die EU will Strafzöllen aus China und den USA endlich effektiv die Stirn bieten: Heute stellt sie dazu ihr “Anti-Coercion Instrument” vor. Das Maßnahmenpaket gegen unfaire Handelspraktiken enthält einiges an internationalem Konfliktpotenzial, analysiert Amelie Richter. Ein Kreislauf an Vergeltungsmaßnahmen könnte beginnen. Doch auch aus den EU-Mitgliedstaaten ist mit Kritik an dem Instrument zu rechnen.
Auch ein anderes Vorhaben der Kommission wurde gestern kritisch von den 27 Hauptstädten beäugt: Die neue EU-Gesundheitsbehörde HERA war Thema bei der Ratssitzung der Gesundheitsminister in Brüssel. Im Grundsatz unterstützen zwar alle Mitgliedstaaten ihre Mission, die darin besteht, die Union künftig besser auf Gesundheitskrisen vorzubereiten. Weniger sind sie aber mit HERAs großer Autonomie zufrieden, berichtet Eugenie Ankowitsch. Auch aus dem Europaparlament kommt Gegenwind.
Knapp einen Monat ist es her, dass die Whistleblowerin Frances Haugen den Europaabgeordneten eine ganze Reihe von konkreten Empfehlungen mit an die Hand gegeben hat, wie sie den “Digital Services Act” verschärfen sollen. Inzwischen haben sich die Berichterstatter im Europaparlament auf einen Kompromisstext geeinigt, der nächste Woche vom Binnenmarktausschuss abgestimmt werden soll. Von Dark Patterns, über personalisierte Werbung bis zum Durchsetzungsmechanismus: Mein Kollege Falk Steiner und ich haben für Sie die wichtigsten Punkte parat.
Genau vor einem Jahr stellte die EU-Kommission ihren Vorschlag zum Digital Services Act vor. Das Gesetz soll die Pflichten von Online-Anbietern neu regeln, Grundrechte von Nutzer:innen schützen und illegale Online-Inhalte bekämpfen. Folgen soll das “neue digitale Grundgesetz” dabei den Grundsätzen der E-Commerce-Richtlinie von 2000. Nachdem der Rat seine Verhandlungsposition am 25. November festgezurrt hat (Europe.Table berichtete), stehen nun auch im Europaparlament alle Zeichen auf Einigung: In knapp einer Woche, am 13. und 14. Dezember, soll der Binnenmarktausschuss (IMCO) über den Schaldemose-Bericht abstimmen.
Die Whistleblowerin Frances Haugen hatte den Europaabgeordneten bei ihrer Anhörung vor knapp einem Monat geraten (Europe.Table berichtete), für “volle Transparenz” zu sorgen und “keine unspezifischen Ausnahmen für Geschäftsgeheimnisse” in den Digital Services Act aufzunehmen. Diesen Empfehlungen sind die Unterhändler im Kompromisstext nur teilweise gefolgt.
Sie haben sich zwar auf zusätzliche Transparenzpflichten für die Empfehlungssysteme von Online-Plattformen (Artikel für 24 a) geeinigt (Europe.Table berichtete): Die Hauptparameter der Empfehlungssysteme, etwa welche Rolle das Nutzerverhalten für die Ergebnisse der Empfehlungssysteme spielt, sollen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Online-Plattformen aufgeführt werden. Befinden sich unter diesen Hauptparametern jedoch Geschäftsgeheimnisse, sollen diese von der Transparenzpflicht ausgenommen sein.
Laut Verhandlungskreisen hat vor allem die EVP-Fraktion vehement für diese Ausnahme gekämpft. “Mit der Ergänzung der Konservativen über den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, ohne zu definieren, was Geschäftsgeheimnisse sind, wurde ein großes Schlupfloch geschaffen”, sagt Martin Schirdewan, IMCO-Schattenberichterstatter für die Fraktion GUE/NGL. Genau wie Haugen sieht er die Gefahr, dass Plattformen wie Facebook diese Schlupflöcher ausnutzen werden, um alles Mögliche zur Verschlusssache zu erklären.
Die Regelung für personalisierte Werbung im DSA (Artikel 24) war einer der größten Streitpunkte im Europaparlament (Europe.Table berichtete). Sozialdemokraten, Linke und Grüne konnten sich hier im Kompromisstext nicht mit ihrer Forderung nach einem vollständigen Verbot durchsetzen. Stattdessen soll die umstrittene Werbe-Praxis nur für Minderjährige vollständig verboten werden. Ihre personenbezogenen Daten sollen “nicht für kommerzielle Zwecke verarbeitet werden, die mit dem Direktmarketing, Profiling und der auf Analyse des Surfverhaltens basierende Werbung zusammenhängen”.
Personenbezogene Daten von volljährigen Nutzer:innen sollen von den Online-Plattformen außerdem nicht automatisch für den Zweck der personalisierten Werbung verarbeitet werden dürfen. Mit Verweis auf die Datenschutzgrundverordnung sollen die Plattformen ihren Nutzer:innen “aussagekräftige Informationen” zur Verfügung stellen, darunter die Information, wie ihre Daten zur Gewinnerzielung genutzt werden. So sollen diese eine informierte Zustimmung geben können. Bei dieser darf es nicht schwieriger oder zeitaufwendiger sein, die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten abzulehnen.
Damit fällt die Position des EU-Parlaments zu personalisierter Werbung im Digital Services Act etwas schwächer aus als im Digital Markets Act (DMA). Hier treten die Europaabgeordneten dafür ein, dass es Online-Plattformen nur dann erlaubt ist, persönlichen Daten für Werbezwecke zusammenzuführen, wenn die Nutzer:innen ihre “klare, ausdrückliche, wiederholte und informierte Zustimmung” erklärt haben (Europe.Table berichtete). Der DMA-Kompromisstext von Berichterstatter Andreas Schwab (CDU, EVP) sieht ebenfalls vor, die Verarbeitung von persönlichen Daten, die Aufschluss über politische Meinungen, den religiösen Glauben oder die sexuelle Orientierung geben, strikt zu begrenzen.
Regulatorisch relatives Neuland sind die Anforderungen im Kompromissvorschlag zur Nutzer-Oberflächen-Gestaltung durch die Anbieter. Unter dem Stichwort Dark Patterns bekannt geworden (Europe.Table berichtete), soll Anbietern künftig eine Gestaltung der Nutzeroberflächen untersagt werden, die Nutzer dazu verleitet, unbewusst vorgebliche Einwilligungen in Datenverarbeitungen oder Geschäftsbedingungen zu erteilen (Art. 13a).
Auch der Versuch, nicht erteilte Einwilligungen durch wiederholte Abfragen etwa per Pop-Up-Fenster doch noch zu erlangen, soll laut Kompromiss verboten sein soll – allerdings nicht vollständig. Die genaueren Regeln hierfür soll die EU-Kommission in einem delegierten Rechtsakt erlassen.
Zugleich soll es den Nutzern deutlich einfacher gemacht werden, die Vertragsbeziehung zum Anbieter zu beenden: Dies müsse so einfach sein wie der Abschluss des Vertrages. Insgesamt setzt der Berichterstatter-Kompromissvorschlag auf eine deutliche Stärkung der Informationspflichten für Nutzer im Digital Services Act: Vertragsbedingungen müssen zusätzlich zur juristischen Variante auch in menschen- und maschinenlesbarer Sprache zusammengefasst werden – ein Anspruch, der auch manchem EU-Rechtsetzungsakt guttun würde.
Maschinenlesbare Zusammenfassungen könnten eine Prüfung durch Hilfsprogramme erleichtern, die juristisch weniger bewanderten Nutzern besonders problematische Inhalte signalisieren können. Änderungen an Vertragsbedingungen sollen zudem leicht erkennbar werden, insbesondere dann, wenn sie von Nutzern zur Verfügung gestellte Inhalte und die Nutzungsrechte daran betreffen. Sofern sich Anbieter vorwiegend an Minderjährige richten, sollen sie ihre Geschäftsbedingungen auch in altersgerechter Sprache aufbereiten müssen.
Kompliziert bleibt mit den Vorschlägen der EU-Berichterstatter weiterhin das Gefüge zwischen den Aufsichtsinstanzen für den Digital Services Act. Grundsätzlich gilt: Jeder Mitgliedstaat benennt eine Aufsichtsbehörde, den sogenannten Digital Services Coordinator (DSC), der für die Durchsetzung gegenüber den im jeweiligen Gebiet ansässigen Anbieter federführend zuständig ist. Für bestimmte, vor allem große Anbieter, soll die EU-Kommission diese Aufsicht durchführen.
Aufbauend auf der Erfahrung mit den Durchsetzungsdefiziten der Datenschutzgrundverordnung sind im DSA auch konkrete Kooperationsmechanismen vorgegeben und weitere Regeln für die Anforderungen an die DSC vorgesehen. Da dies aber mitgliedstaatliches Recht berührt, enthält der DSA Regelungen, die die Nationalstaaten umsetzen müssen. Über dieses Thema hatte auch der Rat bei seiner Positionierung bereits intensive Debatten geführt (Europe.Table berichtete).
Die Ausstattung der jeweiligen DSCs ist dabei ein wichtiger Punkt, damit die Arbeitsfähigkeit gewährleistet ist. Auch die konkreten Rechte, die DSCs haben müssen, um die Regeln auch effektiv durchsetzen zu können: So sollen die Mitgliedstaaten etwa die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen schaffen, damit die Behörden im Fall einer Untersuchung alle relevanten Informationen von Anbietern binnen drei Monaten abfordern können.
Die Digital Service Coordinators sollen EU-weit möglichst gut zusammenarbeiten. Unter anderem dafür soll es einen gemeinsamen Ausschuss geben, der auch Streitfälle entscheiden kann. Der Parlamentskompromiss sieht dafür vor, dass die Kommission diesem Ausschuss vorsitzt – allerdings ohne Stimmrecht.
