
Eine selbstfinanzierte wissenschaftliche Sondierungsreise führte vier deutsche Chinawissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen und mit jahrzehntelanger China-Erfahrung sowie einen Völkerrechtler im Mai 2023 auf Einladung der Xinjianger Akademie der Sozialwissenschaften in die Regionen Kashgar (mehr als 90 Prozent uigurisch besiedelt) und Urumqi. Das zentrale Erkenntnisinteresse bestand n i c h t darin, die unbestreitbaren Vorwürfe im Hinblick auf die Menschenrechtslage zu untersuchen. Das wäre unabhängig kaum möglich gewesen.
Vielmehr wollten wir erkunden, ob sich nach der Einsetzung einer neuen Führungsriege in Xinjiang Ende 2021 hinsichtlich der regionalen Politik mittlerweile etwas verändert hat und – sollte das der Fall sein – in welche Richtung diese Änderungen gehen. Dabei wurden die inhaltlichen Schwerpunkte von der Gruppe wie folgt gesetzt: (1) lokale und regionale Entwicklungspolitik und Entwicklungsinstrumente; (2) Beschäftigungs- und Sozialpolitik (inkl. Beschäftigungsmaßnahmen/Arbeitsvergütung/Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen); (3) staatliche Institutionenbildung/Rechtssystem; (4) Bildung, Kultur, Religion und Sprache.
In diesem Kontext wurden sowohl entsprechende Einrichtungen auf Vorschlag der Gruppe besucht und dort Diskussionen geführt, als auch Gespräche mit Vertreterinnen von Dörfern, Gemeinden und Kreisen, um das Gesehene vertiefen und einordnen zu können. In Urumqi wurden Gespräche mit WissenschaftlerInnen, Vertretern von Rechtsinstitutionen etc. geführt. Vorab fanden in Peking informelle, vertrauliche Gespräche mit WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen statt, darunter langjährigen Xinjiang-ForscherInnen.
Wichtig ist zunächst, dass Xinjiang keineswegs eine abgeschlossene Region (mehr) ist, sondern offen und problemlos besucht werden kann. Der Vorschlag zu dieser Reise kam von der Gruppe, die auch Orte, Einrichtungen und Gesprächspartner vorschlug. Da die Intention eine wissenschaftliche war, sollte eine wissenschaftliche Einrichtung als Partnerorganisation fungieren. Dies war die Akademie der Gesellschaftswissenschaften von Xinjiang. Dabei waren wir uns durchaus bewusst, dass es sich um eine staatliche Einrichtung handelt und die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung generell beschränkt waren.
Da die Reisedauer von beiden Seiten begrenzt war, schlugen wir den Bezirk Kashgar im Süden vor (eine der Kernregionen der uigurischen Bevölkerung) sowie die Hauptstadt Urumqi, wo wir vor allem mit
Rechtsinstitutionen und Wissenschaftlern über Fragen sprechen wollten, die bereits die Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen aufgeworfen hatte. Zudem stellten wir Fragen nach dem
Verbleib der beiden international renommierten und auch in Deutschland bekannten uigurischen Wissenschaftlern Prof. Tashpolat Tiyip ( 塔 西 甫 拉 提 ・ 特 依 拜 ), Geograf und früherer
Präsident der Xinjiang Universität sowie Prof. Rahile Dawut (热依 拉·达吾提), weltweit führende Ethnologin im Bereich uigurischer Kultur.
Unser Vorschlag beinhaltete ferner: Reise wird von den Teilnehmern selbst finanziert; keine Beschränkungen der von uns vorgeschlagenen Einrichtungen, der von uns aufgeworfenen Fragen, der vorgeschlagenen Orte und Gesprächspartner. Zugleich waren wir uns aber der Tatsache bewusst, dass diese Reise zeitlich, örtlich und institutionell Beschränkungen unterliegen würde und dass wir daher letztlich nur einen Ausschnitt sehen würden.
Zunächst gingen wir davon aus, dass uns möglicherweise eine Situation erwarten würde, wie sie bis 2021 existierte: allgegenwärtige Kontrollen, überall Armee- und Polizeiposten, eine bedrückende Stimmung. Wir waren völlig überrascht, dass das alles nicht mehr existierte und offenbar „Normalität“ zu herrschen schien.
Auch waren die Gesprächspartner relativ offen. Zur Vorbereitung wurden in Peking Gespräche mit verschiedenen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Xinjiang-Forschern geführt, selbst organisiert und auf informeller Basis. Diesen Gesprächspartnern wurde Vertraulichkeit zugesichert.
Der Beitrag in der NZZ, der zunächst 18.000 Zeichen umfasste, musste auf Wunsch des zuständigen Redakteurs zunächst auf 9.000 Zeichen gekürzt werden. Der Chefredakteur wollte dann letztlich nur 5.000 akzeptieren, möglichst „härtere Thesen“, sodass wir die Unterfütterung unserer Argumente weitgehend aufgeben mussten.
Erst nach längerer Diskussion haben wir uns dann entschlossen, auch den kurzen Beitrag zu veröffentlichen, um eine Diskussion anzustoßen. In den kommenden Monaten werden die Beteiligten ihre Erkenntnisse in ausführlichen Artikeln zu Papier bringen und gemeinsam veröffentlichen. Wir bitten daher alle Fragesteller um entsprechende Geduld. Auch werden wir bis dahin erst einmal nicht auf weitere Fragen eingehen und bitten dafür um Verständnis.
Dass es Veränderungen in Xinjiang mit der von uns festgestellten Tendenz gibt, haben unabhängig von uns andere Besucher der Region festgestellt. Uns ist natürlich bewusst, dass der gesamte Xinjiang-Diskurs in den westlichen Medien nicht von der allgemeinen Politik gegenüber China zu lösen ist, die insbesondere in den Vereinigten Staaten intensiv und kontrovers erörtert wird. Unser Beitrag ist daher auch in diesem weiteren Kontext zu verstehen, obwohl wir selbst uns ganz bewusst auf die oben dargestellten und sich auf die Verhältnisse in Xinjiang selbst beziehenden Fragen bezogen haben und uns darauf auch in unserer
geplanten Publikation konzentrieren werden.
Wie bereits am Ende des NZZ-Beitrages angedeutet, empfehlen wir die Intensivierung des Austauschs mit Xinjiang sowie weitere intensive Beschäftigung mit dieser Region wie mit China insgesamt.
Thomas Heberer hat die Seniorprofessur für Politik und Gesellschaft Chinas an der Universität Duisburg. Bis 2013 hatte er dort den Lehrstuhl für Politik Ostasiens. Helwig Schmidt-Glintzer ist Direktor des China Centrums an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er ist dort auch Seniorprofessor. Beide Forscher sind Autoren zahlreicher Bücher.