Climate.Table Interview Vereinte Nationen

„Mit Klimapolitik wird auch globale Machtpolitik betrieben“

Annalena Baerbock analysiert nach der COP30 die Geopolitik der Klimakrise: Die UN müssten sich reformieren, Klimapolitik werde dabei immer wichtiger. Die Präsidentin der UN-Generalversammlung warnt davor, sich um „jedes Zehntelgrad Erwärmung zu streiten“.

01. Dezember 2025
Die Präsidentin der UN-Generalversammlung, Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), besucht am Rande der Weltklimakonferenz eine Kakaofarm auf der Insel Combu, die direkt vor Belém liegt.
Annalena Baerbock zu Besuch auf der COP30 in Belém. (picture alliance/dpa | Larissa Schwedes)

Frau Baerbock, bei der COP30 gab es eine Einigung bei der Anpassung, aber keinen Konsens über einen Fahrplan für den fossilen Ausstieg. Reicht das, um die Welt vor der Erderhitzung zu retten?

Die wichtigste Botschaft ist: Trotz all der globalen Turbulenzen gibt es kein Zurück mehr beim Klimaschutz. Wir haben die Lösungen für die Klimakrise, überall auf der Welt. Nicht nur die übergroße Mehrheit der Staaten ist sich einig, dass die Zukunft auf sauberen Energien beruht, sondern vor allem die globalen Finanzakteure. Erneuerbare Energien machten im vergangenen Jahr 90 Prozent des weltweiten Stromausbaus aus. Und das Gastgeberland Brasilien hat verdeutlicht, dass Klimaschutz, Regenwaldschutz und wirtschaftliche Entwicklung durchaus Hand in Hand gehen können, wenn der politische Wille da ist. Zugleich kann natürlich auch eine Klimakonferenz die globale Lage nicht ausblenden. Entsprechend war in Belém bei der Frage weiterer Verpflichtungen nur der kleinste gemeinsame Nenner möglich. Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Klimakrise überall auf der Welt kann man darüber alles andere als jubeln.

Sie waren selbst kurz auf der Konferenz. Was war da Ihre Aufgabe als Präsidentin der Generalversammlung der Vereinten Nationen?

Deutlich zu machen, wie sehr Klimaschutz mit den drei Säulen der Vereinten Nationen verbunden ist: Frieden und Sicherheit, nachhaltige Entwicklung sowie Menschenrechte. Die Klimakrise ist die größte Sicherheitsgefahr dieses Jahrhunderts. Ich bin nach Belém quasi direkt vom Weltsozialgipfel in Doha gekommen, wo sich die Staats- und Regierungschefs der Welt verpflichtet haben, unter anderem die Bekämpfung von Armut und Hunger bis 2030 zu erreichen. Das gelingt aber nur, wenn wir den Teufelskreis durchbrechen, dass die Auswirkungen der Klimakrise wie Dürren, Überflutungen oder zerstörerische Wirbelstürme in vielen Regionen von einem Tag auf den anderen Lebensgrundlagen komplett zerstören und damit Armut und Hunger weiter befördern.

Belém markiert auch den zehnten Geburtstag des Pariser Abkommens. Und immer noch steigen die Emissionen. Wie erfolgreich ist das Abkommen?

Aus diplomatischer Sicht ist seit dem Abschluss des Pariser Klimaabkommens 2015 ein kleines Wunder passiert. Denn zehn Jahre sind in der internationalen Politik eigentlich nichts. Während wir heute bei den Vereinten Nationen gar nicht mehr darüber diskutieren, ob Klimaschutz wichtig ist, weil wir ihn umsetzen, war das vor zehn Jahren beim Pariser Abkommen, wo ich als junge Abgeordnete vor Ort war, noch völlig anders. Das Wort „erneuerbare Energien“ tauchte nur einmal im Text auf; wer wie ich vom Kohleausstieg sprach, wurde verlacht.

Wie blicken Sie auf die COPs aus Ihrer neuen Position?

