wie kann man in einem hochgradig zensierten Umfeld seinen Unmut kundtun? Welche Form des Protests kann man wählen in einer Welt, in der selbst Städtenamen aus dem Internet und historische Ereignisse aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden? Die Menschen, die in China in dieser Woche auf die Straße gegangen sind, haben eine so einfache wie geniale Waffe gefunden: Ein weißes Blatt Papier. “Das weiße Papier steht für alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen können”, erklärte ein junger Demonstrant in Peking. Das Beste daran: Im Gegensatz zu Blumen oder gelben Regenschirmen hat fast jeder weißes Papier im Haus. Es zu verbieten, käme einem Kampf gegen Windmühlen gleich.
Peking versuchte trotzdem alles, die Proteste – die nun passend “A4Revolution” genannt werden – im Keim zu ersticken. An den Straßen, an denen die Menschen in den vergangenen Tagen zusammenkamen, ist die Polizei nun stets präsent. Sie machen punktuelle Handykontrollen. Demonstranten bekommen Anrufe von den Behörden. Unis schicken Studierende vorzeitig in die Semesterferien. Die “A4”-Revolution ist jedoch noch nicht am Ende, wie Michael Radunski analysiert. Mit Kreativität und Ironie sind die Protestierenden den Zensoren noch immer einen Schritt voraus – gerade auch im Internet.
Wie ihnen das gelingt, haben uns einige Protestler erzählt. Dabei erschöpften sich die Reaktion des Staates nicht nur in blindem Löschen. Vielmehr wurden gezielt Bots aktiviert, um die digitalen Kanäle zu fluten und so ein gezieltes Kommunizieren und Informieren unmöglich zu machen. Und natürlich durfte auch dieses Mal die Mär vom Einfluss ausländischer Kräfte nicht fehlen.
Eine, die sich auskennt mit Protesten gegen die chinesische Regierung, ist die Hongkonger Demokratie-Aktivistin Glacier Wong. Im Standpunkt beschreibt die Exilantin, die inzwischen in Deutschland lebt, wie befremdlich es für sie war, die Menschen auf dem Festland demonstrieren zu sehen. Denn die Festland-Chinesen hatten nicht verstanden, weshalb die Hongkonger 2019 auf die Straße gegangen waren.
Jetzt bekomme sie Nachrichten von Chinesen, die sich entschuldigen. Sie würden verstehen, weshalb die Hongkonger für nach Demokratie und Freiheit streben. Deshalb herrsche zum ersten Mal ein Gefühl von Sympathie und gegenseitigem Verständnis, schreibt Wong.
Ob in Peking oder Shanghai, in Chengdu, Dali oder Wuhan; egal, ob der Rücktritt von Xi Jinping gefordert wird, Wahlen und Meinungsfreiheit oder schlicht das Ende der strikten Null-Covid-Politik – eines haben die Demonstrierenden der vergangenen Tage in China gemein: Sie halten ein leeres, weißes Blatt Papier in ihren Händen (China.Table berichtete).
“Das weiße Papier steht für alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen können”, erklärte ein junger Demonstrant am Montag in Peking. “Wir wollen wieder ein normales Leben führen. Wir wollen Würde haben.”
Am Dienstag gelang es den chinesischen Behörden durch massive Polizeipräsenz ein Wiederaufflammen der Proteste zu verhindern. Die Lage auf den Straßen blieb weitgehend ruhig. Zudem schickten mehrere Universitäten ihre Studentinnen und Studenten nach Hause. Einige Universitäten organisierten sogar Busse, um die Studierenden zu den Bahnhöfen zu bringen. Auf diese Weise wolle man weitere Corona-Infektionen verhindern, heißt es offiziell. Doch allen ist klar, was in Wirklichkeit mit diesem Schritt erreicht werden soll: das Ende der Proteste.
Doch das leere weiße Blatt Papier sorgte auch am Dienstag weiter für Aufregung – wenn schon nicht auf den Straßen, dann eben virtuell in den digitalen Medien. In ihren WeChat-Timelines oder auf Weibo veröffentlichten User leere, weiße Quadrate. Die Mutigeren unter ihnen posteten gar Fotos von sich mit leeren Blättern in der Hand. Unter manchen Bildern war zu lesen: “Schweigen spricht lauter. Die es verstehen, wissen es.” Der bekannte Dissident Badiucao entwarf eigens Bilder, um den Protest zu unterstützen und die Kraft des so harmlos daherkommenden Symbols zu verdeutlichen.
Besondere Aufmerksamkeit zog zudem ein Video aus Wuzhen auf sich: Es zeigt eine junge Frau, die durch die Gassen der Altstadt spaziert – ihre Hände sind in Ketten gelegt, ihr Mund mit Klebeband verschlossen und in den Händen trägt auch sie ein leeres, weißes Blatt Papier.
Doch wie auf den Straßen in Chinas Städten geht auch in der digitalen Welt der chinesische Staat mit gnadenloser Konsequenz gegen das Symbol des Widerstands vor: Bilder und Videos wie aus Wuzhen werden gelöscht. Im üblichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Nutzern und Zensoren entstehen immer neue einfallsreiche Hashtags wie “WhitePaperExercise” oder “A4Revolution” in Anlehnung an die Größe jener umstürzlerischen Waffe. Immer wieder gelingt es, den Zensoren ein Schnippchen zu schlagen und den Unmut der Menschen digital zu verbreiten.
Doch es ist ein ungleicher Kampf – und innerhalb kürzester Zeit wird alles, was auch nur entfernt in Zusammenhang mit dem blanken Zellstoff steht, wieder blockiert (China.Table berichtete). Ein leeres weißes Papier – die Menschen zeigen damit, dass ihnen jegliche Unmutsäußerung untersagt wird und sie dennoch die Machthaber in Angst und Schrecken versetzen können.
Auf die Spitze treibt es dann die vermeintliche Ankündigung eines der größten Schreibwarenunternehmen Chinas: Darin heißt es, man werde ab sofort den Verkauf von A4-Papier einstellen, um “die nationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten”. Kurze Zeit später sieht sich das Unternehmen zu einer offiziellen Erklärung genötigt, wonach die Nachricht erfunden sei und der Verkauf natürlich wie gewohnt weitergehen werde.