Die DSCs sollen – abhängig vom nationalen Recht – auch Strafen durch Gerichte einleiten oder selbst aussprechen, wenn Anbieter die DSA-Regeln verletzen. Bei besonders großen Anbietern soll dies unmittelbar die Kommission durchsetzen. Um einem akuten Missstand abzuhelfen, sollen DSCs und Kommission auch vorläufige Maßnahmen ergreifen dürfen. Sahen Zwischenstände hier noch einen bestimmten Katalog vor, ist davon nun die vage Maßgabe geblieben, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sein müssten.
Teil der Maßnahmen sind auch Bußgelder, deren Höhe durchaus empfindlich ausfallen soll. Der Kompromissvorschlag sieht maximal sechs Prozent des weltweiten Vorjahresumsatzes als Strafe für grobe Verstöße gegen den DSA vor, bei kleineren Verstößen soll die Maximalhöhe ein Prozent betragen. Bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten schlagen die Parlamentsberichterstatter periodische Strafen in Höhe von maximal fünf Prozent des durchschnittlichen täglichen Vorjahresumsatzes vor – nachdem vorangegangene Vorschläge erst zehn, dann sechs Prozent vorsahen. Diese Bußgelder würden so lange fällig, bis den Verpflichtungen nachgekommen wird, sind also zur Erzwingung der Mitwirkung gedacht.
Die Veränderungen bei der Höhe der vorgesehenen Strafen kritisiert der Linken-Abgeordnete Schirdewan: Die Absenkung sei für ihn unverständlich, “da lediglich harte Strafen die arroganten Regelverstöße der digitalen Unternehmen aufhalten. Die konservativen Kräfte im Parlament müssen endlich aufwachen und ihren Kuschelkurs mit Big Tech beenden.” Jasmin Kohl / Falk Steiner
Nachdem EU und Mitgliedstaaten zu Beginn der Corona-Pandemie schlecht vorbereitet waren, will man sich nun mit einer Reihe von Maßnahmen auf künftige Gesundheitskrisen vorbereiten. Neben der Ausweitung der Mandate der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) wurde im September 2021 eine neue Gesundheitsbehörde namens HERA (Health Emergency Preparedness and Response Authority) ins Leben gerufen.
Nach der Beschlussvorlage der EU-Kommission soll die neue Agentur die “Entwicklung, Herstellung, Beschaffung und Verteilung von medizinischen Produkten” im Krisenfall sicherstellen. Außerhalb der Krisenzeiten soll sie etwa Gefahren analysieren, Gegenmaßnahmen entwickeln, eine langfristige Strategie für den Aufbau von Herstellungskapazitäten auf den Weg bringen, Engpässe in den Lieferketten beseitigen und die Bevorratungskapazitäten erhöhen. HERA soll voraussichtlich 2022 voll einsatzfähig sein. Bis 2027 stehen HERA sechs Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zur Verfügung.
Doch während die Befugniserweiterungen für EMA und ECDC überwiegend im Einvernehmen und weitgehend geräuschlos über die Bühne gingen, sorgt nun HERA und die dazugehörige Krisenverordnung für Spannungen zwischen EU-Kommission und dem Rat sowie dem EU-Parlament. Denn die neue Behörde ist nicht als eine eigenständige Agentur konzipiert, sondern als Generaldirektion innerhalb der EU-Kommission angesiedelt.
Damit verfügt HERA über große Autonomie und genießt insbesondere in Krisenzeiten weitreichende Befugnisse. Wenn eine epidemische Lage festgestellt wird, soll ein HERA-Krisenstab die Gegenmaßnahmen koordinieren und lenken. Dazu gehören etwa Medikamenten- und Rohstoffbeschaffung sowie die Verteilung. Der HERA-Krisenstab ist aber auch befugt, Produktionskapazitäten in die EU zu verlagern und direkt mit den Herstellern zu verhandeln.
Bereits vergangene Woche zeichnete sich ab, dass eine politische Einigung zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten in die Ferne rückt. Das bestätigte sich in der gestrigen Ratssitzung. Ursprünglich sollten die Gesundheitsminister die Beschlussvorlage der Kommission billigen. Stattdessen kam es lediglich zu einer Aussprache. Zwar befürworteten alle Vertreter der Mitgliedsstaaten die Einrichtung der Behörde im Grundsatz. Viele der anwesenden Gesundheitsminister, darunter der scheidende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, forderten jedoch ein umfangreiches Mitspracherecht bei den Entscheidungen der HERA.
“Wir brauchen klare Zuständigkeiten und Mitentscheidungsrechte der Mitgliedstaaten, sowohl in der Vorbereitungsphase als auch im Krisenmodus”, sagte Spahn bei seinem letzten Auftritt auf dem EU-Parkett. Eine ausschließlich beratende Funktion der Mitgliedstaaten sei nicht akzeptabel. Er regte an, sich bei der Ausgestaltung der Governance am Vaccine Steering Board zu orientieren, dem EU-Lenkungsgremium für die Beschaffung von Corona-Impfstoff. Das Gremium sei ein gelungenes Beispiel für eine schnelle und verlässliche Zusammenarbeit zwischen Mitgliedsstaaten und Kommission im Krisenfall.
Die anwesende EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides verteidigte zunächst die Ausgestaltung von HERA. Sie sei ein Global Player und müsse entsprechend befugt werden, um in Krisenzeiten schnell und effizient handeln zu können. Angesicht der Einwände seitens der Mitgliedsstaaten sicherte sie jedoch zu, die offenen Fragen insbesondere zur Ausgestaltung der Verwaltungsstrukturen diskutieren zu wollen.
Eine kurzfristige Einigung im Rat ist eher unwahrscheinlich. Eine politische Einigung über die HERA-Krisenverordnung wird dem Vernehmen nach erst abschließend erfolgen, wenn die Verhandlungen zur Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren abgeschlossen ist. Diese sollen allerdings erst im kommenden Jahr unter dem französischen Ratsvorsitz weitergehen.
Auch aus dem EU-Parlament kommt teils heftige Kritik. Viele Europaabgeordnete bemängeln, sie seien vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Während einer Sitzung des Gesundheitsausschusses (ENVI) Ende Oktober äußerten die EU-Abgeordneten außerdem Bedenken, dass 2,8 Milliarden der 5,1 Milliarden Euro im EU4Health-Programm für HERA vorgesehen seien und damit weniger finanzielle Mittel für andere Prioritäten zur Verfügung stünden.
Folgerichtig hat das Europäische Parlament in seiner Sitzung Mitte November 2021 für Transparenz und enge Zusammenarbeit bei allen Maßnahmen gestimmt. Außerdem soll nach dem Willen des Plenums das neue EU-Gremium für gesundheitliche Notlagen an die künftige Verordnung über grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen angepasst werden.
Darüber hinaus sollte ein Vertreter des Europäischen Parlaments aktives Mitglied im Krisenstab der HERA sein. “Wir wollen uns aktiv an der Regierungsführung beteiligen, um die Handlungen und Entscheidungen dieser Behörde im Namen des Parlaments zu leiten”, forderte Véronique Trillet-Lenoir, Berichterstatterin zur Verordnung über schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren. “Wir wollen Kohärenz, Transparenz, Koordinierung und Einheit innerhalb unserer europäischen Gesundheitspolitik gewährleisten.”
Für Chinas Zollbeamte existierte der Staat Litauen einige Tage lang offenbar nicht. Ein litauischer Holzexporteur berichtete in einem Nachrichtenportal von 300 Containern, die vor chinesischen Häfen feststeckten. Auch weitere litauische Firmen meldeten, dass ihre Ware nicht vom Zoll abgefertigt werde. “Es scheint, als gebe es unser Land im chinesischen Zollsystem nicht mehr“, erklärte Vidmantas Janulevičius, Präsident des litauischen Industriellenverbandes.
Ladungen aus Litauen konnten in China nicht mehr gelöscht werden, umgekehrt kamen keine Exporte aus China nach Litauen – keinerlei Handel war möglich. Am Dienstag dann die Entwarnung: In den Computern der chinesischen Zollbeamten fand sich der baltische Staat wieder, wie Janulevičius der South China Morning Post (SCMP) bestätigte. Von einem technischen Fehler sei die Rede gewesen.
Technischer Fehler oder Machtgebärde – für Vilnius und Peking ist der Vorgang der neueste Akt im Streit um das “Taiwan”-Büro in der litauischen Hauptstadt (China.Table berichtete). Bei der Auseinandersetzung des kleinen EU-Staats mit gut 2,8 Millionen Einwohnern gegen den Riesen China geht es um mehr als Holzlieferungen – für Litauen ist China kein wichtiger Handelspartner.
Die Vorgänge sind vielmehr ein Test für die Regeln der internationalen Handelsordnung. Zudem steht die Frage im Raum, wie auf wirtschaftliche Nötigung durch die Volksrepublik oder andere Länder gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union reagiert werden kann. Für Brüssel liefert Chinas Handeln gerade das perfekte Paradebeispiel für ein neues Instrument gegen wirtschaftliche Strafaktionen, das am Mittwoch offiziell vorgestellt werden soll.
Um China, aber auch den USA und ihren Strafzöllen, nun die Stirn zu bieten, wird die EU heute ihre neuen Abschreckungsmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken vorstellen: das sogenannte Anti-Coercion Instrument (ACI). Dieses ziele auf Staaten ab, die “in legitime souveräne Entscheidungen” der EU oder ihrer Mitgliedsstaaten eingreifen, “indem sie Maßnahmen ergreifen oder androhen, die den Handel oder die Investitionen beeinträchtigen”, wie es in einem Entwurf heißt.
Was enthält der Vorschlag:
Der Vorschlag der EU-Kommission soll am Mittwoch von EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis offiziell vorgestellt werden. Die Vorlage wird dann dem Europaparlament und dem EU-Rat zur Bewertung vorgelegt. Es kann also noch zu Änderungen kommen.
Hat die EU mit ACI vielleicht das goldene Schwert gegen Chinas Handelsmobbing gefunden? Eher nicht, sagt Viking Bohman vom Swedish National China Centre in einem Bericht. Erstens, argumentiert Bohman, ist es unwahrscheinlich, dass Chinas aggressive Diplomatie durch eine Androhung von Strafen abgeschreckt wird. So werde eher ein Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen beginnen. Bei ungeschickter Anwendung könnte sich die EU also selbst schaden. Zweitens, so Bohman, könne ACI nicht gegen Zwangshandlungen eingesetzt werden, die weder vom Angreifer noch vom Ziel öffentlich gemacht werden und so die EU-Kommission auf den Plan rufen.
