Deutschland ist nicht allein. Der neue Bundeskanzler muss ebenso eine Balance finden zwischen den nationalen Interessen und dem europäischen Ganzen wie Angela Merkel.

    Im Wahlkampf hat Europa kaum eine Rolle gespielt.
    Europa hat keine Rolle gespielt, weil über Europa nicht gestritten wird. Es gibt kaum europapolitische Unterschiede zwischen den Parteien, auch nicht bei der FDP. Das ist ein Unterschied zu den Franzosen. Emmanuel Macron hat 2017 einen sehr pro-europäischen Wahlkampf geführt, und er hält daran fest. In Frankreich gibt es eine viel größere Absetzbewegung zur EU.

    Es ist nicht mehr lange hin bis zu den französischen Präsidentschaftswahlen. Ist das die eigentliche Schicksalswahl für Europa?
    Ich finde Frankreichs Politlandschaft schwierig einzuschätzen – allein schon deshalb, weil Macron über keine Partei im klassischen Sinne verfügt. Aber er steht deutlich für Europa. Andere haben Bedenken. Im französischen Wahlkampf müssen wir die Debatte über die europäische Integration genaustens im Auge behalten.

    Es wird oft gesagt, dass Ursula von der Leyen im Schatten der Bundeskanzlerin stand, sich vielleicht sogar weiter als ihre Ministerin verstand. Kann sich die Kommissionspräsidentin jetzt freischwimmen?
    Der Kommissionspräsident ist nicht da, um nationale Interessen zu vertreten. Ich habe das nie gemacht. Jeder einzelne Präsident vor mir und nach mir muss das Europäische im Blick haben. Das muss die Priorität von Frau von der Leyen bleiben.

    Im Europäischen Rat wird Angela Merkel ein großes Vakuum hinterlassen. Welche Dynamik ist bei den nächsten EU-Gipfeln zu erwarten?
    Deutschland war nie in einer Position, in der es alleine entscheiden konnte, was in Europa passiert. Sogar zusammen mit den Franzosen konnte es nicht agieren, wenn andere Partnerländer sich nicht in die gleiche Richtung bewegten. Ich sehe kein Vakuum, schließlich gibt es einen neuen Bundeskanzler. Der vertritt die größte Volkswirtschaft der EU und das Land mit den meisten europäischen Nachbarn. Darauf gilt es Rücksicht zu nehmen.

    Welchen Kurs gilt es denn gegenüber Viktor Orbán und Co einzuschlagen? Frau Merkel hat versucht, den Graben nicht zu groß werden zu lassen.
    Niemand gewinnt, wenn der Graben noch breiter wird. Aber es ist an Ungarn, Polen und Co, Brücken zu schlagen. Es ist nicht an den anderen EU-Partnern, ihre Haltung und ihre Politik radikal zu ändern, sei es in puncto Rechtsstaatlichkeit oder Flüchtlingspolitik.

    Wird sich die europäische Außenpolitik nach Merkel verändern, etwa gegenüber Russland?
    Russland gehört zur europäischen Sicherheitskarte. Es ist unser großer Nachbar. Man muss versuchen, die Verhältnisse so normal wie möglich zu gestalten, ohne aber die Kritik an Putins Handeln zu minimieren, etwa bezüglich der Krim und der Ostukraine. Dennoch: Ich wünsche mir, dass es wieder zu einem kontinuierlichen Dialog kommt, ohne dass die EU von ihren Werten absieht.

    Und China?
    In der Chinapolitik könnten sich die Nuancen jetzt eventuell verschieben. Die Grünen waren immer sehr chinakritisch und haben auch Angela Merkels Chinapolitik kritisiert. Aber auch das sind europäische Fragen, die Deutschland nicht alleine klären wird. Sie müssen engstens mit den europäischen Partnern abgestimmt werden.

    Nach Donald Trump hatte man gehofft, dass sich die EU wieder auf die USA als starken Partner verlassen kann. Doch die Vereinigten Staaten scheinen ganz gut ohne Europa auszukommen.
    Ich habe mit vier US-Präsidenten zusammengearbeitet. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie Europa entweder näher treten oder sich abwenden. Joe Biden gehört zu Ersteren. Dennoch: Die US-amerikanischen Interessen werden immer im Mittelpunkt stehen. Es braucht weitere Gespräche mit Biden, um die transatlantische Allianz zu reanimieren. Um das zu schaffen, braucht es starke Reanimationsmaßnahmen.

    Frau Merkel tritt nach 16 Jahren von der nationalen und europäischen Bühne ab. Sie haben das bereits getan. Welchen Ratschlag haben Sie an Frau Merkel?
    Ich hatte erst Donnerstag ein langes Telefonat mit Frau Merkel. Sie hat ja noch keine konkreten Zukunftspläne. Aber sie will weiterhin in der europäischen Landschaft präsent bleiben, ohne aber ein europäisches Amt zu übernehmen. Wer lange dabei war, der verschwindet nie ganz.