Wir sehen eine Gleichzeitigkeit von zwei gegensätzlichen Entwicklungen. Die Gute: Die Welt hat sich entschieden, aus den fossilen Energien auszusteigen. Und gleichzeitig spüren wir jeden Tag auf brutalste Weise, dass wir viel zu langsam beim Klimaschutz sind. Heute sind die COPs weniger reine Umwelt- und Klimakonferenzen, sondern auch Innovations- und Wirtschaftstreffen. Und weltweit haben die Finanzmärkte entschieden. 2024 wurden zwei Billionen US-Dollar in saubere Energie investiert, 800 Milliarden mehr als in fossile, die zudem gegenüber Solar noch subventioniert werden mussten. Da mögen manche die Klimakrise leugnen. Aber es gibt kein Zurück mehr. Denn kein Investor mag gestrandete Investitionen.

Die Vereinten Nationen stehen im Augenblick massiv unter Druck: Geldsorgen, Reformdebatte, ein neuer Generalsekretär oder eine neue Generalsekretärin werden gesucht. Welche Rolle spielt die Klimapolitik bei diesen Veränderungen?

Sie spielt eine große Rolle: Denn Klimapolitik ist mittlerweile Sicherheitspolitik, Energiepolitik, Wirtschaftspolitik und auch Sozialpolitik – das heißt sie betrifft alle Bereiche, gerade auch die so notwendigen Reformen des VN-Systems. Ohne Frage müssen die Vereinten Nationen effizienter, agiler werden. In 80 Jahren haben sich sehr viele Teilstrukturen gebildet. Es gilt, Doppelungen abzubauen und Synergien besser zu nutzen. Das Thema Klimafinanzierung ist ein starker Treiber dieser Reformen, denn klar ist: Ohne eine Reform der internationalen Finanzarchitektur, internationaler Entwicklungsbanken, der Weltbank und des IWF werden wir die nötigen Klimagelder niemals stemmen können; zugleich unterstützen diese Investitionen auch die Nachhaltigkeitsziele. Wenn Dörfer im Sahel durch Solaranlagen erstmalig elektrifiziert werden, hat das natürlich auch massiv positive Auswirkungen auf die Wasserversorgung oder die Schulen.

Der COP-Gastgeber Brasilien hat vorgeschlagen, künftig neben dem UN-Sicherheitsrat auch einen Klima-Sicherheitsrat einzurichten. Wie stehen Sie dazu?

Als Präsidentin der Generalversammlung vertrete ich alle Mitgliedstaaten, und Brasiliens Vorschlag wurde noch nicht tiefer erörtert. Aber sicherlich brauchen wir eine Diskussion darüber, wie wir die Lösungen beim Klimaschutz, die ja alle da sind, weltweit skalieren und miteinander verzahnen. Sei es beim Schutz des Regenwalds, wo Frauen nachhaltig wirtschaften, bei Solarenergie als günstigster Energiequelle in Afrika oder neuen Klimafonds. Belém war die COP der Implementierung. Zurecht haben die Gastgeber daher daran erinnert, dass man bei der globalen Umsetzung nicht mehr auf die Letzten warten kann, sondern es wieder eine Allianz der Vorreiter bräuchte. Zu definieren, wie das genau aussieht oder was das heißt, obliegt den Mitgliedstaaten und nicht mir als Präsidentin. So will es meine Rolle.

Die UN-Generalversammlung sucht immer mehr eine aktive Rolle in der Klimapolitik. Aus ihrer Mitte kam der Anstoß für die juristische Expertise (Advisory Opinion) des Internationalen Gerichtshofs, die die Staaten in diesem Jahr völkerrechtlich zu effektivem Klimaschutz verpflichtet hat. Nun drängen Staaten wie Vanuatu darauf, dass die Versammlung im Dezember oder Januar öffentlich zu dieser Entscheidung Stellung nimmt. Was hätte das für Konsequenzen?

Insbesondere Länder wie kleine Inselstaaten, für die es im wahrsten Sinne ums Überleben geht, haben bereits signalisiert, dass sie die Advisory Opinion des IGH auch in die Generalversammlung bringen wollen. Eine Resolution beispielsweise wäre dann neben der rechtlichen Verpflichtung auch eine politische. Dafür bräuchte es aber natürlich wieder Mehrheiten. Wobei anders als im COP-Prozess, wo alles auf Einstimmigkeit basiert, in der Generalversammlung auch mit Mehrheit entschieden werden kann.

Ist es nicht gefährlich, in einer so labilen Lage der Vereinten Nationen große Reformen zu planen? Das könnte doch dazu führen, dass es drastische Kürzungen und Rückschritte gibt.