Besser als Vergeltungsmaßnahmen sei “Absorption”, heißt es in dem Bericht des China Centers: Mitgliedsstaaten wie Litauen, deren Handel mit China durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen blockiert sei, müssten Hilfe bekommen, andere Lieferketten zu entwickeln. Auch ein finanzieller Ausgleich durch einen Solidaritätsfonds könnte Nötigung demnach abfedern.
Bohman sieht auch die bei der Kommission liegende Umsetzungskompetenz kritisch: “Ich bezweifle ernsthaft, dass es so bleiben wird. Die EU-Mitgliedstaaten werden bei der Nutzung des Instruments mitreden wollen.” Die sich ergebenden Probleme mit China seien “hochgradig politischer Natur”.
Ähnlich sieht es auch Jonathan Hackenbroich, Leiter der Taskforce der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), die wichtige Impulse im Erarbeitungsprozess von ACI gegeben hat. Die Mitsprache der Mitgliedsländer sei nun eine große Frage – und ob das Vorhaben im Rahmen der Verhandlungen verwässert wird. Darin sieht Hackenbroich ein Risiko: “Wenn es letztendlich zu einem ‘Kleinsten-gemeinsamer-Nenner’-Instrument wird, wäre das schlecht.” Auch Bedenken, dass es durch ACI zu Protektionismus kommen kann, stellen Hackenbroich zufolge ein Risiko für die EU dar. Hier müsse nun die richtige Balance gefunden werden.
Auch die Effektivität der vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ist für Hackenbroich noch fraglich. Die US-Regierung unter Trump habe auch Strafzölle eingesetzt, zu einer Verhaltensänderung bei China habe das aber kaum geführt.
Die Wirtschafts- und Finanzminister der EU haben sich bei ihrem Treffen am Dienstag auf neue Mehrwertsteuersätze geeinigt. Flexiblere Vorgaben und neue Vergünstigungen sollen dazu beitragen, das Steuersystem an die EU-Prioritäten beim Klima- und Gesundheitsschutz sowie bei der Digitalisierung anzupassen.
So sollen in der EU niedrigere Steuersätze beispielsweise für Fahrräder, umweltfreundliche Heizsysteme oder Solaranlagen möglich sein. Bestehende Ermäßigungen auf fossile Brennstoffe und andere klimaschädliche Waren sollen hingegen bis 2030 auslaufen. Für chemische Düngemittel und Pestizide sollen die geringeren Steuern noch bis zum 1. Januar 2032 beibehalten werden, um insbesondere Kleinbauern mehr Zeit für die Anpassung zu geben.
Die Vereinbarung soll es den EU-Staaten außerdem ermöglichen, verringerte Steuersätze auch auf Waren und Dienstleistungen anzuwenden, die der Wirtschaft die digitale Transformation ermöglichen – darunter Internetzugänge und Angebote zum Live-Streaming von Veranstaltungen. Auch für Produkte zum Gesundheitsschutz wie beispielsweise medizinische Masken sollen Steuerermäßigungen möglich sein.
Für bestimmte Produkte nutzen die Mitgliedsländer bereits einen verringerten Steuersatz als den EU-weiten Mindeststandard von 15 Prozent. Diese Liste wurde nun angepasst. “Damit werden wir den Herausforderungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft gerecht”, sagte Valdis Dombrovskis, Vizepräsident der EU-Kommission. Die Brüsseler Behörde hatte bereits vor vier Jahren einen Vorschlag zu ermäßigten Mehrwertsteuersätzen gemacht. Das bestehende System ist rund 30 Jahre alt. Nach einer Stellungnahme durch das Europäische Parlament sollen die neuen Steuerregeln ab März 2022 in Kraft treten. til/rtr
Die EU-Kommission wird bis Jahresende voraussichtlich nicht mehr die Mittel aus dem Corona-Aufbauinstrument für Polen freigeben. “Es ist unwahrscheinlich, dass wir diese Arbeit noch in diesem Jahr abschließen können, aber die Fortschritte in der Sache bestimmen das Tempo”, sagte Vizepräsident Valdis Dombrovskis am Dienstag.
Hintergrund ist der Streit um die Justizreformen der PiS-Regierung in Warschau (Europe.Table berichtete). Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Bedingungen für die Freigabe der insgesamt 36 Milliarden Euro genannt, die Polen aus dem EU-Topf zustehen. Ohne grünes Licht bis Jahresende entgeht Warschau ein Teil der Summe.
Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte am Dienstag an, sich um die Entschärfung des Konflikts zwischen der EU und Polen zu bemühen. “Ich bin sehr froh, dass Polen Teil der EU ist”, betonte der SPD-Politiker. Er habe ein gutes Gespräch mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki in Berlin geführt. Scholz äußerte Verständnis für das polnische Verhalten im Streit um die Flüchtlinge, die über Belarus an die EU-Außengrenze gelangen. Er setze darauf, dass man auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit zu gemeinsamen Erkenntnissen komme.
Der designierte Vizekanzler Robert Habeck sagte, man tue Polen und Ungarn unrecht, wenn man sie als Problem bezeichne. Gerade in Polen gebe es eine sehr lebendige Zivilgesellschaft, die eine andere Politik als die Regierung in Warschau wolle. Es sei Aufgabe der EU-Kommission, auf die Achtung der Rechtsstaatlichkeit als Basis der EU zu achten, sagte der Grünen-Politiker. Deutschland solle die Kommission dabei unterstützen. Im Ampel-Koalitionsvertrag wird eine entschiedenere Durchsetzung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gefordert. tho/rtr
Der Energiekonzern RWE hat für den Handel mit Wasserstoff eine Zusammenarbeit mit dem russischen Gaskonzern Novatek vereinbart. Geplant sei, dass Novatek “blauen” Ammoniak und Wasserstoff an RWE liefere, teilten die Essener am Dienstag mit. Der Wasserstoff solle aus Erdgas mithilfe einer Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) produziert werden. RWE können diesen dann an seine Kunden im Inland und im restlichen Europa liefern. Die Grundsatzvereinbarung sehe auch eine engere Zusammenarbeit der Unternehmen im Geschäft mit Flüssiggas (LNG) vor.
Klimaschonender Wasserstoff spielt eine Schlüsselrolle bei der Energiewende, da mit ihm klimaschädliches Kohlendioxid ersetzt werden kann. Ziel ist die Produktion von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien, sogenannter grüner Wasserstoff. Da die benötigte Menge wohl zunächst nicht den Bedarf decken kann, könnte übergangsweise blauer Wasserstoff produziert werden. Die CCS-Methode sorgt dabei für eine Minderung des CO2-Ausstoßes.
Die Absicherung der schwankenden Ökostromerzeugung könnten Gaskraftwerke übernehmen, die ebenfalls bei der Produktion auf grünen Wasserstoff zurückgreifen. “Doch bis es so weit ist, werden Zwischenlösungen wie Gas, LNG und blauer Wasserstoff benötigt”, sagte der Leiter des LNG-Geschäfts von RWE Supply & Trading, Javier Moret. rtr
Die USA sind einem Insider zufolge mit Deutschland übereingekommen, im Falle einer russischen Invasion der Ukraine die umstrittene Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen zu lassen. Dies hätten US-Regierungsvertreter Abgeordneten gesagt, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag von einem Kongressmitarbeiter.
Abgeordnete beider großer US-Parteien sehen die Gasleitung seit längerem kritisch. Sie befürchten, dass sich Europa damit in eine zu große Abhängigkeit von Russland begibt. Die Regierung in Moskau weist Invasionspläne in der Ukraine-Krise zurück. Am Dienstag sprachen Präsident der USA Joe Biden und sein russischer Kollege Wladimir Putin nach US-Angaben in einem Videogipfel unter anderem über das Thema Nord Stream 2.
Am Dienstag hatte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz eine direkte Antwort darauf vermieden, ob ein Einmarsch Russlands in der Ukraine das Aus für die Pipeline bedeuten würde. Es müsse aber “ganz, ganz klar sein”, dass eine weitere Bedrohung der Ukraine inakzeptabel sei. Das Prinzip der Unverletzbarkeit von Grenzen müsse gewahrt bleiben. Der für die Energiepolitik künftig zuständige Grünen-Vorsitzende Robert Habeck betonte, dass der Konflikt nur diplomatisch gelöst werden könne. Der Betrieb der Nord Stream 2-Pipeline sei noch nicht genehmigt.
Bereits am Montag hatte Regierungssprecher Steffen Seibert für die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel betont: Die gemeinsame Erklärung von Ende Juli lege “die gemeinsamen Überzeugungen und Ziele Deutschlands und der Amerikaner in der Frage der Unterstützung der Ukraine und der europäischen Energiesicherheit in Bezug auf Nord Stream 2” fest. Es sei aber nicht an der scheidenden Bundesregierung, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Welche rechtlichen Möglichkeiten für die Versagung der Inbetriebnahme überhaupt bestehen, wenn die Betreibergesellschaft das derzeit ruhende Zulassungsverfahren bei der Bundesnetzagentur weiter vorantreibt, konnte das zuständige Bundeswirtschaftsministerium jedoch nicht mitteilen. mit rtr
Twitter wird seine Meldemöglichkeiten für potenziell schädliche Tweets überarbeiten. Das kündigte das US-Unternehmen am Dienstag an. Ziel sei es, den Grund für die Meldungen besser beschreibbar zu machen.
Wie bei der Kurznachrichtenplattform üblich soll erst ein kleiner Kreis von Nutzern die veränderten Möglichkeiten testen. In den Vereinigten Staaten kommt Twitters Vorhaben zu einem Zeitpunkt, an dem die Technologieunternehmen wie Twitter, Facebook oder Youtube intensiver Kritik ausgesetzt sind, zu wenig gegen schädliche oder Hass schürende Inhalte zu tun.