    • Angela Merkel
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    Termine

    29.09.2021 – 02:30-10:45 Uhr, online
    FG, Conference Third Data Privacy Conference USA
    The Forum Global (FG) 3rd Annual Data Privacy Conference USA will gather thought leaders, legislators, the public and private sectors, and civil society representatives to discuss issues relating Data Privacy in the US and Europe. INFOS & REGISTRATION

    29.09.2021 – 10.00-14.50 Uhr, online
    ZVEI, Konferenz Digitale Ökosysteme für die Industrie
    Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) thematisiert die Entstehung eines globalen digitalen Ökosystems und die damit einhergehenden Wachstumspotenziale für Unternehmen. INFOS & ANMELDUNG

    29.09.2021 – 10:00-11:00 Uhr, online
    BA, Seminar Von Menschen und Maschinen – Grenzen der künstlichen Intelligenz
    Die Veranstaltung der Bitcom Akademie (BA) beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von KI im Unterschied zu den kognitiven Fähigkeiten des Menschen in Entscheidungssituationen und sozialer Interaktion. INFOS & ANMELDUNG

    29.09.2021 – 11:00-12:00 Uhr, online
    Eurelectric, Panel Discussion Power Barometer: How can the EU power sector get Fit for 55?
    This Eurelectric panel discussion addresses the potential contributions of the power sector to the decarbonization ambitions of the European economy. INFOS & REGISTRATION

    29.09.2021 – 13:00-14:00 Uhr, online
    Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union, Seminar Klimaschutz tanken in der Land- und Forstwirtschaft – welchen Rahmen setzt das Beihilferecht?
    Die Veranstaltung der Vertretung des Freistaates Bayern bei der Europäischen Union beschäftigt sich mit dem Einfluss des Beihilferechts auf die Möglichkeiten des Klimaschutzes in Land- und Forstwirtschaft. INFOS & ANMELDUNG

    30.09.-01.10.2021, online
    Handelsblatt, Konferenz KI Summit
    Der KI Summit des Handelsblatts beschäftigt sich mit den verschiedenen Dimensionen von KI und ihrem Verhältnis zu Innovationen in Deep Tech, Industrie und Mittelstand. INFOS & ANMELDUNG

    30.09.2021-10:00-12:00 Uhr, online
    EEX, Seminar Marktzugang zur Teilnahme am nationalen Emissionshandel
    Der European Energy Exchange (EEX) informiert anlässlich des Starts der Verkäufe von nEHS-Zertifikaten am 5. Oktober über Marktzugänge und Angebote. Zugangslink zum Seminar

    30.09.2021 – 14:00-16:00 Uhr, online
    DE, Discussion Build Back Smarter: the digital potential of the Energy Performance of Buildings Directive
    Digital Europe (DG) will gather experts in order to discuss the interdependence of the digital transformation, the innovation of building value chains and the European climate targets. INFOS & REGISTRATION

    Jamaika oder Ampel: Knackpunkte bei den Sondierungen

    In den vergangenen Wochen hat Europe.Table die Wahlprogramme der vier Parteien analysiert, die nun für die nächste Bundesregierung infrage kommen (und zwar hier: CDU/CSU, FDP, Grüne, SPD). Dabei haben wir uns vor allem auf die Standpunkte bei klima-, digital- und europapolitischen Fragen fokussiert. Diese könnten nun bei den Sondierungen und den anschließenden Koalitionsverhandlungen für ordentlich Reibung sorgen.

    Jamaika-Koalition: Grüne brauchen Erfolge

    Ein potenzielles Konfliktfeld in Jamaika-Verhandlungen ist die künftige europäische Finanzpolitik: Die Grünen dringen, ebenso wie Frankreich (Europe.Table berichtete), auf mehr Spielraum für Investitionen in den Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. Gerade die FDP hat beim Stabilitäts- und Wachstumspakt in der Vergangenheit aber wenig Spielräume signalisiert. In der Union ist das Stimmungsbild nicht ganz so klar: Während Armin Laschet offen ist für Ausnahmen für Klimaschutzausgaben, finden sich gerade in der Fraktion viele Hardliner.

    In der Digitalpolitik gibt es wiederum größere Schnittmengen zwischen den Grünen und den Liberalen: Zwar haben sie ein unterschiedlich ausgeprägtes Verständnis von Marktregulierung – hier liegen Unionsparteien und Grüne etwas näher beieinander. Aber bei der Datenpolitik, insbesondere beim Datenschutz im Verhältnis zur inneren Sicherheit, ziehen FDP und Grüne grundsätzlich an einem Strang. Auch bei den Konzepten zur Cybersicherheit gibt es deutlich mehr grün-gelbe Schnittmengen als schwarz-grüne oder schwarz-gelbe.

    Derweil liegen mit ihrer Forderung nach einem Digitalministerium FDP und Unionsparteien auf einer Linie. Hier sind die Grünen skeptisch und würden es kaum in Unionshand sehen wollen. Primär jedoch hinge die Errichtung wohl von der Zahl der zur Zufriedenheit aller Beteiligten notwendigen Ministerposten ab.

    Eng mit den Digitalthemen verknüpft ist eine eher überraschende grün-gelbe Gemeinsamkeit: Beide befürchten eine wirtschaftliche und technologische Übermacht Chinas, beide sind sehr viel kritischer gegenüber der Volksrepublik eingestellt, als die Unionsparteien dies bislang waren. Die FDP zieht daraus vor allem den Schluss, mehr Freihandelsabkommen mit demokratischen Staaten zu schließen. Die Grünen sehen hier vor allem Maßnahmen wie Haftung entlang der Lieferketten als nötig an, die von gelb-schwarzer Seite als problematisch erachtet werden.

    In anderen Themen müssten FDP, CDU und CSU vor allem schauen, wie sie den Grünen so große Erfolge zugestehen können, dass deren Basis sich auf die ungeliebte Konstellation einließe. Da sich CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm in den Klimafragen viele Optionen offengehalten haben, wird die Debatte um die genaue Ausrichtung einer möglichen gemeinsamen Klimapolitik vor allem zwischen FDP und Grünen ausgetragen werden. Und das voraussichtlich schon, bevor diese Konstellation überhaupt für gemeinsame Sondierungen zusammenkommt.