Andersherum wird ein Schuh draus. Die VN stehen massiv unter Druck – politisch und finanziell. Wenn wir keine Reformen durchführen würden, dann würden die Vereinten Nationen in sich zusammenfallen. Die von einigen erhoffte Schwächung der Vereinten Nationen wäre so gelungen. Diejenigen, die das internationale Recht und die globale Zusammenarbeit stärken wollen, müssen sich daher zusammentun, die VN modernisieren, und ja, in diesen heftigen Zeiten auch hart kämpfen, um dafür zu sorgen, dass Reformen nicht missbraucht werden.

Bei COP-Entscheidungen denken die Staaten immer ihre strategischen Interessen mit. Wie beeinflusst nach Ihren Erfahrungen die Klimakrise auch die Geopolitik?

Man darf geostrategisch nicht naiv sein. Natürlich wird mit Klimapolitik auch globale Machtpolitik betrieben. Mittlerweile werden auf Klimakonferenzen auch die Zukunftsmärkte verhandelt. Es geht um riesige Investitionen in Energieanlagen, Speicher und manchmal ganze Energienetze von kleineren Staaten. Je stärker Klimapartnerschaften sind, desto stärker sind auch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ländern, entsprechend auch Abhängigkeiten, Einfluss oder positiv betrachtet bilaterale Beziehungen. Davon hat Deutschland ja über Jahrzehnte selbst profitiert. Durch eine aktive Entwicklungspolitik werden Unternehmen Türen in Regionen eröffnet, wo sie sonst ihre Chance nicht wahrnehmen könnten. Wenn man sich aus der Klima- und ebenso Entwicklungspolitik zurückzieht, dann verliert man mittelfristig auch wirtschafts- und geopolitisch. Denn diese Lücken füllen sofort andere.

Das zeigt sich deutlich bei China, das die Lücke füllt, die die USA durch ihren Rückzug aus den Klimaverhandlungen reißen.

Klar. China investiert in erneuerbare Energien ja nicht nur im eigenen Land, sondern auch massiv weltweit – oft kombiniert mit Investitionen beim Rohstoffabbau. Dahinter liegt natürlich nicht nur ein klimapolitisches, sondern auch ein geopolitisches Interesse. Auch Golfstaaten, die weiterhin auf fossile Energie setzen, zeigen vermehrt Interesse an Investitionen in Erneuerbare außerhalb ihres Landes. Und kleinere, gerade Inselstaaten sind auf diese Investitionen in saubere Energien angewiesen, da sie die Anschubfinanzierung oftmals selbst nicht stemmen können, obwohl es für sie langfristig die günstigere Variante ist.

Weltweit fließt viel Geld in die militärische Aufrüstung, das für Klimapolitik fehlt. Kannibalisiert die Sicherheitspolitik die Klima-Anstrengungen?

Klimapolitik ist auch Sicherheitspolitik. Die Auswirkungen der Klimakrise wie Dürre und Wassermangel sind massive Treiber von Instabilität und Krisen. Das US-Verteidigungsministerium hat schon vor Jahren davor gewarnt. Die Konsequenzen zeigen sich oft nicht sofort, sondern über Jahre. Die Terrororganisation Boko Haram rekrutierte etwa jahrelang in Dörfern rund um den riesigen Tschadsee junge Männer, die aufgrund des massiven Wasserverlusts des Sees kein Einkommen mehr als Fischer hatten. Die Kombination aus Konflikten, Klimakrise und Armut verschärft zudem die humanitäre Lage weiter und zwingt weltweit Millionen zur Flucht. Um diesen Nexus auch strategisch anzugehen, hatte ich die Klimaaußenpolitik in meiner Amtszeit ins Außenministerium geholt, unter anderem mit dem Bundesnachrichtendienst und der Bundeswehruniversität eine große Studie initiiert und der Nexus „Klima und Sicherheit“ ist in der Nato-Strategie verankert.

Haben Sie keine Sorge, dass diese Debatte zu einer Militarisierung der Klimapolitik führt?

Nein. Da gilt Ähnliches wie bei der VN-Reform: Die größte Gefahr des Guten ist, dass man aus Angst aufhört, das Richtige zu tun.