Künftig sollen Twitter-Nutzer nicht mehr angeben, gegen welche der Nutzungsbedingungen der Firma verstoßen wurde. Sondern unter anderem, ob sie sich von Hass, Beleidigungen oder Einschüchterungen betroffen gefühlt haben. Zudem sollen Nutzer in eigenen Worten beschreiben können, warum sie einen Inhalt gemeldet haben, so Twitter. Der speziell für Nutzer in der Bundesrepublik existierende Weg der Meldungen nach Netzwerkdurchsetzungsgesetz existiert in den USA nicht.
Twitter möchte mit dem neuen Verfahren genauere Informationen zu Tweets sammeln, die keinen offensichtlichen Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen darstellen, aber von anderen Nutzern als problematisch oder empörend empfunden werden. Dies solle bei der Weiterentwicklung der hauseigenen Regeln Berücksichtigung finden.
In der EU wird die Plattform aller Voraussicht nach künftig auch unter die Regelungen des Digital Services Act fallen, der mit spezifischen Vorschriften zum Umgang der Betreiber mit potenziell problematischen Inhalten weit über die in den USA gesetzlich erforderlichen Maßnahmen hinausgehen wird. (fst/rtr)
Knapp vier Jahre ist es erst her, da hatte sich schon einmal eine neue Bundesregierung einen “neuen Aufbruch” für Europa auf die Fahnen geschrieben. Nur so werde Deutschland langfristig Frieden, Sicherheit und Wohlstand für seine Bürger garantieren können, hieß es 2018 auf den ersten Seiten des Koalitionsvertrags. Nach Amtsantritt wurde besagter Aufbruch dann schnell wieder abgesagt. Stattdessen verwalteten die Koalitionäre in Deutschland lieber den Status quo – nicht nur in der Europa-, sondern auch in der Außenpolitik.
Nun möchte die Ampel-Koalition, die in dieser Woche startet, “mehr Fortschritt wagen” und auf dem Papier liest sich das alles sehr gut. Zwar beginnt der Abschnitt zu Europa und Außenpolitik erst auf Seite 130, aber das starke europapolitische Bekenntnis von SPD, Grünen und FDP zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Dokument.
Die Koalitionäre möchten sich für eine demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU einsetzen und haben ein “dienendes Verständnis” von der deutschen Rolle in der EU. Deutsche Interessen definieren sie im Lichte europäischer Interessen. Neben konkreten Vorschlägen zur Weiterentwicklung Europas wagen sie sich sogar an die Formulierung von Visionen – wahrscheinlich der klarste Bruch zur Ära Merkel – und sprechen von der Weiterentwicklung der Union zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat”.
Die Ampel will ihre Außenpolitik europäisieren. Keine Alleingänge, mehr Absprachen mit Partnern. Gegenüber Autokratien schlägt die neue Bundesregierung forschere Töne an – besonders gegenüber China, aber auch das Verhältnis zu Russland ist merklich abgekühlt. Im Systemwettbewerb mit autoritär regierten Regimen soll Deutschlands Außenpolitik primär von demokratischen Werten, und nicht etwa von wirtschaftlichem Profit, geleitet werden.
In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik besteht der Fortschritt vor allem darin, dass die SPD einige ihrer langjährigen Blockaden überwunden hat: Ja zu bewaffneten Drohnen, ja zur Beschaffung eines Nachfolgesystems für das Kampfflugzeug Tornado – wer hätte nach den vergangenen vier Jahren gedacht, dass sich die Partei dazu einmal durchringen könnte. Es sieht alles so aus, als könne der neue Aufbruch für die deutsche Europa- und Außenpolitik zum guten Schluss doch noch gelingen.
Drei Faktoren könnten dem Fortschritt aber im Wege stehen:
Erstens hat Olaf Scholz im Wahlkampf nicht nur so getan, als verkörpere er die Kontinuität der pragmatischen und nüchternen Kanzlerin. Gerade in der Außenpolitik vertrat er in der Vergangenheit sehr oft die Merkel-Linie. Nicht umsonst betonte SPD-Generalsekretär und bald Parteivorsitzender Lars Klingbeil im September 2021, dass Scholz’ Chinapolitik eher derjenigen Merkels ähneln werde, als der US-Politik gegenüber China.
In der Russlandpolitik steht die SPD wie keine andere Partei hinter der Nord Stream 2-Pipeline. Die von Gasprom finanzierte, landeseigene “Umweltstiftung” der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, arbeitete sogar fleißig daran mit, die umstrittene Gaspipeline trotz US-amerikanischer Sanktionsdrohungen fertigzubauen. Anders als die Grünen und die FDP will die SPD in der China- und Russlandpolitik mehr realpolitischen Status quo – mit einem Fokus auf wirtschaftliche Interessen – als menschenrechtsgeleiteten Fortschritt. Und weil China- und Russlandpolitik auch in Zukunft primär im Kanzleramt gemacht wird, sind Konflikte programmiert.
Zweitens herrscht auch in entscheidenden Feldern der Europapolitik unter den Koalitionären keine Einigkeit. Konnte der Koalitionsvertrag Fragen wie eine Flexibilisierung der europäischen Schuldenregeln noch großzügig mit Watte zudecken, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen, wie sehr ein Finanzminister Lindner die Fortschrittsgedanken von SPD und Grünen bei der Weiterentwicklung EU-fiskalpolitischer Regeln teilt.
Drittens fuhr Merkel in der Europapolitik nicht nur deshalb “auf Sicht”, weil es ihrem Naturell entsprach. Angesichts der vielen Fliehkräfte, die sich im Erstarken nationalistischer und EU-kritischer Akteure manifestierten, war es erklärte deutsche Priorität, die Union zusammenzuhalten. Die Mitgliedstaaten der EU sind mit Blick auf weitere Integrationsschritte tief gespalten.
Auch wenn aus Berlin zukünftig ambitioniertere Ideen kommen, heißt dies noch lange nicht, dass sie bei den europäischen Partnern auch auf fruchtbaren Boden fallen. Es wird auch weiter deutsches Interesse sein, eine Vertiefung von Interessenskonflikten zu vermeiden und Norden, Süden, Osten und Westen der EU bei der Stange zu halten. Das spricht eher für das langsame Bohren dicker Bretter als für schnelle Reformfortschritte.
Blickt man auf die vergangenen Jahre der Europa- und Außenpolitik Deutschlands zurück, so fällt auf, dass es am Ende Krisen und Ereignisse waren, die die deutsche Politik bestimmt haben. Als 2013 die Große Koalition ins Amt kam und wenig später die Maxime ausgab, Deutschland müsse sich international “früher, entschiedener und substanzieller” einbringen, rechneten nur wenige damit, dass Berlin verteidigungspolitisch anders agieren würde als bisher. Dann annektierte Russland die Krim und der Islamische Staat rief in Teilen Syriens und des Iraks das Kalifat aus. Einige Zeit später führte Deutschland in Litauen ein Bataillon an und unterstützte die kurischen Peschmerga mit Waffen und Munition.
Zu Beginn des Jahres 2021 galt es als abwegig, dass die Bundesrepublik einmal die gemeinsame Aufnahme von Schulden durch die EU nicht nur unterstützen, sondern sogar maßgeblich initiieren würde. Die Corona-Pandemie machte es möglich.
Harold Macmillan, von 1957 bis 1963 britischer Premierminister, wurde einmal gefragt, was das schwierigste Problem seiner Amtszeit war. Seine Antwort: “Events, my dear boy, events”. Damit mehr Fortschritt in der Europa- und Außenpolitik Deutschlands gelingen kann kommt es deshalb nicht nur darauf an, den richtigen Kompass zu haben. Den hat die Ampel mit dem Koalitionsvertrag vorgelegt. Sondern auch darauf, Gelegenheiten beim Schopfe zu packen und die Möglichkeiten zu einer Veränderung des Status quo dann zu nutzen, wenn sich die Chance bietet.
Der Text ist Teil einer Kooperation zwischen Europe.Table und dem Annual Council Meeting des ECFR.
Die Europäische Zentralbank will nach 20 Jahren die Gestaltung der Euro-Banknoten überarbeiten. Wie dies genau erfolgen soll, ist derzeit noch offen. Bislang haben die Banknoten stilisierte europäische Symbolik enthalten – und nicht, wie sonst in Europa oft üblich, die Konterfeis wichtiger Menschen.
Sie sollten so gestaltet werden, dass sich Europäer unabhängig von Alter oder Hintergrund besser mit ihnen identifizieren könnten, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde. Dazu sollen Bürgerinnen und Bürger nun Vorschläge einreichen können. Doch Vorsicht!
Leider sind unumstrittene gesamteuropäische Köpfe rar. So würde etwa um Marie Skłodowska-Curie oder Fryderyk Franciszek Chopin, auch Szopin genannt, absehbar ein Streit entbrennen, ob sie jetzt Polen oder Frankreich oder gar die gesamte Eurozone repräsentieren. Noch schwieriger daran: nur die französische Deutung wäre in der Eurozone – und Polen wäre im eigenen Empfinden wieder einmal verloren.
Doch wer oder was steht für das Baltikum, Portugal, Niederlande, Irland und Griechenland zugleich und ist zudem auch noch traditionsfähig?
Wir hätten da drei Vorschläge im Angebot, mit welchen Symbolen Europas Bürgerinnen und Bürger ihre Eurozone wohl am besten auf ihren Geldscheinen wiedererkennen würden:
Zugegebenermaßen: Alles recht konservative Vorschläge.
Ein modernerer Ausweg aus Lagardes Dilemma wäre: Der digitale Euro muss endlich her. Einer, der sich über das europäische Satellitensystem Galileo seinen Koordinaten anpasst und in jedem Eurozonenmitgliedsland andere Symbole darstellt, damit möglichst alle zufrieden sind. Und als Beifang wäre damit auch noch ein Grund gefunden, eine bessere Nachverfolgbarkeit von Geldtransfers zu schaffen. Falk Steiner
die EU will Strafzöllen aus China und den USA endlich effektiv die Stirn bieten: Heute stellt sie dazu ihr “Anti-Coercion Instrument” vor. Das Maßnahmenpaket gegen unfaire Handelspraktiken enthält einiges an internationalem Konfliktpotenzial, analysiert Amelie Richter. Ein Kreislauf an Vergeltungsmaßnahmen könnte beginnen. Doch auch aus den EU-Mitgliedstaaten ist mit Kritik an dem Instrument zu rechnen.