    Zwar wollen FDP und Grüne den europäischen Emissionshandel zum Leitinstrument für die Dekarbonisierung von Industrie, Verkehr und Energie machen. Doch das Ausmaß der staatlichen Lenkung des ETS wird ein zähes Ringen. Die Freien Demokraten lehnen eine Regulierung des CO2-Preises ab und wollen lediglich einmalig die Menge der Emissionsrechte auf dem Markt festlegen. Der Preis pro Tonne CO2 würde sich dann auf dem Markt ergeben.

    Die Grünen befürchten zu starke Preisschwankungen und wollen einen Mindestpreis von 60 Euro pro Tonne ab 2023 und einen anschließenden Preisanstieg, der sich an den 2030er-Klimazielen Deutschlands orientiert. Ungenutzte Zertifikate sollen vom Markt genommen werden, um das Hedging und Bunkern von Emissionsrechten einzuschränken und die Industrie dazu zu bewegen, möglichst schnell klimaneutral zu werden. Der FDP geht dieser “Markteingriff” deutlich zu weit.

    Nächster Knackpunkt: die Energiepolitik. Blauer und türkiser Wasserstoff ist für die FDP als Brückentechnologie kein Problem – wie auch für CDU/CSU. Die Grünen lehnen dies wiederum kategorisch ab und sehen darin eine Verzögerungstaktik für die Nutzung fossiler Energieträger. Sie wollen ausschließlich klimaneutralen grünen Wasserstoff. Womöglich würden die Grünen hier den Kürzeren ziehen, was für die Klimapartei nur schwer zu verkraften wäre.

    Ein Randschauplatz, der aber aufgrund seiner öffentlichen Wirkung nicht unterschätzt werden sollte, ist die Forderung der Grünen nach einem generellen Tempolimit. Union und FDP lehnen das ab, könnten aber möglicherweise durch Kompromissbereitschaft an dieser Stelle höhere Forderungen ihrerseits an anderer Stelle durchsetzen. Klar ist aber: Alle Jamaika-Parteien müssten schmerzhafte Kompromisse eingehen, die nicht besonders gut bei ihren Wähler:innen und Parteimitgliedern ankommen werden.

    Ampel-Koalition: Spielt die FDP mit?

    Das Schreckensszenario der Konservativen, eine Links-Koalition, grenzt nach dem schwachen Abschneiden der Linken an Unmöglichkeit. Damit verlieren SPD und Grüne ein wichtiges Druckmittel auf die FDP, sich in Gesprächen über eine Ampel-Koalition kompromissbereit zu zeigen.

    Nun, da R2G nahezu ausgeschlossen ist, ist die FDP das Zünglein an der Waage für eine Regierungsbildung unter SPD-Führung. Die FDP kann somit deutlich höhere Ansprüche stellen. Schlucken müsste sie in dieser Konstellation aber womöglich gewisse Zugeständnisse beim EU-Stabilitätspakt. Auch einen staatlich festgelegten CO2-Preis im Emissionshandelssystem (ETS) könnte sie wohl kaum verhindern. Dafür hätte sie die Chance, der Steuerpolitik aus dem Finanzministerium ihren Stempel aufzudrücken.

    Schwieriger wird es bei der EU-Außengrenzpolitik. Die FDP will die Grenzschutzbehörde Frontex ausbauen, SPD und Grüne wollen das Asylrecht (Dublin III) reformieren, den Familiennachzug ausweiten und mehr Personal in den Botschaften, um Asylanträge schneller bearbeiten zu können. Doch da das Thema für die FDP keine gesteigerte Relevanz aufweist, dürfte sie sich wohl eher kompromissbereit zeigen.

    Digitalpolitik: Nähe zwischen Grünen und FDP

    Digitalpolitisch sind, wie schon bei Jamaika, gewisse Nähen zwischen Grünen und FDP unverkennbar, wenn es um das Verhältnis Staat-Bürger geht (Vorratsdatenspeicherung, Cybersicherheit). Allerdings wäre bei einer Ampel hier deutlich Spielraum: In der SPD hatten in der Vergangenheit zwar oft die Innenpolitiker das Sagen. Doch mit der neuen Bundestagsfraktion verschieben sich hier die Gewichte in Richtung digitalaffinerer, jüngerer Abgeordnete – was auch bei Sondierungen und Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielt.

    In der Frage der adäquaten Marktregulierung sind SPD und Grüne nicht weit voneinander entfernt und wollen insbesondere den Googles und Amazons dieser Welt an den Kragen. Hier ist die FDP deutlich zurückhaltender, wenn es um Markteingriffe geht. Bei der Mindestbesteuerung, die gerade die großen Digitalkonzerne treffen soll, scheinen die drei Parteien nicht unüberbrückbar weit auseinander zu liegen. Da die entscheidenden Akteure nicht nur in Berlin sitzen, ließe sich das Thema weiterhin mindestens auf die OECD-Ebene delegieren.

    Während die FDP ein Digitalministerium fordert, haben sich SPD und Grüne bisher skeptisch gegenüber einem eigenen Haus verhalten. Sollte dies aber als Verhandlungsmasse zur Überzeugung der Liberalen benötigt werden, spricht aus beiderlei Sicht wenig dagegen.