Dass ausgerechnet ein leeres, weißes Papier zum Symbol der aktuellen Proteste werden konnte, hat mehrere Gründe. Weiß ist in China die Farbe der Trauer. Auslöser der Proteste war der Brand eines Wohnhauses in Urumqi, der Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang. Zehn Menschen kamen dabei ums Leben. Mit Weiß trauert man um die Verstorbenen.
Doch schnell äußerten Beobachter und Betroffene den Verdacht, dass eine mögliche Rettung durch die strengen Corona-Maßnahmen behindert worden war. Und so richteten sich die Wut, Trauer und Unzufriedenheit der Menschen zunehmend gegen die strikte Null-Covid-Politik der chinesischen Regierung.
Nur: Wie protestiert man in einem Land, in dem protestieren im Grunde verboten ist? In einem Land, in dem Hashtags und Suchbegriffe innerhalb weniger Stunden geblockt werden. In einem Land, in dem selbst pummelige Comicfiguren zensiert werden, weil manch einer eine Ähnlichkeit zwischen Winnie Puh und dem Mann an der Spitze des Staates erkannt haben mag. In einem Land, in dem der Staat sogar die Geschehnisse jenes Sommers vor 33 Jahren komplett ausradiert – aus Büchern, aus dem Unterricht, aus dem Gedächtnis der Menschen. Die Antwort: Der Protest muss schwer fassbar sein, kreativ, ironisch. Wie ein leeres, weißes Blatt Papier.
In Hongkong hatten Aktivisten vor zwei Jahren die gleiche Idee: Auch sie hielten damals leere weiße Blätter in den Himmel, um so Slogans oder Stichworte zu vermeiden, die nach dem neuen Nationalen Sicherheitsgesetz der Stadt verboten sind.
Angesprochen auf dieses Symbol erzählten einige Demonstranten am Wochenende in Peking einen alten sowjetischen Witz: Einst habe ein Mann auf dem Roten Platz in Moskau eifrig Flugblätter verteilt, der russischen Polizei war dies jedoch ein Dorn im Auge. Auf einem nahegelegenen Bahnhof stellten sie den Mann und wollten ihn anhand der verbliebenen Flugblätter der Anstachelung zum Aufruf überführen. Allerdings mussten die Beamten zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sämtliche Blätter weiß waren. Der Mann erwiderte lapidar: “Jeder kennt das Problem. Warum sich also die Mühe machen, es aufzuschreiben?“
Einer von vielen Demonstranten brachte es am Wochenende bei den Protesten wie folgt auf den Punkt: “Werden Sie mich verhaften, weil ich ein Schild mit ‘Nichts’ in der Hand habe?” Mögen in China Begriffe wie Tian’anmen, 1989 oder Liu Xiaobo auch auf dem Index stehen – ein weißes Blatt reicht nicht aus, um verhaftet zu werden. Zumindest bislang.
Während die Bilder der Proteste in China in Deutschland ein großes Thema in den Hauptnachrichten sind, versucht die chinesische Regierung, sie so gut es geht zu unterdrücken. In den staatlichen Medien findet sich bislang kein Bericht oder Kommentar, der die Geschehnisse im Sinne der Partei einordnen würde.
Die sogenannten Wolf Warrior – chinesische Diplomaten, die Proteste außerhalb Chinas gerne als Beweis für das Chaos in Demokratien bewerten – sind auf Twitter erstaunlich still. Auf ihren Accounts finden sich derzeit Fotos vom Marathon in Shanghai, Landschaftsbilder oder statistisch unterfütterte Lobeshymnen auf die Errungenschaften der Partei. Doch lässt sich ein Flächenbrand an Protesten, der im ganzen Land aufflammt, tatsächlich so einfach totschweigen und aussitzen?
Ob man von den Protesten weiß oder nicht, sei eine Frage der Klassenzugehörigkeit, sagt eine junge Chinesin, die die Proteste vor allem auf Social Media erfolgt. “Mein Wechat-Moments-Feed ist noch immer voll von den Ereignissen, aber meine Tante hat zum Beispiel erst spät auf Weibo davon erfahren, und dann auch nicht allzu viel.” Bestimmt machten die Proteste auch bei älteren Menschen die Runde, aber viele wollen lieber nicht offen darüber sprechen, glaubt sie.
Die Zensur löscht Beiträge zu den Protesten umgehend. “Viele Menschen versuchen, so schnell wie möglich Screenshots zu machen oder die Live-Streams mitzuschneiden, um so viele Beweise wie möglich zu sammeln“, sagt die Chinesin. Daneben kommentieren viele Nutzer einfallsreich, aber doch eindeutig. Etwa Videos neu errichteter Quarantäne-Stationen, die mit dramatischer Musik unterlegt sind. Oder Lieder, die auf die Proteste hinweisen, ohne sie beim Namen zu nennen, etwa “Another Brick in the Wall” von Pink Floyd, mit den Zeilen: “We don’t need no education, we don’t need no thought control.”
Eine junge Auslandschinesin, die gerade ihre Eltern in der Provinz Zhejiang besucht, beschreibt, wie ihr WeChat-Account eingeschränkt wurde, nachdem sie Videos der Proteste geteilt hatte. Auf einmal bekam sie folgende Nachricht des Providers: “Gemäß internetbezogenen Richtlinien und Gesetzen, können Sie bis zum 1.12. keine Gruppenchats, Moments und weitere Mikro-Funktionen mehr verwenden.” In Shanghai und Peking haben Polizisten angeblich sogar Menschen auf der Straße aufgefordert, Fotos und ausländische Apps wie Twitter und Telegram auf ihren Handys zu löschen. “Es fühlt sich an, als gerieten die Dinge außer Kontrolle”, sagt die junge Frau.
Anderes wird hingegen bewusst nicht gelöscht. So machte am Montag ein Artikel in den Sozialmedien die Runde, der zuerst auf Jinri Toutiao erschien, einer KI-basierten News-Plattform, die dem Tiktok-Mutterkonzern Bytedance gehört.