Auch ein anderes Vorhaben der Kommission wurde gestern kritisch von den 27 Hauptstädten beäugt: Die neue EU-Gesundheitsbehörde HERA war Thema bei der Ratssitzung der Gesundheitsminister in Brüssel. Im Grundsatz unterstützen zwar alle Mitgliedstaaten ihre Mission, die darin besteht, die Union künftig besser auf Gesundheitskrisen vorzubereiten. Weniger sind sie aber mit HERAs großer Autonomie zufrieden, berichtet Eugenie Ankowitsch. Auch aus dem Europaparlament kommt Gegenwind.
Knapp einen Monat ist es her, dass die Whistleblowerin Frances Haugen den Europaabgeordneten eine ganze Reihe von konkreten Empfehlungen mit an die Hand gegeben hat, wie sie den “Digital Services Act” verschärfen sollen. Inzwischen haben sich die Berichterstatter im Europaparlament auf einen Kompromisstext geeinigt, der nächste Woche vom Binnenmarktausschuss abgestimmt werden soll. Von Dark Patterns, über personalisierte Werbung bis zum Durchsetzungsmechanismus: Mein Kollege Falk Steiner und ich haben für Sie die wichtigsten Punkte parat.
Genau vor einem Jahr stellte die EU-Kommission ihren Vorschlag zum Digital Services Act vor. Das Gesetz soll die Pflichten von Online-Anbietern neu regeln, Grundrechte von Nutzer:innen schützen und illegale Online-Inhalte bekämpfen. Folgen soll das “neue digitale Grundgesetz” dabei den Grundsätzen der E-Commerce-Richtlinie von 2000. Nachdem der Rat seine Verhandlungsposition am 25. November festgezurrt hat (Europe.Table berichtete), stehen nun auch im Europaparlament alle Zeichen auf Einigung: In knapp einer Woche, am 13. und 14. Dezember, soll der Binnenmarktausschuss (IMCO) über den Schaldemose-Bericht abstimmen.
Die Whistleblowerin Frances Haugen hatte den Europaabgeordneten bei ihrer Anhörung vor knapp einem Monat geraten (Europe.Table berichtete), für “volle Transparenz” zu sorgen und “keine unspezifischen Ausnahmen für Geschäftsgeheimnisse” in den Digital Services Act aufzunehmen. Diesen Empfehlungen sind die Unterhändler im Kompromisstext nur teilweise gefolgt.
Sie haben sich zwar auf zusätzliche Transparenzpflichten für die Empfehlungssysteme von Online-Plattformen (Artikel für 24 a) geeinigt (Europe.Table berichtete): Die Hauptparameter der Empfehlungssysteme, etwa welche Rolle das Nutzerverhalten für die Ergebnisse der Empfehlungssysteme spielt, sollen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Online-Plattformen aufgeführt werden. Befinden sich unter diesen Hauptparametern jedoch Geschäftsgeheimnisse, sollen diese von der Transparenzpflicht ausgenommen sein.
Laut Verhandlungskreisen hat vor allem die EVP-Fraktion vehement für diese Ausnahme gekämpft. “Mit der Ergänzung der Konservativen über den Schutz von Geschäftsgeheimnissen, ohne zu definieren, was Geschäftsgeheimnisse sind, wurde ein großes Schlupfloch geschaffen”, sagt Martin Schirdewan, IMCO-Schattenberichterstatter für die Fraktion GUE/NGL. Genau wie Haugen sieht er die Gefahr, dass Plattformen wie Facebook diese Schlupflöcher ausnutzen werden, um alles Mögliche zur Verschlusssache zu erklären.
Die Regelung für personalisierte Werbung im DSA (Artikel 24) war einer der größten Streitpunkte im Europaparlament (Europe.Table berichtete). Sozialdemokraten, Linke und Grüne konnten sich hier im Kompromisstext nicht mit ihrer Forderung nach einem vollständigen Verbot durchsetzen. Stattdessen soll die umstrittene Werbe-Praxis nur für Minderjährige vollständig verboten werden. Ihre personenbezogenen Daten sollen “nicht für kommerzielle Zwecke verarbeitet werden, die mit dem Direktmarketing, Profiling und der auf Analyse des Surfverhaltens basierende Werbung zusammenhängen”.
Personenbezogene Daten von volljährigen Nutzer:innen sollen von den Online-Plattformen außerdem nicht automatisch für den Zweck der personalisierten Werbung verarbeitet werden dürfen. Mit Verweis auf die Datenschutzgrundverordnung sollen die Plattformen ihren Nutzer:innen “aussagekräftige Informationen” zur Verfügung stellen, darunter die Information, wie ihre Daten zur Gewinnerzielung genutzt werden. So sollen diese eine informierte Zustimmung geben können. Bei dieser darf es nicht schwieriger oder zeitaufwendiger sein, die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten abzulehnen.
Damit fällt die Position des EU-Parlaments zu personalisierter Werbung im Digital Services Act etwas schwächer aus als im Digital Markets Act (DMA). Hier treten die Europaabgeordneten dafür ein, dass es Online-Plattformen nur dann erlaubt ist, persönlichen Daten für Werbezwecke zusammenzuführen, wenn die Nutzer:innen ihre “klare, ausdrückliche, wiederholte und informierte Zustimmung” erklärt haben (Europe.Table berichtete). Der DMA-Kompromisstext von Berichterstatter Andreas Schwab (CDU, EVP) sieht ebenfalls vor, die Verarbeitung von persönlichen Daten, die Aufschluss über politische Meinungen, den religiösen Glauben oder die sexuelle Orientierung geben, strikt zu begrenzen.
Regulatorisch relatives Neuland sind die Anforderungen im Kompromissvorschlag zur Nutzer-Oberflächen-Gestaltung durch die Anbieter. Unter dem Stichwort Dark Patterns bekannt geworden (Europe.Table berichtete), soll Anbietern künftig eine Gestaltung der Nutzeroberflächen untersagt werden, die Nutzer dazu verleitet, unbewusst vorgebliche Einwilligungen in Datenverarbeitungen oder Geschäftsbedingungen zu erteilen (Art. 13a).
Auch der Versuch, nicht erteilte Einwilligungen durch wiederholte Abfragen etwa per Pop-Up-Fenster doch noch zu erlangen, soll laut Kompromiss verboten sein soll – allerdings nicht vollständig. Die genaueren Regeln hierfür soll die EU-Kommission in einem delegierten Rechtsakt erlassen.
Zugleich soll es den Nutzern deutlich einfacher gemacht werden, die Vertragsbeziehung zum Anbieter zu beenden: Dies müsse so einfach sein wie der Abschluss des Vertrages. Insgesamt setzt der Berichterstatter-Kompromissvorschlag auf eine deutliche Stärkung der Informationspflichten für Nutzer im Digital Services Act: Vertragsbedingungen müssen zusätzlich zur juristischen Variante auch in menschen- und maschinenlesbarer Sprache zusammengefasst werden – ein Anspruch, der auch manchem EU-Rechtsetzungsakt guttun würde.
Maschinenlesbare Zusammenfassungen könnten eine Prüfung durch Hilfsprogramme erleichtern, die juristisch weniger bewanderten Nutzern besonders problematische Inhalte signalisieren können. Änderungen an Vertragsbedingungen sollen zudem leicht erkennbar werden, insbesondere dann, wenn sie von Nutzern zur Verfügung gestellte Inhalte und die Nutzungsrechte daran betreffen. Sofern sich Anbieter vorwiegend an Minderjährige richten, sollen sie ihre Geschäftsbedingungen auch in altersgerechter Sprache aufbereiten müssen.
Kompliziert bleibt mit den Vorschlägen der EU-Berichterstatter weiterhin das Gefüge zwischen den Aufsichtsinstanzen für den Digital Services Act. Grundsätzlich gilt: Jeder Mitgliedstaat benennt eine Aufsichtsbehörde, den sogenannten Digital Services Coordinator (DSC), der für die Durchsetzung gegenüber den im jeweiligen Gebiet ansässigen Anbieter federführend zuständig ist. Für bestimmte, vor allem große Anbieter, soll die EU-Kommission diese Aufsicht durchführen.
Aufbauend auf der Erfahrung mit den Durchsetzungsdefiziten der Datenschutzgrundverordnung sind im DSA auch konkrete Kooperationsmechanismen vorgegeben und weitere Regeln für die Anforderungen an die DSC vorgesehen. Da dies aber mitgliedstaatliches Recht berührt, enthält der DSA Regelungen, die die Nationalstaaten umsetzen müssen. Über dieses Thema hatte auch der Rat bei seiner Positionierung bereits intensive Debatten geführt (Europe.Table berichtete).
Die Ausstattung der jeweiligen DSCs ist dabei ein wichtiger Punkt, damit die Arbeitsfähigkeit gewährleistet ist. Auch die konkreten Rechte, die DSCs haben müssen, um die Regeln auch effektiv durchsetzen zu können: So sollen die Mitgliedstaaten etwa die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen schaffen, damit die Behörden im Fall einer Untersuchung alle relevanten Informationen von Anbietern binnen drei Monaten abfordern können.
Die Digital Service Coordinators sollen EU-weit möglichst gut zusammenarbeiten. Unter anderem dafür soll es einen gemeinsamen Ausschuss geben, der auch Streitfälle entscheiden kann. Der Parlamentskompromiss sieht dafür vor, dass die Kommission diesem Ausschuss vorsitzt – allerdings ohne Stimmrecht.