    Beim Kohleausstiegstermin weisen die Wahlprogramme zwar Unterschiede auf: Die Grünen wollen bereits 2030 aus der Kohle aussteigen, die SPD will am bisherigen Ziel bis spätestens 2038 festhalten. Hier liegen ambitioniert klingende Kompromissformeln wie die eines schnellstmöglichen Ausstieges parat.

    Die Grünen wollen das 2030-Ausstiegsziel durch einen entsprechenden CO2-Preis im Emissionshandel erreichen, sodass Kohlestrom unwirtschaftlich wird und die Energieunternehmen automatisch umsteigen, ohne dass das Kohleausstiegsgesetz angefasst wird. Das ist auch das Hauptanliegen der SPD, die verhindern will, dass weitere Milliarden Entschädigung an die Energiekonzerne fließen. Gegen einen schnelleren De-facto-Kohleausstieg als 2038 durch den ETS hätte Olaf Scholz sicherlich nichts. Und solange dieser über den Emissionshandel abgewickelt wird, wäre auch die FDP an Bord.

    Intensiv dürften hingegen die Diskussionen um den Dekarbonisierungspfad der Bundesregierung werden. Beim Verkehr pocht die FDP auf Technologieoffenheit in allen Bereichen und will auch für Pkw E-Fuels und Wasserstoff förderfähig machen. SPD und Grüne wollen diese Energieträger nur für den Schwerlasttransport sowie Flug- und Schiffsverkehr – und beharren auf der E-Mobilität für die Straße. Der Verbrennermotor soll nach den Grünen bis 2030 Geschichte sein. Die SPD macht dazu keine genauen Angaben, möchte jedoch vor allem E-Autos auf die Straße bringen.

    Hier werden die Liberalen jedoch nicht so schnell nachgeben, da sie den Fokus auf das E-Auto als Innovationsverbot betrachten und sich im Wahlkampf stets als die Innovations- und Anti-Verbots-Partei verstanden wissen wollten. Die Zukunft des Verbrenners könnte daher einer der zentralen Knackpunkte bei den Gesprächen zwischen FDP und Grünen werden, unabhängig davon, ob sie sich im Anschluss in eine Regierung mit Olaf Scholz oder Armin Laschet begeben. Lukas Scheid/Falk Steiner

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    Brüssel mahnt Berlin zu Eile

    Während die EU-Institutionen sich mit Äußerungen zur Wahl zurückhalten, werden Europapolitiker deutlicher. Viel diskutiertes Thema ist bereits jetzt die französische Angst vor der FDP. Und alle hoffen auf eine schnelle Regierungsbildung in Berlin.

    In den EU-Institutionen in Brüssel ist das deutsche Wahlergebnis verhalten aufgenommen worden. Es sei gut, dass die Mehrheit für europafreundliche Parteien gestimmt habe, hieß es in EU-Kreisen. Doch nun müssten sich die Politiker mit der Regierungsbildung beeilen, damit kein Vakuum entstehe und die Arbeit ohne Verzug weitergehen könne (Europe.Table berichtete). 

    Ungewöhnlich zugeknöpft zeigte sich die EU-Kommission. Die Behörde, die von der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen geführt wird, wollte sich am Montag nicht äußern. Man kommentiere Wahlergebnisse grundsätzlich nicht, sagte eine Sprecherin. Erst wenn der Nachfolger von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) feststehe, werde man gratulieren.

    Schweigen auch im Ratsgebäude. Ratspräsident Charles Michel enthielt sich jeden Kommentars. Im Kreis der 27 EU-Staaten geht man davon aus, dass Merkel beim nächsten Europäischen Rat Ende Oktober noch die Geschäfte führt. Solange nicht klar ist, wer ihr Nachfolger wird, hält sich Michel – der die EU-Gipfel organisiert – bedeckt.

    Ganz anders das Europaparlament. Dessen Präsident David Sassoli, ein Sozialist, beglückwünschte den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. “Europa braucht einen starken und verlässlichen Partner in Berlin, damit wir unsere gemeinsame Arbeit für eine soziale und grüne Erholung fortsetzen können”, schrieb Sassoli auf Twitter. Allerdings müsse es nun schnell vorangehen in Berlin: “Nach dieser historischen Krise gibt es keine Zeit zu verlieren”, so der Italiener mit Verweis auf die Corona-Pandemie.

    “Chance auf andere Europapolitik”

    Aufs Tempo drücken auch die Europaabgeordneten. Sie äußern sich gemäß ihrer Parteipräferenzen und werben dabei für mögliche Regierungskoalitionen. “In einem SPD-geführten Regierungsbündnis ergibt sich jetzt die Chance auf eine andere Europapolitik”, sagte Jens Geier, der Chef der SPD-Europaabgeordneten. “Wir wollen eine ökosoziale Transformation, die Industrie braucht klare Vorgaben, wir werden uns daher für eine aktive europäische Industriepolitik einsetzen.”

    Die Grünen verlangten eine ehrgeizige Klimapolitik. Das Klima dürfe jetzt nicht mehr nur auf Wahlplakaten vorkommen, sagte der Sprecher der Grünen, Sven Giegold. Man habe mehr mit der SPD gemeinsam, könne sich aber auch eine gute Zusammenarbeit mit der FDP vorstellen. Als Beispiele nannte er die Digitalisierung, die Bürgerrechte und die Außenpolitik.

    Seine dänische Parteifreundin Kira Marie Peter-Hansen, mit 23 Jahren jüngste Europaabgeordnete, begrüßte das Wahlergebnis: Es zeige, dass Deutsche bereit für neue politische Kräfte seien, die die Klimakrise angehen und dabei nicht die sozialen Aspekte vergessen. “Das ist ein Mandat für Veränderung”, fügte sie hinzu. “Und das wird schwierig, wenn die Union mit in der Regierung sitzt.”