Dort bezeichnet der bekannte Blogger Lang Yangzhi die Proteste als “Farbrevolution”. Anhand des Akzents, “Freiheitsslogans im europäischen und amerikanischen Stil” sowie der Verwendung von Langzeichen seien ausländische Kräfte und “Organisatoren mit Hongkong-Taiwan-Hintergrund” als Strippenzieher enttarnt worden, schreibt der Blogger. In Chengdu sei einigen sogar Geld angeboten worden, damit sie an den Protesten teilnehmen – eine Behauptung, die bereits bei den “Regenschirm”-Protesten in Hongkong zum offiziellen Narrativ gehörte.
“Wenn die Sache offiziell als Farbrevolution deklariert wird, kann die Regierung härter gegen die Versammlungen vorgehen”, glaubt die junge Chinesin. Am Montag hatte Langs Artikel, der sich einer sehr aggressiven und teilweise rassistischen Wortwahl bedient, bereits 10.000 Kommentare. 1.000 Likes bekam dort etwa der Satz: “Entschlossen kämpfen, hart bestrafen!” 800 Likes gab es für folgenden Kommentar: “Strenge Strafen für die reaktionären Kräfte aus dem Ausland!”
Der Twitter-Kanal @whyyoutouzhele, der in den vergangenen Tagen tausende neue Follower sammeln konnte, und laut Eigenerklärung nur verifizierbare Videos veröffentlicht, dokumentierte neben den größeren Demonstrationen in Shanghai und Peking auch kleinere Protestgruppen in den Städten Hangzhou, Kunming, Nanjing, Wuhan und Guangzhou. Sie wurden allesamt von Sicherheitskräften bedrängt. “Ich war nicht vor Ort, aber ich denke, es ist nachvollziehbar und verständlich. Die Menschen wollen ein normales Leben führen”, sagt ein Mann aus Wuhan gegenüber China.Table.
Ob in Hongkong, Taipeh, Kuala Lumpur, Vancouver, San Francisco, Paris, Dublin, Oxford oder London – weltweit versammelten sich am Montag Menschen vor chinesischen Botschaften und Vertretungen, um sich mit den Protesten in China zu solidarisieren. Auch in Taiwan und Hongkong haben Menschen Kerzen entzündet und weiße Papierseiten hochgehalten – die leeren Seiten sollen zeigen, dass man auch in einem hochgradig zensierten Umfeld ohne Worte seinen Unmut kundtun kann.
In einer Aktuellen Stunde im Bundestag haben Abgeordnete verschiedener Parteien ihren Respekt vor den Demonstrierenden in China zum Ausdruck gebracht.
“Ihr Mut ist uns Beispiel, wir verneigen uns vor ihnen”, sagte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff und zollte den Demonstranten gegen die repressive Null-Covid-Politik seinen Respekt. Für die SPD äußerte Dagmar Schmidt die Hoffnung auf “einen friedlichen Umgang” der chinesischen Führung mit den Protesten und “auf mehr Freiheit für die Menschen in China”. “Die Kraft der Freiheit wird sich früher oder später auch in China durchsetzen”, zeigte sich der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid überzeugt. Von “bemerkenswerten Protesten” sprach auch der CDU-Außenpolitiker Johann Wadephul.
Für die Bundesregierung warb Staatsminister Tobias Lindner (Grüne) vom Außenministerium für weitere Zusammenarbeit mit China, aber auf der Grundlage einer regelbasierten Ordnung und “in Einklang mit unseren Werten“. Es werde in unterschiedlichen Bereichen, etwa beim Klimaschutz, weiter Zusammenarbeit geben müssen. Zugleich stehe die Bundesregierung aber “solidarisch an der Seite aller Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen wollen, in China und weltweit”. flee
Das britische Außenministerium hat im diplomatischen Streit um die Festnahme des BBC-Journalisten Ed Lawrence in Shanghai den Botschafter Chinas in London, Zheng Zeguang, einbestellt. Die BBC wirft Shanghaier Polizisten vor, ihren Kameramann, der die Proteste gegen die Null-Covid-Politik filmen wollte, auch geschlagen und getreten zu haben. “Wir haben deutlich gemacht, dass dieses Verhalten der chinesischen Behörden völlig inakzeptabel ist”, zitierten britische Medien eine ungenannte Quelle aus dem Außenministerium
Außenminister James Cleverly hatte den Vorfall am Montag als “zutiefst verstörend” bezeichnet. Das chinesische Außenministerium hat Berichten zufolge der BBC widersprochen und betont, Ed Lawrence habe sich nicht als Journalist ausgewiesen. Kabinettsministerin Michelle Donelan kritisierte wiederum Aussagen des chinesischen Außenministeriums, die BBC habe sich wegen des Vorfalls in Shanghai böswillig als Opfer inszeniert. ck
Ein Gericht in Peking hat den kanadisch-chinesischen Sänger Kris Wu wegen Vergewaltigung zu insgesamt 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Absitzen der Strafe soll der 32-Jährige nach Kanada abgeschoben werden. Der Sänger habe im November und Dezember 2020 in seiner Wohnung drei Frauen zum Sex gezwungen, als diese “betrunken waren und nicht in der Lage waren, sich zu wehren”, hieß es in dem Urteil.
Öffentlich gemacht hatte den Vorwurf die Studentin Du Meizhun, die nach ihren Angaben zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt war. Anschließend meldeten sich weitere mutmaßliche Opfer mit ähnlichen Vorwürfen zu Wort. Wu erhielt eine Haftstrafe in Höhe von elfeinhalb Jahren wegen Vergewaltigung. Eineinhalb weitere Jahre kommen “wegen des Verbrechens der Versammlung von Menschen zum Ehebruch” hinzu.