Die DSCs sollen – abhängig vom nationalen Recht – auch Strafen durch Gerichte einleiten oder selbst aussprechen, wenn Anbieter die DSA-Regeln verletzen. Bei besonders großen Anbietern soll dies unmittelbar die Kommission durchsetzen. Um einem akuten Missstand abzuhelfen, sollen DSCs und Kommission auch vorläufige Maßnahmen ergreifen dürfen. Sahen Zwischenstände hier noch einen bestimmten Katalog vor, ist davon nun die vage Maßgabe geblieben, dass die Maßnahmen verhältnismäßig sein müssten.
Teil der Maßnahmen sind auch Bußgelder, deren Höhe durchaus empfindlich ausfallen soll. Der Kompromissvorschlag sieht maximal sechs Prozent des weltweiten Vorjahresumsatzes als Strafe für grobe Verstöße gegen den DSA vor, bei kleineren Verstößen soll die Maximalhöhe ein Prozent betragen. Bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten schlagen die Parlamentsberichterstatter periodische Strafen in Höhe von maximal fünf Prozent des durchschnittlichen täglichen Vorjahresumsatzes vor – nachdem vorangegangene Vorschläge erst zehn, dann sechs Prozent vorsahen. Diese Bußgelder würden so lange fällig, bis den Verpflichtungen nachgekommen wird, sind also zur Erzwingung der Mitwirkung gedacht.
Die Veränderungen bei der Höhe der vorgesehenen Strafen kritisiert der Linken-Abgeordnete Schirdewan: Die Absenkung sei für ihn unverständlich, “da lediglich harte Strafen die arroganten Regelverstöße der digitalen Unternehmen aufhalten. Die konservativen Kräfte im Parlament müssen endlich aufwachen und ihren Kuschelkurs mit Big Tech beenden.” Jasmin Kohl / Falk Steiner
Nachdem EU und Mitgliedstaaten zu Beginn der Corona-Pandemie schlecht vorbereitet waren, will man sich nun mit einer Reihe von Maßnahmen auf künftige Gesundheitskrisen vorbereiten. Neben der Ausweitung der Mandate der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) wurde im September 2021 eine neue Gesundheitsbehörde namens HERA (Health Emergency Preparedness and Response Authority) ins Leben gerufen.
Nach der Beschlussvorlage der EU-Kommission soll die neue Agentur die “Entwicklung, Herstellung, Beschaffung und Verteilung von medizinischen Produkten” im Krisenfall sicherstellen. Außerhalb der Krisenzeiten soll sie etwa Gefahren analysieren, Gegenmaßnahmen entwickeln, eine langfristige Strategie für den Aufbau von Herstellungskapazitäten auf den Weg bringen, Engpässe in den Lieferketten beseitigen und die Bevorratungskapazitäten erhöhen. HERA soll voraussichtlich 2022 voll einsatzfähig sein. Bis 2027 stehen HERA sechs Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zur Verfügung.
Doch während die Befugniserweiterungen für EMA und ECDC überwiegend im Einvernehmen und weitgehend geräuschlos über die Bühne gingen, sorgt nun HERA und die dazugehörige Krisenverordnung für Spannungen zwischen EU-Kommission und dem Rat sowie dem EU-Parlament. Denn die neue Behörde ist nicht als eine eigenständige Agentur konzipiert, sondern als Generaldirektion innerhalb der EU-Kommission angesiedelt.
Damit verfügt HERA über große Autonomie und genießt insbesondere in Krisenzeiten weitreichende Befugnisse. Wenn eine epidemische Lage festgestellt wird, soll ein HERA-Krisenstab die Gegenmaßnahmen koordinieren und lenken. Dazu gehören etwa Medikamenten- und Rohstoffbeschaffung sowie die Verteilung. Der HERA-Krisenstab ist aber auch befugt, Produktionskapazitäten in die EU zu verlagern und direkt mit den Herstellern zu verhandeln.
Bereits vergangene Woche zeichnete sich ab, dass eine politische Einigung zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten in die Ferne rückt. Das bestätigte sich in der gestrigen Ratssitzung. Ursprünglich sollten die Gesundheitsminister die Beschlussvorlage der Kommission billigen. Stattdessen kam es lediglich zu einer Aussprache. Zwar befürworteten alle Vertreter der Mitgliedsstaaten die Einrichtung der Behörde im Grundsatz. Viele der anwesenden Gesundheitsminister, darunter der scheidende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, forderten jedoch ein umfangreiches Mitspracherecht bei den Entscheidungen der HERA.
“Wir brauchen klare Zuständigkeiten und Mitentscheidungsrechte der Mitgliedstaaten, sowohl in der Vorbereitungsphase als auch im Krisenmodus”, sagte Spahn bei seinem letzten Auftritt auf dem EU-Parkett. Eine ausschließlich beratende Funktion der Mitgliedstaaten sei nicht akzeptabel. Er regte an, sich bei der Ausgestaltung der Governance am Vaccine Steering Board zu orientieren, dem EU-Lenkungsgremium für die Beschaffung von Corona-Impfstoff. Das Gremium sei ein gelungenes Beispiel für eine schnelle und verlässliche Zusammenarbeit zwischen Mitgliedsstaaten und Kommission im Krisenfall.
Die anwesende EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides verteidigte zunächst die Ausgestaltung von HERA. Sie sei ein Global Player und müsse entsprechend befugt werden, um in Krisenzeiten schnell und effizient handeln zu können. Angesicht der Einwände seitens der Mitgliedsstaaten sicherte sie jedoch zu, die offenen Fragen insbesondere zur Ausgestaltung der Verwaltungsstrukturen diskutieren zu wollen.
Eine kurzfristige Einigung im Rat ist eher unwahrscheinlich. Eine politische Einigung über die HERA-Krisenverordnung wird dem Vernehmen nach erst abschließend erfolgen, wenn die Verhandlungen zur Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren abgeschlossen ist. Diese sollen allerdings erst im kommenden Jahr unter dem französischen Ratsvorsitz weitergehen.
Auch aus dem EU-Parlament kommt teils heftige Kritik. Viele Europaabgeordnete bemängeln, sie seien vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Während einer Sitzung des Gesundheitsausschusses (ENVI) Ende Oktober äußerten die EU-Abgeordneten außerdem Bedenken, dass 2,8 Milliarden der 5,1 Milliarden Euro im EU4Health-Programm für HERA vorgesehen seien und damit weniger finanzielle Mittel für andere Prioritäten zur Verfügung stünden.
Folgerichtig hat das Europäische Parlament in seiner Sitzung Mitte November 2021 für Transparenz und enge Zusammenarbeit bei allen Maßnahmen gestimmt. Außerdem soll nach dem Willen des Plenums das neue EU-Gremium für gesundheitliche Notlagen an die künftige Verordnung über grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen angepasst werden.
Darüber hinaus sollte ein Vertreter des Europäischen Parlaments aktives Mitglied im Krisenstab der HERA sein. “Wir wollen uns aktiv an der Regierungsführung beteiligen, um die Handlungen und Entscheidungen dieser Behörde im Namen des Parlaments zu leiten”, forderte Véronique Trillet-Lenoir, Berichterstatterin zur Verordnung über schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren. “Wir wollen Kohärenz, Transparenz, Koordinierung und Einheit innerhalb unserer europäischen Gesundheitspolitik gewährleisten.”
Für Chinas Zollbeamte existierte der Staat Litauen einige Tage lang offenbar nicht. Ein litauischer Holzexporteur berichtete in einem Nachrichtenportal von 300 Containern, die vor chinesischen Häfen feststeckten. Auch weitere litauische Firmen meldeten, dass ihre Ware nicht vom Zoll abgefertigt werde. “Es scheint, als gebe es unser Land im chinesischen Zollsystem nicht mehr“, erklärte Vidmantas Janulevičius, Präsident des litauischen Industriellenverbandes.
Ladungen aus Litauen konnten in China nicht mehr gelöscht werden, umgekehrt kamen keine Exporte aus China nach Litauen – keinerlei Handel war möglich. Am Dienstag dann die Entwarnung: In den Computern der chinesischen Zollbeamten fand sich der baltische Staat wieder, wie Janulevičius der South China Morning Post (SCMP) bestätigte. Von einem technischen Fehler sei die Rede gewesen.
Technischer Fehler oder Machtgebärde – für Vilnius und Peking ist der Vorgang der neueste Akt im Streit um das “Taiwan”-Büro in der litauischen Hauptstadt (China.Table berichtete). Bei der Auseinandersetzung des kleinen EU-Staats mit gut 2,8 Millionen Einwohnern gegen den Riesen China geht es um mehr als Holzlieferungen – für Litauen ist China kein wichtiger Handelspartner.
Die Vorgänge sind vielmehr ein Test für die Regeln der internationalen Handelsordnung. Zudem steht die Frage im Raum, wie auf wirtschaftliche Nötigung durch die Volksrepublik oder andere Länder gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union reagiert werden kann. Für Brüssel liefert Chinas Handeln gerade das perfekte Paradebeispiel für ein neues Instrument gegen wirtschaftliche Strafaktionen, das am Mittwoch offiziell vorgestellt werden soll.
Um China, aber auch den USA und ihren Strafzöllen, nun die Stirn zu bieten, wird die EU heute ihre neuen Abschreckungsmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken vorstellen: das sogenannte Anti-Coercion Instrument (ACI). Dieses ziele auf Staaten ab, die “in legitime souveräne Entscheidungen” der EU oder ihrer Mitgliedsstaaten eingreifen, “indem sie Maßnahmen ergreifen oder androhen, die den Handel oder die Investitionen beeinträchtigen”, wie es in einem Entwurf heißt.
Was enthält der Vorschlag:
Der Vorschlag der EU-Kommission soll am Mittwoch von EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis offiziell vorgestellt werden. Die Vorlage wird dann dem Europaparlament und dem EU-Rat zur Bewertung vorgelegt. Es kann also noch zu Änderungen kommen.
Hat die EU mit ACI vielleicht das goldene Schwert gegen Chinas Handelsmobbing gefunden? Eher nicht, sagt Viking Bohman vom Swedish National China Centre in einem Bericht. Erstens, argumentiert Bohman, ist es unwahrscheinlich, dass Chinas aggressive Diplomatie durch eine Androhung von Strafen abgeschreckt wird. So werde eher ein Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen beginnen. Bei ungeschickter Anwendung könnte sich die EU also selbst schaden. Zweitens, so Bohman, könne ACI nicht gegen Zwangshandlungen eingesetzt werden, die weder vom Angreifer noch vom Ziel öffentlich gemacht werden und so die EU-Kommission auf den Plan rufen.