    Die Euphorie von Peter-Hansen teilt Philippe Lamberts nicht. Der Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion hatte auf ein deutlich besseres Ergebnis der Grünen gehofft. “Und in Umweltfragen ist die SPD oft nicht besser als die Union, auch wenn sie etwas anderes behaupten.” Daran, dass die SPD wie im Wahlprogramm beschrieben für eine “echte Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialunion” eintreten werde, hat der Belgier angesichts der deutschen Schuldenbremse ebenfalls starke Zweifel.

    Mehr Ehrgeiz versprach Nicola Beer von der FDP. “Europa hat im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt”, kritisierte die Vizepräsidentin des Europaparlaments (Europe.Table berichtete). Diese Lücke wollten die Liberalen nun schließen – gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: “Jene, die eine französische Angst hinaufbeschwören gegenüber einer FDP in Regierungsverantwortung, denen sei versichert: Auf europäischer Ebene arbeiten FDP und Macrons Partei längst erfolgreich an einem Tisch”. 

    Furcht vor Jamaika-Bündnis

    Frankreichs Europa-Staatssekretär Clément Beaune hatte schon am Montagmorgen im französischen Fernsehsender France 2 erklärt, dass er sich wegen der FDP Sorgen mache. “Mit den Liberalen würde es komplizierter werden”, sagte Beaune. Die Befürchtung sei, so der Direktor des Centrums für Europäische Politik (cep) in Paris, Julien Thorel, dass FDP-Chef Christian Lindner als Bundesfinanzminister strenger über die Einhaltung der Maastrichter Verschuldungskriterien wache als Amtsinhaber Scholz.

    Sehr deutlich formuliert diese Sorge die französische Europaabgeordnete Sylvie Guillaume (S&D). Sie befürchtet, dass die FDP in einer Ampel-Koalition bei der Reform des Stabilitätspaktes bremsen würde. Ein Jamaika-Bündnis wäre aus ihrer Sicht aber das größere Übel: “Deutschland würde mit diesem Bündnis zurück in die Austerität gleiten, sich den ‘Frugalen Vier’ anschließen und der europäischen Solidarität den Rücken kehren”.

    Jean-Dominique Giuliani, Präsident Robert Schuman Stiftung in Paris, hält der FDP vor, eine “etwas altmodische Position” zu vertreten: Viele Ökonomen seien mittlerweile der Ansicht, dass die Wachstumsschwäche in Europa auch auf zu restriktiven Budgetregeln und der Geldpolitik beruhe. “Die FDP muss zeigen, dass sie nicht im Jahr 2008 verhaftet bleibt”, mahnt er.

    “Alle Parteien sind Pro-Europäer”

    Beaune stellt aber klar, dass er auf Kontinuität in der deutschen Europapolitik setze. “Ich fürchte mich nicht vor dem Wechsel, alle Parteien sind Pro-Europäer.” In gewisser Weise hätten die Deutschen weiterhin Merkel gewählt. Zudem äußerte er die Hoffnung, dass es bis spätestens Ende des Jahres zu einer Koalition in Deutschland kommen werde. 

    Auch Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hofft, dass die neue Bundesregierung bis Weihnachten steht. Ansonsten drohe Europa “eine lange Phase der Untätigkeit“, warnte er in der “Neuen Osnabrücker Zeitung”. Wegen wichtiger Weichenstellungen in der Klimapolitik und im Streit mit Polen und Ungarn um die Rechtsstaatlichkeit könne es sich die EU nicht leisten, dass wichtige Länder ausfielen. 

    Aufs Tempo drückt auch Rainer Wieland, Präsident der überparteilichen Europa-Union Deutschland. Europa brauche “ein handlungsfähiges Deutschland, das wieder eine proaktive Rolle im europäischen Integrationsprozess einnimmt”. Berlin müsse mehr Verantwortung für Europa zeigen. “Europapolitik ist Innenpolitik”, so Wieland. Eric Bonse/Jasmin Kohl/Tanja Kuchenbecker

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    News

    Lagarde: Inflationsschub nicht von Dauer

    EZB-Chefin Christine Lagarde sieht trotz rasant gestiegener Preise keine Gefahr, dass die Inflation aus dem Ruder läuft. Es gebe zwar einige Faktoren, die die Teuerung stärker als erwartet hochtreiben könnten, sagte sie am Montag in einer Anhörung vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments. Dies gelte beispielsweise für den Einfluss der Lohnrunden. Weitere mögliche Preistreiber seien Lieferengpässe und hohe Energiekosten.

    “Wir haben allen Grund zu glauben, dass dies keine dauerhaften Faktoren sind und sie sich insbesondere im Laufe des Jahres 2022 verringern werden“, betonte Lagarde. Die Bundesbank erwartet allerdings bis weit ins kommende Jahr hinein eine erhöhte Inflation in Deutschland. Die Volkswirte der deutschen Zentralbank gehen davon aus, dass ab September bis zum Jahresende vorübergehend sogar Teuerungsraten zwischen vier und fünf Prozent möglich sein werden. Bis zur Jahresmitte 2022 werde sie voraussichtlich noch über zwei Prozent liegen.