Kris Wu ist einer der bekanntesten Popstars Asiens. Als Mitglied der südkoreanischen K-Pop-Band EXO erlangte er 2012 Berühmtheit. Zwei Jahre später startete er eine Solokarriere in China als Sänger und Schauspieler. Außerdem war er als Werbefigur für insgesamt 15 Marken unterwegs. Darunter Bulgari, Porsche und Louis Vuitton. Wu ist kanadischer Staatsbürger, wurde aber in China geboren. Bei der Urteilsverkündung waren auch Vertreter der kanadischen Botschaft anwesend. Ob das Urteil ein diplomatisches Nachspiel hat, ist noch offen. rtr/cds
Die Europäische Union hat die Verurteilung des pro-demokratischen Kardinals Zen und weiteren Aktivisten kritisiert. Es sei “ein weiteres Beispiel dafür, wie Gesetze gezielt eingesetzt werden, um abweichende Stimmen zu unterdrücken“, schrieb die Sprecherin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS), Nabila Massrali, am Montag auf Twitter. Die Behörden von Hongkong sollten die bürgerlichen und politischen Rechte, insbesondere die Vereinigungsfreiheit, umfassend schützen, betonte Massrali.
Der 90 Jahre alte Zen war am Freitag zu einer Geldstrafe von 4.000 Hongkong-Dollar (rund 480 Euro) verurteilt worden, ebenso die Sängerin Denise Ho, Wissenschaftler Hui Po Keung und die pro-demokratischen Ex-Abgeordneten Margaret Ng und Cyd Ho. Der sechste Angeklagte, Sze Ching-wee, erhielt ein Bußgeld von umgerechnet 320 Euro.
Die Angeklagten hätten es versäumt, einen längst aufgelösten Hilfsfonds anzumelden, durch den verhaftete Teilnehmer der Massenproteste vor drei Jahren unterstützt werden sollten, befand Richterin Ada Yim am Freitag bei einer Anhörung. Kardinal Zen, emeritierter Bischof von Hongkong, war im Mai auf Basis des Gesetzes zur nationalen Sicherheit kurzzeitig festgenommen worden unter dem Verdacht, sich mit ausländischen Kräften verschworen zu haben (China.Table berichtete).
Zen gehörte zu den Verwaltern des humanitären 612-Hilfsfonds, der Arztrechnungen und Anwaltskosten für verhaftete pro-demokratische Demonstranten übernehmen sollte. Im Oktober 2021 wurde der Fonds eingestellt. Kritiker sehen die Festnahme jedoch als einen Schlag gegen die Religionsfreiheit in Hongkong an (China.Table berichtete).ari/rtr
Die deutsche Botschaft in Peking verzichtet in chinesischen Sozialmedien weiterhin auf Selbstzensur. Nachdem sie vor wenigen Wochen auf geschickte Art und Weise bereits an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erinnert hatte, lenkte sie nun die Aufmerksamkeit auf den in chinesischer Haft verstorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.
Die Botschaft nutzt dazu das 50-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen, in deren Rahmen sie an prägende Ereignisse in beiden Ländern aus jedem der vergangenen 50 Jahren erinnert. In Gedenken an das Jahr 2012 veröffentlichte die deutsche Repräsentanz am Sonntag zwei Fotos. Das eine zeigt Mo Yan, wie er vor zehn Jahren als erster Chinese den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam, obwohl er als regimetreuer Schriftsteller gilt.
Daneben stellte die Botschaft ein Bild des leeren Stuhls von Liu Xiaobo von seiner Ehrung 2010 in Oslo. Der Stuhl symbolisierte damals die haftbedingte Abwesenheit des Preisträgers. “Zwei Jahre zuvor, als ein anderer chinesischer Schriftsteller mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, blieb sein Sitz frei: Liu Xiaobo durfte nicht an der Preisverleihung teilnehmen. 2017 starb Liu Xiaobo nach vielen Jahren Gefängnis an Leberkrebs. 2018 konnte seine Frau nach acht Jahren Hausarrest nach Deutschland zur medizinischen Behandlung”, schrieb die Botschaft dazu. Der Post erhielt über 2000 Likes und mehr als 400 Kommentare.
Liu war Initiator der Charta08, einem politischen Manifest zur Verfassungsänderung und Demokratisierung in der Volksrepublik. Kurz vor ihrer Veröffentlichung war Liu festgenommen und später zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Deutschlands neue Botschafterin in Peking, Patricia Flor, hatte in einem Interview mit China.Table vor einigen Wochen erklärt, dass sie Sozialmedien verstärkt als Kommunikationskanal nutzen wolle. grz
Die Demonstrationen begannen in der vergangenen Woche, als die Menschen um die Opfer eines Feuers in Urumqi in der autonomen Region Xinjiang trauerten. Der Brand kostete zehn Menschen das Leben und verletzte neun Personen schwer. Sie konnten das Gebäude nicht verlassen, da die Behörden aus Quarantänegründen die Türen von außen verriegelt hatten.
Die Trauernden forderten die Lockerung der Corona-Maßnahmen und riefen: “Keine Lockdowns mehr, keine PCR-Tests mehr.” Doch als sich immer mehr Menschen auf den Straßen versammelten, begannen sie, lauthals den Rücktritt von Staats- und Parteichef Xi Jinping zu fordern: “Wir brauchen Menschenrechte, wir brauchen Freiheit”. Seitdem haben sich die Demonstrationen wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausgebreitet.
Bisher galt das chinesische Volk allgemein als politisch unbedarft und wenig bereit, sich für soziale Themen zu engagieren. Obwohl sich die Unzufriedenheit sicherlich schon seit einiger Zeit zusammenbraut, hat unter der enormen Last von drei Jahren harter Null-Covid Politik niemand mit so viel Dissens gerechnet. Zudem haben die Behörden alles daran gesetzt, durch Zensur oder Löschung von Online-Inhalten und durch die Verbreitung von Propaganda über Chinas Erfolg im Kampf gegen Covid die Bevölkerung im Dunkeln zu lassen.
Aber die Menschen in China haben sich nicht abschrecken lassen. Obwohl sie sich der Konsequenzen bewusst sind, gehen sie auf die Straße. Sie wissen, dass die Behörden die Proteste brutal niederschlagen könnten und sogar zu noch Schlimmerem fähig sind. Dennoch strömen sie auf die Straßen. Die Wucht der Demonstrationen war so überwältigend, dass sich einige lokale Behörden sogar gezwungen sahen, die Corona-Maßnahmen teilweise zu lockern.