In der Klima-Geopolitik gibt es eine neue Blockkonfrontation: der fossile Block mit Russland, den USA und den Ölstaaten gegen den „Erneuerbaren“-Block der EU und China. Wie wirkt sich das aus?

Mein Credo ist, in jeder Krise auch eine Chance zu sehen, sonst sollte man in solch stürmischen Zeiten nicht in der internationalen Politik aktiv sein. Die Verschiebung der geopolitischen Machtzentren ist Fakt. Und die alte Blockteilung hat uns ja auch nicht nur Gerechtigkeit und Frieden gebracht. Die neuen Formen des Multilateralismus sind vor allem regionsübergreifende Kooperationen zwischen sehr unterschiedlichen Staaten. Da können viele andere VN-Prozesse vom Klimabereich lernen. Denn hier ging in den vergangenen Jahren immer dann etwas voran, wenn sich kleine Inselstaaten, die aktiven Länder Lateinamerikas, die EU, Kanada, Neuseeland und Australien und afrikanische Staaten mit Klimavorreitern aus Asien zusammengetan haben, nach dem Motto: Wir sind zwar nicht bei allem einer Meinung, aber wir wissen, dass Fortschritt in der Klimapolitik für uns im absoluten Eigeninteresse ist. Und diese regionsübergreifenden Allianzen von zwischen 140 und 160 Staaten sehen wir mittlerweile auch in anderen Prozessen wie der Verteidigung der Charta der Vereinten Nationen, der Unterstützung der Ukraine oder bei der humanitären Hilfe für Gaza.

Es heißt oft, das Klimathema sei eines der wenigen, wo Staaten kooperieren, die ansonsten Gegner sind. Aber zeigt die Blockbildung von Fossilen gegen Erneuerbare nicht, dass die UNO auch in der Klimafrage gespalten ist?

Wir müssen die Welt so nehmen wie sie ist. Alles andere als perfekt – aber dennoch wunderschön. Und daher lohnt es sich, jeden Tag für sie zu kämpfen. Und dafür gibt es keine Alternative zu den Vereinten Nationen, auch wenn sie reformbedürftig sind. Ihr Grundverständnis ist, dass jeder Staat, egal wie klein oder groß, eine gleichberechtigte Stimme hat. Und nein, die VN sind beim Klima nicht gespalten. Ja, die USA sind gerade mal wieder nicht mehr dabei, aber 195 Staaten des Pariser Abkommens minus eins ergibt eben 194 und nicht null oder zweimal 97. Und auch wenn es eine weitere Handvoll Staaten gibt, die auf den COPs die Dinge kritisch sehen, hat sich immer eine Gruppe von rund 160 Staaten gefunden, die so viel Überzeugung und Druck leisten konnten, dass wir zu einer Abschlusserklärung gekommen sind. Wir dürfen uns weder eine Spaltung einreden lassen noch uns im Klein-Klein verlieren.

Was heißt das konkret?

Wir müssen uns nicht über das letzte Zehntelgrad Erwärmung streiten, sondern jetzt die Weichen stellen, dass das globale Finanzsystem die Investitionen in saubere Energie und die Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele lenkt. Es gilt, mit neuen Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Geld die riesigen Infrastrukturmittel für Netze, Schulen und Krankenhäuser klimafest zu machen. Es mangelt nicht am Geld allein, wir haben weltweit genug Geld. Es muss nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden.

Geld ist aber bei den Klimaverhandlungen immer ein heiß umkämpftes Thema.

Wir haben in Baku bereits beschlossen, dass wir bis 2035 insgesamt 1,3 Billionen Dollar an Investitionen zur Eindämmung der Klimakrise mobilisieren. Dimensionen, die man sich kaum vorstellen kann. Zugleich liegt der Anteil der Verschuldung von Ländern des Globalen Südens in ähnlicher Höhe. Das verhindert, dass sie selbst in Wachstum, Klimaschutz und soziale Ziele wie Bildung und Gesundheit investieren können. Wenn wir die Diskussionen über Umschuldung – im Sinne der „Dept for Climate Swaps“, die ja von der Weltbank und auch innerhalb des IWF mittlerweile geführt werden, angingen, klingen die Summen schon ganz anders. Und zudem wissen wir alle mittlerweile sehr genau, dass der Wiederaufbau nach der Katastrophe x-mal teurer ist.

Letzte Aktualisierung: 03. Dezember 2025