    Bundesbankchef Jens Weidmann hatte gemahnt, die EZB sollte die Gefahr einer zu hohen Inflation nicht aus den Augen verlieren. Angebotsengpässe könnten zusätzliche Preisschübe auslösen. Die EZB geht laut Lagarde in ihrem Basis-Szenario weiter davon aus, dass die Inflation mittelfristig unter dem Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent bleiben werde. Für 2021 wird eine Teuerungsrate von 2,2 Prozent unterstellt, die 2022 auf 1,7 Prozent fallen soll. Im Dezember werden die Vorhersagen allerdings wieder aktualisiert.

    Die Inflationsrate in der Euro-Zone kletterte zuletzt auf 3,0 Prozent nach oben und erreichte den höchsten Stand seit zehn Jahren. Manche EZB-Währungshüter denken laut Insidern aber schon über ein Auslaufen des Corona-Krisenprogramms im Frühjahr nach. Jüngste Daten bestärkten die Skeptiker im Führungskreis der EZB demnach darin, dass die Teuerung nächstes Jahr entgegen der Erwartungen nahe oder über der Zwei-Prozent-Marke liegen könnte. Dies liefere weitere Argumente für ein Aus des in der Corona-Krise eigens geschaffenen Anleihen-Ankaufprogramms PEPP Ende März. rtr

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    Google wehrt sich vor Gericht gegen Rekordstrafe

    Google wehrt sich vor Gericht gegen die 2018 verhängte Rekord-Kartellstrafe und verweist auf den Rivalen Apple. “Die Kommission hat die Augen vor der wahren wettbewerbsrechtlichen Dynamik in dieser Industrie verschlossen – der zwischen Apple und Android“, sagte Google-Anwalt Matthew Pickford vor dem Gericht der Europäischen Union am Montag in Luxemburg zu Beginn einer fünftägigen Anhörung. Die Kartellwächter hätten die Bedeutung Googles überschätzt. Stattdessen sei Android ein Paradebeispiel für funktionierenden Wettbewerb.

    Die Europäische Kommission hatte den US-Konzern vor drei Jahren wegen illegaler Praktiken beim Handy-Betriebssystem Android zur Zahlung von 4,3 Milliarden Euro verdonnert. Zur Begründung hieß es, die Alphabet-Tochter habe etwa Smartphone-Herstellern und Mobilfunknetzbetreibern seit 2011 unzulässige Vorschriften für die Verwendung von Android gemacht und verlangt, bestimmte Google-Apps vorzuinstallieren. Das ficht Google nun an.

    Kommissionsanwalt Nicholas Khan verwies darauf, dass Apple eine untergeordnete Rolle spielt und mit iOS im Vergleich zu Android auf einen kleinen Marktanteil kommt. Zugleich betonte er, Googles Vorgehen habe auf den Ausschluss von Wettbewerbern abgezielt.

    Aktuell ist auf vier von fünf Smartphones weltweit Android installiert. Die mündliche Anhörung ist für die gesamte Woche angesetzt. Ein Urteilsspruch könnte im kommenden Jahr kommen. rtr

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    Vălean wirbt für Verbrenner-Aus

    Bei einer Debatte im Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments verteidigte Verkehrskommissarin Adina Vălean die Fit-for-55-Pläne der Kommission, darunter die Vorschläge für den Ausbau der Ladeinfrastruktur und für die Förderung alternativer Kraftstoffe. Vălean plädierte außerdem klar für die Ausweitung des EU-Emissionshandels auf den See- und Straßenverkehr sowie für die schrittweise Abschaffung des Verbrennungsmotors.

    Die Abgeordneten stellten die vorgeschlagenen Wege teils infrage, etliche forderten besonders für den Straßenverkehr mehr Technologieoffenheit, statt nur auf Elektromobilität zu setzen. Auch die konkreten Vorgaben hinsichtlich der Distanz zwischen Ladestationen seien nicht ausreichend durchdacht. Hier müssten regionale Unterschiede, etwa bei der Bevölkerungsdichte, berücksichtigt werden. Vălean versprach mehr Flexibilität. Andererseits müsse die Bewegungsfreiheit und volle Mobilität innerhalb der EU sichergestellt werden.

    Mehrere Abgeordnete forderten die Kommissarin zudem auf, die globale Dimension des grünen Wandels in den Vordergrund zu rücken und Vereinbarungen mit anderen Regionen der Welt zu treffen, um die Wettbewerbsfähigkeit des EU-Verkehrssektors nicht zu gefährden. Außerdem müsse auch der soziale Aspekt, etwa beim ETS, stärker berücksichtigt und ein fairer Übergang gewährleistet werden. til

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    Presseschau

    End to freedom of movement behind UK fuel crisis, says Merkel’s likely successor GUARDIAN
    US LNG exporters plan projects to capitalise on European shortages FT
    Polen will Ausnahmezustand wegen Migranten an Grenze mit Belarus verlängern RND
    Nato ruft Serbien und Kosovo zur Zurückhaltung auf SPIEGEL
    1 person dead, buildings damaged as 5.8 magnitude earthquake strikes Greek island of Crete CNN
    Lava from the La Palma volcano is approaching the Atlantic Ocean, as coastal areas are locked down CNN
    EU envoys create 11th-hour hitch for transatlantic tech alliance POLITICO
    Europäische Richter verhandeln über die Macht von Google – Apple dürfte genau hinhören HANDELSBLATT
    Ermittlungen gegen Salvinis Social-Media-Chef wegen möglichem Drogenhandel MERKUR
    Gebühren auch für ORF-Streaming geplant DERSTANDARD
    Commission says Germany lags behind in reducing agriculture emissions EURACTIV

    Standpunkt

    Regierung muss Digitalpolitik zum Leitmotiv machen

    Von Oliver Süme
    Porträtfoto von Oliver Süme, Vorstandsvorsitzender bei Eco - Verband der Internetwirtschaft e.V
    Oliver Süme ist Vorstandsvorsitzender bei Eco – Verband der Internetwirtschaft e.V

    Digitalpolitik müsse der rote Faden des Koalitionsvertrags sein, schreibt Oliver Süme, Eco-Vorstandsvorsitzender, im Standpunkt. Er fordert, die Koordinierung und Steuerung der digitalen Aufgaben in einem Digitalministerium zu bündeln.