Besser als Vergeltungsmaßnahmen sei “Absorption”, heißt es in dem Bericht des China Centers: Mitgliedsstaaten wie Litauen, deren Handel mit China durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen blockiert sei, müssten Hilfe bekommen, andere Lieferketten zu entwickeln. Auch ein finanzieller Ausgleich durch einen Solidaritätsfonds könnte Nötigung demnach abfedern.
Bohman sieht auch die bei der Kommission liegende Umsetzungskompetenz kritisch: “Ich bezweifle ernsthaft, dass es so bleiben wird. Die EU-Mitgliedstaaten werden bei der Nutzung des Instruments mitreden wollen.” Die sich ergebenden Probleme mit China seien “hochgradig politischer Natur”.
Ähnlich sieht es auch Jonathan Hackenbroich, Leiter der Taskforce der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), die wichtige Impulse im Erarbeitungsprozess von ACI gegeben hat. Die Mitsprache der Mitgliedsländer sei nun eine große Frage – und ob das Vorhaben im Rahmen der Verhandlungen verwässert wird. Darin sieht Hackenbroich ein Risiko: “Wenn es letztendlich zu einem ‘Kleinsten-gemeinsamer-Nenner’-Instrument wird, wäre das schlecht.” Auch Bedenken, dass es durch ACI zu Protektionismus kommen kann, stellen Hackenbroich zufolge ein Risiko für die EU dar. Hier müsse nun die richtige Balance gefunden werden.
Auch die Effektivität der vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ist für Hackenbroich noch fraglich. Die US-Regierung unter Trump habe auch Strafzölle eingesetzt, zu einer Verhaltensänderung bei China habe das aber kaum geführt.
Die Wirtschafts- und Finanzminister der EU haben sich bei ihrem Treffen am Dienstag auf neue Mehrwertsteuersätze geeinigt. Flexiblere Vorgaben und neue Vergünstigungen sollen dazu beitragen, das Steuersystem an die EU-Prioritäten beim Klima- und Gesundheitsschutz sowie bei der Digitalisierung anzupassen.
So sollen in der EU niedrigere Steuersätze beispielsweise für Fahrräder, umweltfreundliche Heizsysteme oder Solaranlagen möglich sein. Bestehende Ermäßigungen auf fossile Brennstoffe und andere klimaschädliche Waren sollen hingegen bis 2030 auslaufen. Für chemische Düngemittel und Pestizide sollen die geringeren Steuern noch bis zum 1. Januar 2032 beibehalten werden, um insbesondere Kleinbauern mehr Zeit für die Anpassung zu geben.
Die Vereinbarung soll es den EU-Staaten außerdem ermöglichen, verringerte Steuersätze auch auf Waren und Dienstleistungen anzuwenden, die der Wirtschaft die digitale Transformation ermöglichen – darunter Internetzugänge und Angebote zum Live-Streaming von Veranstaltungen. Auch für Produkte zum Gesundheitsschutz wie beispielsweise medizinische Masken sollen Steuerermäßigungen möglich sein.
Für bestimmte Produkte nutzen die Mitgliedsländer bereits einen verringerten Steuersatz als den EU-weiten Mindeststandard von 15 Prozent. Diese Liste wurde nun angepasst. “Damit werden wir den Herausforderungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft gerecht”, sagte Valdis Dombrovskis, Vizepräsident der EU-Kommission. Die Brüsseler Behörde hatte bereits vor vier Jahren einen Vorschlag zu ermäßigten Mehrwertsteuersätzen gemacht. Das bestehende System ist rund 30 Jahre alt. Nach einer Stellungnahme durch das Europäische Parlament sollen die neuen Steuerregeln ab März 2022 in Kraft treten. til/rtr
Die EU-Kommission wird bis Jahresende voraussichtlich nicht mehr die Mittel aus dem Corona-Aufbauinstrument für Polen freigeben. “Es ist unwahrscheinlich, dass wir diese Arbeit noch in diesem Jahr abschließen können, aber die Fortschritte in der Sache bestimmen das Tempo”, sagte Vizepräsident Valdis Dombrovskis am Dienstag.
Hintergrund ist der Streit um die Justizreformen der PiS-Regierung in Warschau (Europe.Table berichtete). Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Bedingungen für die Freigabe der insgesamt 36 Milliarden Euro genannt, die Polen aus dem EU-Topf zustehen. Ohne grünes Licht bis Jahresende entgeht Warschau ein Teil der Summe.
Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte am Dienstag an, sich um die Entschärfung des Konflikts zwischen der EU und Polen zu bemühen. “Ich bin sehr froh, dass Polen Teil der EU ist”, betonte der SPD-Politiker. Er habe ein gutes Gespräch mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki in Berlin geführt. Scholz äußerte Verständnis für das polnische Verhalten im Streit um die Flüchtlinge, die über Belarus an die EU-Außengrenze gelangen. Er setze darauf, dass man auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit zu gemeinsamen Erkenntnissen komme.
Der designierte Vizekanzler Robert Habeck sagte, man tue Polen und Ungarn unrecht, wenn man sie als Problem bezeichne. Gerade in Polen gebe es eine sehr lebendige Zivilgesellschaft, die eine andere Politik als die Regierung in Warschau wolle. Es sei Aufgabe der EU-Kommission, auf die Achtung der Rechtsstaatlichkeit als Basis der EU zu achten, sagte der Grünen-Politiker. Deutschland solle die Kommission dabei unterstützen. Im Ampel-Koalitionsvertrag wird eine entschiedenere Durchsetzung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gefordert. tho/rtr
Der Energiekonzern RWE hat für den Handel mit Wasserstoff eine Zusammenarbeit mit dem russischen Gaskonzern Novatek vereinbart. Geplant sei, dass Novatek “blauen” Ammoniak und Wasserstoff an RWE liefere, teilten die Essener am Dienstag mit. Der Wasserstoff solle aus Erdgas mithilfe einer Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS) produziert werden. RWE können diesen dann an seine Kunden im Inland und im restlichen Europa liefern. Die Grundsatzvereinbarung sehe auch eine engere Zusammenarbeit der Unternehmen im Geschäft mit Flüssiggas (LNG) vor.
Klimaschonender Wasserstoff spielt eine Schlüsselrolle bei der Energiewende, da mit ihm klimaschädliches Kohlendioxid ersetzt werden kann. Ziel ist die Produktion von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien, sogenannter grüner Wasserstoff. Da die benötigte Menge wohl zunächst nicht den Bedarf decken kann, könnte übergangsweise blauer Wasserstoff produziert werden. Die CCS-Methode sorgt dabei für eine Minderung des CO2-Ausstoßes.
Die Absicherung der schwankenden Ökostromerzeugung könnten Gaskraftwerke übernehmen, die ebenfalls bei der Produktion auf grünen Wasserstoff zurückgreifen. “Doch bis es so weit ist, werden Zwischenlösungen wie Gas, LNG und blauer Wasserstoff benötigt”, sagte der Leiter des LNG-Geschäfts von RWE Supply & Trading, Javier Moret. rtr
Die USA sind einem Insider zufolge mit Deutschland übereingekommen, im Falle einer russischen Invasion der Ukraine die umstrittene Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen zu lassen. Dies hätten US-Regierungsvertreter Abgeordneten gesagt, erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag von einem Kongressmitarbeiter.
Abgeordnete beider großer US-Parteien sehen die Gasleitung seit längerem kritisch. Sie befürchten, dass sich Europa damit in eine zu große Abhängigkeit von Russland begibt. Die Regierung in Moskau weist Invasionspläne in der Ukraine-Krise zurück. Am Dienstag sprachen Präsident der USA Joe Biden und sein russischer Kollege Wladimir Putin nach US-Angaben in einem Videogipfel unter anderem über das Thema Nord Stream 2.
Am Dienstag hatte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz eine direkte Antwort darauf vermieden, ob ein Einmarsch Russlands in der Ukraine das Aus für die Pipeline bedeuten würde. Es müsse aber “ganz, ganz klar sein”, dass eine weitere Bedrohung der Ukraine inakzeptabel sei. Das Prinzip der Unverletzbarkeit von Grenzen müsse gewahrt bleiben. Der für die Energiepolitik künftig zuständige Grünen-Vorsitzende Robert Habeck betonte, dass der Konflikt nur diplomatisch gelöst werden könne. Der Betrieb der Nord Stream 2-Pipeline sei noch nicht genehmigt.
Bereits am Montag hatte Regierungssprecher Steffen Seibert für die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel betont: Die gemeinsame Erklärung von Ende Juli lege “die gemeinsamen Überzeugungen und Ziele Deutschlands und der Amerikaner in der Frage der Unterstützung der Ukraine und der europäischen Energiesicherheit in Bezug auf Nord Stream 2” fest. Es sei aber nicht an der scheidenden Bundesregierung, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Welche rechtlichen Möglichkeiten für die Versagung der Inbetriebnahme überhaupt bestehen, wenn die Betreibergesellschaft das derzeit ruhende Zulassungsverfahren bei der Bundesnetzagentur weiter vorantreibt, konnte das zuständige Bundeswirtschaftsministerium jedoch nicht mitteilen. mit rtr
Twitter wird seine Meldemöglichkeiten für potenziell schädliche Tweets überarbeiten. Das kündigte das US-Unternehmen am Dienstag an. Ziel sei es, den Grund für die Meldungen besser beschreibbar zu machen.
Wie bei der Kurznachrichtenplattform üblich soll erst ein kleiner Kreis von Nutzern die veränderten Möglichkeiten testen. In den Vereinigten Staaten kommt Twitters Vorhaben zu einem Zeitpunkt, an dem die Technologieunternehmen wie Twitter, Facebook oder Youtube intensiver Kritik ausgesetzt sind, zu wenig gegen schädliche oder Hass schürende Inhalte zu tun.