In den vergangenen Jahrzehnten gab es in China immer wieder vereinzelt kleinere Proteste und Widerstand. Nachdem Li Wenliang, der Arzt, der erstmals vor den Gefahren des Coronavirus warnte, von der KPCh kaum behandelt wurde, brachen vor zwei Jahren Proteste aus. Einige erinnern sich vielleicht noch an das Busunglück in Guizhou oder an die Protestplakate gegen Xi Jinping an der Xitong-Brücke vor dem großen Parteitag. Viele kleine Ereignisse haben sich angesammelt und ein Feuer des Widerstands in ganz China entfacht.
Lange Zeit haben die Menschen in China die Kommunistische Partei Chinas als ihre Regierungspartei akzeptiert. Sie waren bereit, ihre Freiheiten einzutauschen. Solange die Wirtschaft scheinbar gut lief, haben sie Stillschweigen bewahrt. Für uns Hongkonger ist es befremdlich zu sehen, dass die Menschen auf dem Festland eine ähnliche Haltung einnehmen wie wir bei den Protesten 2019. Während der Hongkong-Proteste warf uns die chinesische Bevölkerung häufig vor: “Ihr undankbaren Gören, ihr werdet von ausländischen Regierungen bezahlt”. Sie verstanden nicht, weshalb wir ohne finanziellen Anreiz kämpften, und beleidigten uns auf unterschiedlichste Weise. Für uns war es immer unvorstellbar, dass Festlandchinesen einmal Demokratie und Menschenrechte fordern und den Rücktritt von Xi Jinping verlangen.
Aber jetzt bekomme ich Nachrichten von Chinesen in den sozialen Medien, die sich für die Schikanen entschuldigen. Sie schreiben, dass sie jetzt verstehen, warum wir uns für Demokratie und Freiheit einsetzen und so verzweifelt danach streben. Zum ersten Mal herrscht ein Gefühl von Sympathie und gegenseitigem Verständnis.
Diejenigen unter uns, die der Unterdrückung durch die KPCh schutzlos ausgeliefert sind, verspüren ein ausgeprägtes Gefühl gerechter Empörung. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Journalisten an unserer Sache gezweifelt und sich sogar über unsere Bemühungen lustig gemacht haben, der eisernen Faust der Partei die Stirn zu bieten. Ich muss dem Drang widerstehen, ihnen Videos von den mutigen Menschen in China zu schicken. Die totalitäre Regierung in Peking wird nur dann aufhören, wenn das chinesische Volk dies fordert, und die Tatsache, dass es damit begonnen hat, erfüllt mich mit Hoffnung und Ehrfurcht.
Aber ihren Mut zu bewundern, reicht nicht aus. Wir werden erleben, wie man versucht, diese Menschen massiv zu bekämpfen. Es könnte sogar zu einem zweiten Tian’anmen kommen. Wie immer sind die demokratischen Nationen völlig unvorbereitet. Was werden wir tun, wenn Xis Armee anrollt, um diese mutigen Stimmen, die ihre Rechte einfordern, zu zermalmen? Werden wir einfach tatenlos zusehen, wie sie zu Tausenden inhaftiert werden und verschwinden?
Die Zeit drängt. Unsere Staats- und Regierungschefs müssen sich frühzeitig auf ein Sanktionspaket einigen, um ein brutales Niederschlagen zu verhindern und diejenigen zu schützen und zu verteidigen, die für ihre Grundrechte eintreten.
Im Jahr 1989 sah die Welt dem Tian’anmen-Massaker zu. 2019 sah die Welt zu, wie China Hongkong unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts an sich riss. Werden wir erneut tatenlos zusehen, wie die Hoffnung auf ein freies China brutal zunichtegemacht wird? Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.
Chung Ching Kwong (zuvor auch Glacier Kwong) ist eine Bürgerrechtlerin aus Hongkong, die seit der Ausschaltung der demokratischen Parteien im Exil in Deutschland lebt.
Die jüngsten Proteste haben Chinas Internetnutzer wieder zu zahlreichen Illustrationen und Memes inspiriert. In dieses “Abbey Road”-Albumcover der Beatles hat jemand das Straßenschild der Wulumuqi Road gephotoshoppt – ein ironischer Wink an die Männer mit Bauarbeiterhelmen, die besagtes Schild am Tag nach den ersten Demonstrationen in Shanghai abmontiert und im Gleichschritt abtransportiert hatten.
wie kann man in einem hochgradig zensierten Umfeld seinen Unmut kundtun? Welche Form des Protests kann man wählen in einer Welt, in der selbst Städtenamen aus dem Internet und historische Ereignisse aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden? Die Menschen, die in China in dieser Woche auf die Straße gegangen sind, haben eine so einfache wie geniale Waffe gefunden: Ein weißes Blatt Papier. “Das weiße Papier steht für alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen können”, erklärte ein junger Demonstrant in Peking. Das Beste daran: Im Gegensatz zu Blumen oder gelben Regenschirmen hat fast jeder weißes Papier im Haus. Es zu verbieten, käme einem Kampf gegen Windmühlen gleich.
Peking versuchte trotzdem alles, die Proteste – die nun passend “A4Revolution” genannt werden – im Keim zu ersticken. An den Straßen, an denen die Menschen in den vergangenen Tagen zusammenkamen, ist die Polizei nun stets präsent. Sie machen punktuelle Handykontrollen. Demonstranten bekommen Anrufe von den Behörden. Unis schicken Studierende vorzeitig in die Semesterferien. Die “A4”-Revolution ist jedoch noch nicht am Ende, wie Michael Radunski analysiert. Mit Kreativität und Ironie sind die Protestierenden den Zensoren noch immer einen Schritt voraus – gerade auch im Internet.
Wie ihnen das gelingt, haben uns einige Protestler erzählt. Dabei erschöpften sich die Reaktion des Staates nicht nur in blindem Löschen. Vielmehr wurden gezielt Bots aktiviert, um die digitalen Kanäle zu fluten und so ein gezieltes Kommunizieren und Informieren unmöglich zu machen. Und natürlich durfte auch dieses Mal die Mär vom Einfluss ausländischer Kräfte nicht fehlen.
Eine, die sich auskennt mit Protesten gegen die chinesische Regierung, ist die Hongkonger Demokratie-Aktivistin Glacier Wong. Im Standpunkt beschreibt die Exilantin, die inzwischen in Deutschland lebt, wie befremdlich es für sie war, die Menschen auf dem Festland demonstrieren zu sehen. Denn die Festland-Chinesen hatten nicht verstanden, weshalb die Hongkonger 2019 auf die Straße gegangen waren.