    Die Digitalisierung spielte im Wahlkampf in kaum einer Debatte eine Rolle. Und wenn, dann nur am Rande und sehr verengt auf wenige Aspekte. Dies mag verwundern angesichts aktueller repräsentativer Umfragen, die wir gemeinsam mit Civey im Rahmen unseres digitalpolitischen Wahlbarometers durchgeführt haben. Das Ergebnis: Rund 50 Prozent aller Bürger:innen in Deutschland messen dem Thema Digitalisierung einen großen bis sehr großen Einfluss auf ihren privaten und beruflichen Alltag bei.

    Aber letztlich zeigt sich auch hier ein generelles Phänomen deutscher Politik, die häufig in Zustands- und Problembeschreibungen verharrt, anstatt konkrete Lösungsstrategien zu entwickeln und diese mit den passenden Instrumenten umzusetzen. Wäre Letzteres der Fall, käme praktisch keine aktuelle Politikdebatte um das Thema Digitalisierung herum, denn Digitalisierung – so meine feste Überzeugung – ist der Schlüssel zur Bewältigung nahezu sämtlicher großer Herausforderungen, denen wir uns in den kommenden Jahren stellen müssen. 

    Ich appelliere daher dringend an alle Parteien, das Thema Digitalisierung in den Mittelpunkt ihrer Koalitionsverhandlungen zu stellen und zum Leitmotiv künftiger Regierungspolitik zu machen und möchte dies am Beispiel einiger zentraler Fragestellungen, die diese Dekade prägen werden, verdeutlichen:

    Die Bewältigung des Klimawandels und der Umgang mit Ressourcen dürfte eine der größten, wenn nicht DIE zentrale Herausforderung für die kommenden Jahre sein. Der Erhalt eines lebenswerten Planeten für künftige Generationen kann nur gelingen, wenn wir Mittel und Wege finden, ressourcensparender, energieeffizienter und insgesamt nachhaltiger zu wirtschaften.

    Digitalisierung ist in diesem Kontext eindeutig Teil der Lösung und nicht Teil des Problems. Natürlich steigt der Energiebedarf bei zunehmendem Datenverkehr und zunehmender digitaler Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft. Aber die Energieeffizienz bei der Speicherung und Verarbeitung von Daten hat sich in den vergangenen Jahren seitens der Betreiber digitaler Infrastrukturen deutlich verbessert. Nur leider ist der verfügbare Energiemix in Deutschland weiterhin von fossilen Energieträgern geprägt, und das ist ein Problem der bisherigen Energiewendepolitik der letzten Regierungen.

    Gamechanger für Gelingen der Klimawende

    Aktuelle Studien gehen davon aus, dass digitale Technologien schon jetzt dabei helfen, jede fünfte Tonne an CO2 einzusparen. Digitalisierung könnte zum Gamechanger für das Gelingen der Klimawende werden, wenn sie von Anfang an in energie- und wirtschaftspolitische Strategien integriert wird. Die Nachhaltigkeitspotenziale digitaler Technologien für den Klimawandel müssen genutzt werden. Voraussetzungen dafür sind: 

    • Ein vorgezogener Kohle-Ausstieg bis 2030 sowie der Ausbau erneuerbarer Energie angesichts des im European Green Deal formulierten Ziels, dass Rechenzentren bis 2030 klimaneutral sein sollen.
    • Der rasche und flächendeckende Ausbau von Gigabitnetzen wie Glasfaser angesichts der enormen Energieeinsparpotenziale gegenüber Kupfer.
    • Die Einbeziehung der von Rechenzentren erzeugten Abwärme in städtische Wärmekonzepte.

    Wirksame Klimaschutzpolitik wird nur gelingen, wenn Digitalisierung und Nachhaltigkeit künftig zusammen gedacht werden.

    Wir brauchen einen modernen und wettbewerbsfähigen Rechtsrahmen für digitale Geschäftsmodelle, der Innovationen und Investitionen ermöglicht. Ein gemeinsamer europäischer Binnenmarkt ist stärker als seine 27 Teilmärkte und bietet Unternehmen mit einem Markt von rund 450 Millionen Einwohnern eine hervorragende Ausgangslage und Möglichkeiten für wirtschaftlichen Erfolg Europas im internationalen Wettbewerb. Voraussetzung dafür sind jedoch einheitliche Rahmenbedingungen.

    Nur wenn unter Regulierungsbehörden ein konsistentes Vorgehen besteht, wenn für Unternehmen klare Zuständigkeiten existieren und wenn nicht die Größe einer Rechtsabteilung über den Erfolg eines Unternehmens in Europa bestimmt, können auch europäische Start-ups und KMU in Bereichen wie Telekommunikation oder Cloud konkurrenz- und wettbewerbsfähig in einem globalen Umfeld bestehen. Deshalb ist ein gemeinsamer europäischer Ansatz essenziell.