Künftig sollen Twitter-Nutzer nicht mehr angeben, gegen welche der Nutzungsbedingungen der Firma verstoßen wurde. Sondern unter anderem, ob sie sich von Hass, Beleidigungen oder Einschüchterungen betroffen gefühlt haben. Zudem sollen Nutzer in eigenen Worten beschreiben können, warum sie einen Inhalt gemeldet haben, so Twitter. Der speziell für Nutzer in der Bundesrepublik existierende Weg der Meldungen nach Netzwerkdurchsetzungsgesetz existiert in den USA nicht.
Twitter möchte mit dem neuen Verfahren genauere Informationen zu Tweets sammeln, die keinen offensichtlichen Verstoß gegen die Nutzungsbedingungen darstellen, aber von anderen Nutzern als problematisch oder empörend empfunden werden. Dies solle bei der Weiterentwicklung der hauseigenen Regeln Berücksichtigung finden.
In der EU wird die Plattform aller Voraussicht nach künftig auch unter die Regelungen des Digital Services Act fallen, der mit spezifischen Vorschriften zum Umgang der Betreiber mit potenziell problematischen Inhalten weit über die in den USA gesetzlich erforderlichen Maßnahmen hinausgehen wird. (fst/rtr)
Knapp vier Jahre ist es erst her, da hatte sich schon einmal eine neue Bundesregierung einen “neuen Aufbruch” für Europa auf die Fahnen geschrieben. Nur so werde Deutschland langfristig Frieden, Sicherheit und Wohlstand für seine Bürger garantieren können, hieß es 2018 auf den ersten Seiten des Koalitionsvertrags. Nach Amtsantritt wurde besagter Aufbruch dann schnell wieder abgesagt. Stattdessen verwalteten die Koalitionäre in Deutschland lieber den Status quo – nicht nur in der Europa-, sondern auch in der Außenpolitik.
Nun möchte die Ampel-Koalition, die in dieser Woche startet, “mehr Fortschritt wagen” und auf dem Papier liest sich das alles sehr gut. Zwar beginnt der Abschnitt zu Europa und Außenpolitik erst auf Seite 130, aber das starke europapolitische Bekenntnis von SPD, Grünen und FDP zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Dokument.
Die Koalitionäre möchten sich für eine demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU einsetzen und haben ein “dienendes Verständnis” von der deutschen Rolle in der EU. Deutsche Interessen definieren sie im Lichte europäischer Interessen. Neben konkreten Vorschlägen zur Weiterentwicklung Europas wagen sie sich sogar an die Formulierung von Visionen – wahrscheinlich der klarste Bruch zur Ära Merkel – und sprechen von der Weiterentwicklung der Union zu einem “föderalen europäischen Bundesstaat”.
Die Ampel will ihre Außenpolitik europäisieren. Keine Alleingänge, mehr Absprachen mit Partnern. Gegenüber Autokratien schlägt die neue Bundesregierung forschere Töne an – besonders gegenüber China, aber auch das Verhältnis zu Russland ist merklich abgekühlt. Im Systemwettbewerb mit autoritär regierten Regimen soll Deutschlands Außenpolitik primär von demokratischen Werten, und nicht etwa von wirtschaftlichem Profit, geleitet werden.
In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik besteht der Fortschritt vor allem darin, dass die SPD einige ihrer langjährigen Blockaden überwunden hat: Ja zu bewaffneten Drohnen, ja zur Beschaffung eines Nachfolgesystems für das Kampfflugzeug Tornado – wer hätte nach den vergangenen vier Jahren gedacht, dass sich die Partei dazu einmal durchringen könnte. Es sieht alles so aus, als könne der neue Aufbruch für die deutsche Europa- und Außenpolitik zum guten Schluss doch noch gelingen.
Drei Faktoren könnten dem Fortschritt aber im Wege stehen:
Erstens hat Olaf Scholz im Wahlkampf nicht nur so getan, als verkörpere er die Kontinuität der pragmatischen und nüchternen Kanzlerin. Gerade in der Außenpolitik vertrat er in der Vergangenheit sehr oft die Merkel-Linie. Nicht umsonst betonte SPD-Generalsekretär und bald Parteivorsitzender Lars Klingbeil im September 2021, dass Scholz’ Chinapolitik eher derjenigen Merkels ähneln werde, als der US-Politik gegenüber China.
In der Russlandpolitik steht die SPD wie keine andere Partei hinter der Nord Stream 2-Pipeline. Die von Gasprom finanzierte, landeseigene “Umweltstiftung” der sozialdemokratischen Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, arbeitete sogar fleißig daran mit, die umstrittene Gaspipeline trotz US-amerikanischer Sanktionsdrohungen fertigzubauen. Anders als die Grünen und die FDP will die SPD in der China- und Russlandpolitik mehr realpolitischen Status quo – mit einem Fokus auf wirtschaftliche Interessen – als menschenrechtsgeleiteten Fortschritt. Und weil China- und Russlandpolitik auch in Zukunft primär im Kanzleramt gemacht wird, sind Konflikte programmiert.
Zweitens herrscht auch in entscheidenden Feldern der Europapolitik unter den Koalitionären keine Einigkeit. Konnte der Koalitionsvertrag Fragen wie eine Flexibilisierung der europäischen Schuldenregeln noch großzügig mit Watte zudecken, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen, wie sehr ein Finanzminister Lindner die Fortschrittsgedanken von SPD und Grünen bei der Weiterentwicklung EU-fiskalpolitischer Regeln teilt.
Drittens fuhr Merkel in der Europapolitik nicht nur deshalb “auf Sicht”, weil es ihrem Naturell entsprach. Angesichts der vielen Fliehkräfte, die sich im Erstarken nationalistischer und EU-kritischer Akteure manifestierten, war es erklärte deutsche Priorität, die Union zusammenzuhalten. Die Mitgliedstaaten der EU sind mit Blick auf weitere Integrationsschritte tief gespalten.
Auch wenn aus Berlin zukünftig ambitioniertere Ideen kommen, heißt dies noch lange nicht, dass sie bei den europäischen Partnern auch auf fruchtbaren Boden fallen. Es wird auch weiter deutsches Interesse sein, eine Vertiefung von Interessenskonflikten zu vermeiden und Norden, Süden, Osten und Westen der EU bei der Stange zu halten. Das spricht eher für das langsame Bohren dicker Bretter als für schnelle Reformfortschritte.
Blickt man auf die vergangenen Jahre der Europa- und Außenpolitik Deutschlands zurück, so fällt auf, dass es am Ende Krisen und Ereignisse waren, die die deutsche Politik bestimmt haben. Als 2013 die Große Koalition ins Amt kam und wenig später die Maxime ausgab, Deutschland müsse sich international “früher, entschiedener und substanzieller” einbringen, rechneten nur wenige damit, dass Berlin verteidigungspolitisch anders agieren würde als bisher. Dann annektierte Russland die Krim und der Islamische Staat rief in Teilen Syriens und des Iraks das Kalifat aus. Einige Zeit später führte Deutschland in Litauen ein Bataillon an und unterstützte die kurischen Peschmerga mit Waffen und Munition.
Zu Beginn des Jahres 2021 galt es als abwegig, dass die Bundesrepublik einmal die gemeinsame Aufnahme von Schulden durch die EU nicht nur unterstützen, sondern sogar maßgeblich initiieren würde. Die Corona-Pandemie machte es möglich.
Harold Macmillan, von 1957 bis 1963 britischer Premierminister, wurde einmal gefragt, was das schwierigste Problem seiner Amtszeit war. Seine Antwort: “Events, my dear boy, events”. Damit mehr Fortschritt in der Europa- und Außenpolitik Deutschlands gelingen kann kommt es deshalb nicht nur darauf an, den richtigen Kompass zu haben. Den hat die Ampel mit dem Koalitionsvertrag vorgelegt. Sondern auch darauf, Gelegenheiten beim Schopfe zu packen und die Möglichkeiten zu einer Veränderung des Status quo dann zu nutzen, wenn sich die Chance bietet.
Der Text ist Teil einer Kooperation zwischen Europe.Table und dem Annual Council Meeting des ECFR.
Die Europäische Zentralbank will nach 20 Jahren die Gestaltung der Euro-Banknoten überarbeiten. Wie dies genau erfolgen soll, ist derzeit noch offen. Bislang haben die Banknoten stilisierte europäische Symbolik enthalten – und nicht, wie sonst in Europa oft üblich, die Konterfeis wichtiger Menschen.
Sie sollten so gestaltet werden, dass sich Europäer unabhängig von Alter oder Hintergrund besser mit ihnen identifizieren könnten, sagte EZB-Chefin Christine Lagarde. Dazu sollen Bürgerinnen und Bürger nun Vorschläge einreichen können. Doch Vorsicht!
Leider sind unumstrittene gesamteuropäische Köpfe rar. So würde etwa um Marie Skłodowska-Curie oder Fryderyk Franciszek Chopin, auch Szopin genannt, absehbar ein Streit entbrennen, ob sie jetzt Polen oder Frankreich oder gar die gesamte Eurozone repräsentieren. Noch schwieriger daran: nur die französische Deutung wäre in der Eurozone – und Polen wäre im eigenen Empfinden wieder einmal verloren.
Doch wer oder was steht für das Baltikum, Portugal, Niederlande, Irland und Griechenland zugleich und ist zudem auch noch traditionsfähig?
Wir hätten da drei Vorschläge im Angebot, mit welchen Symbolen Europas Bürgerinnen und Bürger ihre Eurozone wohl am besten auf ihren Geldscheinen wiedererkennen würden:
Zugegebenermaßen: Alles recht konservative Vorschläge.
Ein modernerer Ausweg aus Lagardes Dilemma wäre: Der digitale Euro muss endlich her. Einer, der sich über das europäische Satellitensystem Galileo seinen Koordinaten anpasst und in jedem Eurozonenmitgliedsland andere Symbole darstellt, damit möglichst alle zufrieden sind. Und als Beifang wäre damit auch noch ein Grund gefunden, eine bessere Nachverfolgbarkeit von Geldtransfers zu schaffen. Falk Steiner