Jetzt bekomme sie Nachrichten von Chinesen, die sich entschuldigen. Sie würden verstehen, weshalb die Hongkonger für nach Demokratie und Freiheit streben. Deshalb herrsche zum ersten Mal ein Gefühl von Sympathie und gegenseitigem Verständnis, schreibt Wong.
Ob in Peking oder Shanghai, in Chengdu, Dali oder Wuhan; egal, ob der Rücktritt von Xi Jinping gefordert wird, Wahlen und Meinungsfreiheit oder schlicht das Ende der strikten Null-Covid-Politik – eines haben die Demonstrierenden der vergangenen Tage in China gemein: Sie halten ein leeres, weißes Blatt Papier in ihren Händen (China.Table berichtete).
“Das weiße Papier steht für alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen können”, erklärte ein junger Demonstrant am Montag in Peking. “Wir wollen wieder ein normales Leben führen. Wir wollen Würde haben.”
Am Dienstag gelang es den chinesischen Behörden durch massive Polizeipräsenz ein Wiederaufflammen der Proteste zu verhindern. Die Lage auf den Straßen blieb weitgehend ruhig. Zudem schickten mehrere Universitäten ihre Studentinnen und Studenten nach Hause. Einige Universitäten organisierten sogar Busse, um die Studierenden zu den Bahnhöfen zu bringen. Auf diese Weise wolle man weitere Corona-Infektionen verhindern, heißt es offiziell. Doch allen ist klar, was in Wirklichkeit mit diesem Schritt erreicht werden soll: das Ende der Proteste.
Doch das leere weiße Blatt Papier sorgte auch am Dienstag weiter für Aufregung – wenn schon nicht auf den Straßen, dann eben virtuell in den digitalen Medien. In ihren WeChat-Timelines oder auf Weibo veröffentlichten User leere, weiße Quadrate. Die Mutigeren unter ihnen posteten gar Fotos von sich mit leeren Blättern in der Hand. Unter manchen Bildern war zu lesen: “Schweigen spricht lauter. Die es verstehen, wissen es.” Der bekannte Dissident Badiucao entwarf eigens Bilder, um den Protest zu unterstützen und die Kraft des so harmlos daherkommenden Symbols zu verdeutlichen.
Besondere Aufmerksamkeit zog zudem ein Video aus Wuzhen auf sich: Es zeigt eine junge Frau, die durch die Gassen der Altstadt spaziert – ihre Hände sind in Ketten gelegt, ihr Mund mit Klebeband verschlossen und in den Händen trägt auch sie ein leeres, weißes Blatt Papier.
Doch wie auf den Straßen in Chinas Städten geht auch in der digitalen Welt der chinesische Staat mit gnadenloser Konsequenz gegen das Symbol des Widerstands vor: Bilder und Videos wie aus Wuzhen werden gelöscht. Im üblichen Katz-und-Maus-Spiel zwischen Nutzern und Zensoren entstehen immer neue einfallsreiche Hashtags wie “WhitePaperExercise” oder “A4Revolution” in Anlehnung an die Größe jener umstürzlerischen Waffe. Immer wieder gelingt es, den Zensoren ein Schnippchen zu schlagen und den Unmut der Menschen digital zu verbreiten.
Doch es ist ein ungleicher Kampf – und innerhalb kürzester Zeit wird alles, was auch nur entfernt in Zusammenhang mit dem blanken Zellstoff steht, wieder blockiert (China.Table berichtete). Ein leeres weißes Papier – die Menschen zeigen damit, dass ihnen jegliche Unmutsäußerung untersagt wird und sie dennoch die Machthaber in Angst und Schrecken versetzen können.
Auf die Spitze treibt es dann die vermeintliche Ankündigung eines der größten Schreibwarenunternehmen Chinas: Darin heißt es, man werde ab sofort den Verkauf von A4-Papier einstellen, um “die nationale Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten”. Kurze Zeit später sieht sich das Unternehmen zu einer offiziellen Erklärung genötigt, wonach die Nachricht erfunden sei und der Verkauf natürlich wie gewohnt weitergehen werde.
Dass ausgerechnet ein leeres, weißes Papier zum Symbol der aktuellen Proteste werden konnte, hat mehrere Gründe. Weiß ist in China die Farbe der Trauer. Auslöser der Proteste war der Brand eines Wohnhauses in Urumqi, der Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebietes Xinjiang. Zehn Menschen kamen dabei ums Leben. Mit Weiß trauert man um die Verstorbenen.
Doch schnell äußerten Beobachter und Betroffene den Verdacht, dass eine mögliche Rettung durch die strengen Corona-Maßnahmen behindert worden war. Und so richteten sich die Wut, Trauer und Unzufriedenheit der Menschen zunehmend gegen die strikte Null-Covid-Politik der chinesischen Regierung.
Nur: Wie protestiert man in einem Land, in dem protestieren im Grunde verboten ist? In einem Land, in dem Hashtags und Suchbegriffe innerhalb weniger Stunden geblockt werden. In einem Land, in dem selbst pummelige Comicfiguren zensiert werden, weil manch einer eine Ähnlichkeit zwischen Winnie Puh und dem Mann an der Spitze des Staates erkannt haben mag. In einem Land, in dem der Staat sogar die Geschehnisse jenes Sommers vor 33 Jahren komplett ausradiert – aus Büchern, aus dem Unterricht, aus dem Gedächtnis der Menschen. Die Antwort: Der Protest muss schwer fassbar sein, kreativ, ironisch. Wie ein leeres, weißes Blatt Papier.
In Hongkong hatten Aktivisten vor zwei Jahren die gleiche Idee: Auch sie hielten damals leere weiße Blätter in den Himmel, um so Slogans oder Stichworte zu vermeiden, die nach dem neuen Nationalen Sicherheitsgesetz der Stadt verboten sind.