    Auf europäischer Ebene stehen unter anderem mit dem Digital Services Act und Digital Markets Act wichtige Vorhaben an. Diese werden nicht nur den europäischen digitalen Binnenmarkt für die nächsten Jahrzehnte entscheidend prägen, sondern auch den Rechtsrahmen für die digitale Wirtschaft in Deutschland vorgeben. Bei diesen zentralen digitalpolitischen Debatten muss Deutschland auf nationaler und europäischer Ebene handlungsfähig sein und klare Positionen vertreten. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union und muss mit seiner Stimme in Brüssel für die Vollendung des digitalen Binnenmarktes eintreten.

    Nachholbedarf bei der digitalen Bildung

    Nicht erst seit Corona wissen wir, dass Deutschland beim Thema Bildung und insbesondere beim Thema digitale Bildung weltweit zu den Schlusslichtern zählt. Die Auswirkungen davon bekommt die Wirtschaft bereits jetzt zu spüren. Aktuelle Studien gehen von über 80.000 fehlenden Fachkräften im Bereich IT aus und prognostiziert, dass sich dieser Mangel bis 2030 weiter verschärfen wird. 

    Für den Digitalstandort Deutschland, aber auch für die erfolgreiche digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft ist es essenziell, die Vermittlung digitaler Kompetenzen in allen Schulformen zum festen Bestandteil der Lehrpläne zu machen. Dabei ist es nicht mit der technischen Ausstattung der Schulen getan. Die Politik muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die vorhandene Technik in den Schulen verwendet werden kann und Lehrer:innen im Rahmen ihrer Ausbildung dazu befähigt werden, digitale Kompetenzen zu vermitteln.

    Die künftige Bundesregierung muss in diesem Kontext auch in Erwägung ziehen, im Bereich Bildungspolitik dem Bund mehr Kompetenzen zu geben und föderalistische Strukturen aufzubrechen und so zumindest ein einheitliches Niveau digitaler Kompetenzen in ganz Deutschland und allen Schulen zu gewährleisten. 

    Die Digitalisierung ist ein strategisches Querschnittsthema, das ressortübergreifend gedacht werden muss. Neben zahlreichen Detailregelungen, die in den entsprechenden Fachressorts behandelt werden, gibt es übergeordnete zentrale Fragestellungen zum Umgang mit Daten, Diensten und Netzen, die einer klaren, effizienten und stringenten Regulierung bedürfen. Besonders sichtbar wird dies zum Beispiel auch beim aktuellen Umgang mit Datacentern und Initiativen wie GAIA-X.

    Auch hier zeigt sich, dass es einer konsistenten und agilen Digitalpolitik aus einem Guss bedarf. Wir brauchen ein zentrales Digital-Ressort, das die großen Linien einer digitalen Agenda im Blick behält, die Fäden zusammenführt, und über die Kompetenzen sowie budgetären und personellen Ressourcen verfügt, ressortübergreifend digitalpolitische Maßnahmen von strategischem Interesse für die Bundesregierung umzusetzen. Nur so lassen sich das Kompetenzgerangel und die Inkonsistenz der letzten Jahre im Bereich Digitalpolitik verhindern.

    Nur wenn wir die Chancen und Potenziale der Digitalisierung konsequent nutzen, kann Deutschland die Herausforderungen der kommenden Jahre – seien es der Strukturwandel der Wirtschaft, der demografische Wandel oder die Energiewende – erfolgreich bewältigen. 

    Die digitale Transformation ist in vollem Gange und duldet keinen weiteren Aufschub. Ich appelliere daher an alle Parteien, die jetzt anstehenden Sondierungsgespräche nicht unnötig in die Länge zu ziehen, sondern zügig eine handlungsfähige Regierung zu bilden.

    • Bundestagswahl
    • Digitalpolitik
    • Green Deal
    • Klimapolitik

    Apéropa

    Fast hätte Island Geschichte geschrieben: Nach der Parlamentswahl sah es zunächst so aus, als werde der Inselstaat das erste europäische Land sein, in dessen Parlament mehr Frauen als Männer sitzen. Doch die Nachzählung ergab: Es reichte dafür nicht ganz. 

    Immerhin: Knapp über 47 Prozent beträgt künftig der Anteil der Frauen im Althing, dem isländischen Parlament. Eine Zahl, die in Deutschland eine Sensation wäre. 

    Zwar sitzen im künftigen Bundestag voraussichtlich mehr weibliche Abgeordnete als in den vergangenen vier Jahren. Das zeigt die vorläufige Sitzverteilung, die das Parlament am Montag veröffentlichte. Doch mit fast 35 Prozent Frauenanteil ist der Bundestag noch weit von Geschlechtergerechtigkeit entfernt – anders als etwa Ruanda

    Deutliche Unterschiede gibt es dabei in den einzelnen Fraktionen. Beispiel Union: Unter den insgesamt 196 Abgeordneten sind sage und schreibe 46 Frauen.

    Wollte man sich aus dieser für die deutsche Politik peinlichen Angelegenheit herausreden, schien es naheliegend, auf die Kanzlerin zu verweisen. Doch die Zeiten, in denen eine Frau die mächtigste Person im Land ist, sind nun erst mal vorbei. Und als ernsthaftes Argument hat dieser Verweis sowieso nie getaugt.

    Merkel selbst sagte dazu, ganz im merkeltypischen Satzbau: “Aus der Tatsache, dass es mich gibt, da darf kein Alibi draus werden.” Sarah Schaefer

    Europe.Table Redaktion

    EUROPE.TABLE REDAKTION

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