Angesprochen auf dieses Symbol erzählten einige Demonstranten am Wochenende in Peking einen alten sowjetischen Witz: Einst habe ein Mann auf dem Roten Platz in Moskau eifrig Flugblätter verteilt, der russischen Polizei war dies jedoch ein Dorn im Auge. Auf einem nahegelegenen Bahnhof stellten sie den Mann und wollten ihn anhand der verbliebenen Flugblätter der Anstachelung zum Aufruf überführen. Allerdings mussten die Beamten zu ihrer Verwunderung feststellen, dass sämtliche Blätter weiß waren. Der Mann erwiderte lapidar: “Jeder kennt das Problem. Warum sich also die Mühe machen, es aufzuschreiben?“
Einer von vielen Demonstranten brachte es am Wochenende bei den Protesten wie folgt auf den Punkt: “Werden Sie mich verhaften, weil ich ein Schild mit ‘Nichts’ in der Hand habe?” Mögen in China Begriffe wie Tian’anmen, 1989 oder Liu Xiaobo auch auf dem Index stehen – ein weißes Blatt reicht nicht aus, um verhaftet zu werden. Zumindest bislang.
Während die Bilder der Proteste in China in Deutschland ein großes Thema in den Hauptnachrichten sind, versucht die chinesische Regierung, sie so gut es geht zu unterdrücken. In den staatlichen Medien findet sich bislang kein Bericht oder Kommentar, der die Geschehnisse im Sinne der Partei einordnen würde.
Die sogenannten Wolf Warrior – chinesische Diplomaten, die Proteste außerhalb Chinas gerne als Beweis für das Chaos in Demokratien bewerten – sind auf Twitter erstaunlich still. Auf ihren Accounts finden sich derzeit Fotos vom Marathon in Shanghai, Landschaftsbilder oder statistisch unterfütterte Lobeshymnen auf die Errungenschaften der Partei. Doch lässt sich ein Flächenbrand an Protesten, der im ganzen Land aufflammt, tatsächlich so einfach totschweigen und aussitzen?
Ob man von den Protesten weiß oder nicht, sei eine Frage der Klassenzugehörigkeit, sagt eine junge Chinesin, die die Proteste vor allem auf Social Media erfolgt. “Mein Wechat-Moments-Feed ist noch immer voll von den Ereignissen, aber meine Tante hat zum Beispiel erst spät auf Weibo davon erfahren, und dann auch nicht allzu viel.” Bestimmt machten die Proteste auch bei älteren Menschen die Runde, aber viele wollen lieber nicht offen darüber sprechen, glaubt sie.
Die Zensur löscht Beiträge zu den Protesten umgehend. “Viele Menschen versuchen, so schnell wie möglich Screenshots zu machen oder die Live-Streams mitzuschneiden, um so viele Beweise wie möglich zu sammeln“, sagt die Chinesin. Daneben kommentieren viele Nutzer einfallsreich, aber doch eindeutig. Etwa Videos neu errichteter Quarantäne-Stationen, die mit dramatischer Musik unterlegt sind. Oder Lieder, die auf die Proteste hinweisen, ohne sie beim Namen zu nennen, etwa “Another Brick in the Wall” von Pink Floyd, mit den Zeilen: “We don’t need no education, we don’t need no thought control.”
Eine junge Auslandschinesin, die gerade ihre Eltern in der Provinz Zhejiang besucht, beschreibt, wie ihr WeChat-Account eingeschränkt wurde, nachdem sie Videos der Proteste geteilt hatte. Auf einmal bekam sie folgende Nachricht des Providers: “Gemäß internetbezogenen Richtlinien und Gesetzen, können Sie bis zum 1.12. keine Gruppenchats, Moments und weitere Mikro-Funktionen mehr verwenden.” In Shanghai und Peking haben Polizisten angeblich sogar Menschen auf der Straße aufgefordert, Fotos und ausländische Apps wie Twitter und Telegram auf ihren Handys zu löschen. “Es fühlt sich an, als gerieten die Dinge außer Kontrolle”, sagt die junge Frau.
Anderes wird hingegen bewusst nicht gelöscht. So machte am Montag ein Artikel in den Sozialmedien die Runde, der zuerst auf Jinri Toutiao erschien, einer KI-basierten News-Plattform, die dem Tiktok-Mutterkonzern Bytedance gehört.
Dort bezeichnet der bekannte Blogger Lang Yangzhi die Proteste als “Farbrevolution”. Anhand des Akzents, “Freiheitsslogans im europäischen und amerikanischen Stil” sowie der Verwendung von Langzeichen seien ausländische Kräfte und “Organisatoren mit Hongkong-Taiwan-Hintergrund” als Strippenzieher enttarnt worden, schreibt der Blogger. In Chengdu sei einigen sogar Geld angeboten worden, damit sie an den Protesten teilnehmen – eine Behauptung, die bereits bei den “Regenschirm”-Protesten in Hongkong zum offiziellen Narrativ gehörte.
“Wenn die Sache offiziell als Farbrevolution deklariert wird, kann die Regierung härter gegen die Versammlungen vorgehen”, glaubt die junge Chinesin. Am Montag hatte Langs Artikel, der sich einer sehr aggressiven und teilweise rassistischen Wortwahl bedient, bereits 10.000 Kommentare. 1.000 Likes bekam dort etwa der Satz: “Entschlossen kämpfen, hart bestrafen!” 800 Likes gab es für folgenden Kommentar: “Strenge Strafen für die reaktionären Kräfte aus dem Ausland!”
Der Twitter-Kanal @whyyoutouzhele, der in den vergangenen Tagen tausende neue Follower sammeln konnte, und laut Eigenerklärung nur verifizierbare Videos veröffentlicht, dokumentierte neben den größeren Demonstrationen in Shanghai und Peking auch kleinere Protestgruppen in den Städten Hangzhou, Kunming, Nanjing, Wuhan und Guangzhou. Sie wurden allesamt von Sicherheitskräften bedrängt. “Ich war nicht vor Ort, aber ich denke, es ist nachvollziehbar und verständlich. Die Menschen wollen ein normales Leben führen”, sagt ein Mann aus Wuhan gegenüber China.Table.
Ob in Hongkong, Taipeh, Kuala Lumpur, Vancouver, San Francisco, Paris, Dublin, Oxford oder London – weltweit versammelten sich am Montag Menschen vor chinesischen Botschaften und Vertretungen, um sich mit den Protesten in China zu solidarisieren. Auch in Taiwan und Hongkong haben Menschen Kerzen entzündet und weiße Papierseiten hochgehalten – die leeren Seiten sollen zeigen, dass man auch in einem hochgradig zensierten Umfeld ohne Worte seinen Unmut kundtun kann.
In einer Aktuellen Stunde im Bundestag haben Abgeordnete verschiedener Parteien ihren Respekt vor den Demonstrierenden in China zum Ausdruck gebracht.
“Ihr Mut ist uns Beispiel, wir verneigen uns vor ihnen”, sagte der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff und zollte den Demonstranten gegen die repressive Null-Covid-Politik seinen Respekt. Für die SPD äußerte Dagmar Schmidt die Hoffnung auf “einen friedlichen Umgang” der chinesischen Führung mit den Protesten und “auf mehr Freiheit für die Menschen in China”. “Die Kraft der Freiheit wird sich früher oder später auch in China durchsetzen”, zeigte sich der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid überzeugt. Von “bemerkenswerten Protesten” sprach auch der CDU-Außenpolitiker Johann Wadephul.
Für die Bundesregierung warb Staatsminister Tobias Lindner (Grüne) vom Außenministerium für weitere Zusammenarbeit mit China, aber auf der Grundlage einer regelbasierten Ordnung und “in Einklang mit unseren Werten“. Es werde in unterschiedlichen Bereichen, etwa beim Klimaschutz, weiter Zusammenarbeit geben müssen. Zugleich stehe die Bundesregierung aber “solidarisch an der Seite aller Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen wollen, in China und weltweit”. flee
Das britische Außenministerium hat im diplomatischen Streit um die Festnahme des BBC-Journalisten Ed Lawrence in Shanghai den Botschafter Chinas in London, Zheng Zeguang, einbestellt. Die BBC wirft Shanghaier Polizisten vor, ihren Kameramann, der die Proteste gegen die Null-Covid-Politik filmen wollte, auch geschlagen und getreten zu haben. “Wir haben deutlich gemacht, dass dieses Verhalten der chinesischen Behörden völlig inakzeptabel ist”, zitierten britische Medien eine ungenannte Quelle aus dem Außenministerium
Außenminister James Cleverly hatte den Vorfall am Montag als “zutiefst verstörend” bezeichnet. Das chinesische Außenministerium hat Berichten zufolge der BBC widersprochen und betont, Ed Lawrence habe sich nicht als Journalist ausgewiesen. Kabinettsministerin Michelle Donelan kritisierte wiederum Aussagen des chinesischen Außenministeriums, die BBC habe sich wegen des Vorfalls in Shanghai böswillig als Opfer inszeniert. ck
Ein Gericht in Peking hat den kanadisch-chinesischen Sänger Kris Wu wegen Vergewaltigung zu insgesamt 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Absitzen der Strafe soll der 32-Jährige nach Kanada abgeschoben werden. Der Sänger habe im November und Dezember 2020 in seiner Wohnung drei Frauen zum Sex gezwungen, als diese “betrunken waren und nicht in der Lage waren, sich zu wehren”, hieß es in dem Urteil.
Öffentlich gemacht hatte den Vorwurf die Studentin Du Meizhun, die nach ihren Angaben zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt war. Anschließend meldeten sich weitere mutmaßliche Opfer mit ähnlichen Vorwürfen zu Wort. Wu erhielt eine Haftstrafe in Höhe von elfeinhalb Jahren wegen Vergewaltigung. Eineinhalb weitere Jahre kommen “wegen des Verbrechens der Versammlung von Menschen zum Ehebruch” hinzu.
Kris Wu ist einer der bekanntesten Popstars Asiens. Als Mitglied der südkoreanischen K-Pop-Band EXO erlangte er 2012 Berühmtheit. Zwei Jahre später startete er eine Solokarriere in China als Sänger und Schauspieler. Außerdem war er als Werbefigur für insgesamt 15 Marken unterwegs. Darunter Bulgari, Porsche und Louis Vuitton. Wu ist kanadischer Staatsbürger, wurde aber in China geboren. Bei der Urteilsverkündung waren auch Vertreter der kanadischen Botschaft anwesend. Ob das Urteil ein diplomatisches Nachspiel hat, ist noch offen. rtr/cds
Die Europäische Union hat die Verurteilung des pro-demokratischen Kardinals Zen und weiteren Aktivisten kritisiert. Es sei “ein weiteres Beispiel dafür, wie Gesetze gezielt eingesetzt werden, um abweichende Stimmen zu unterdrücken“, schrieb die Sprecherin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EEAS), Nabila Massrali, am Montag auf Twitter. Die Behörden von Hongkong sollten die bürgerlichen und politischen Rechte, insbesondere die Vereinigungsfreiheit, umfassend schützen, betonte Massrali.
Der 90 Jahre alte Zen war am Freitag zu einer Geldstrafe von 4.000 Hongkong-Dollar (rund 480 Euro) verurteilt worden, ebenso die Sängerin Denise Ho, Wissenschaftler Hui Po Keung und die pro-demokratischen Ex-Abgeordneten Margaret Ng und Cyd Ho. Der sechste Angeklagte, Sze Ching-wee, erhielt ein Bußgeld von umgerechnet 320 Euro.
Die Angeklagten hätten es versäumt, einen längst aufgelösten Hilfsfonds anzumelden, durch den verhaftete Teilnehmer der Massenproteste vor drei Jahren unterstützt werden sollten, befand Richterin Ada Yim am Freitag bei einer Anhörung. Kardinal Zen, emeritierter Bischof von Hongkong, war im Mai auf Basis des Gesetzes zur nationalen Sicherheit kurzzeitig festgenommen worden unter dem Verdacht, sich mit ausländischen Kräften verschworen zu haben (China.Table berichtete).
Zen gehörte zu den Verwaltern des humanitären 612-Hilfsfonds, der Arztrechnungen und Anwaltskosten für verhaftete pro-demokratische Demonstranten übernehmen sollte. Im Oktober 2021 wurde der Fonds eingestellt. Kritiker sehen die Festnahme jedoch als einen Schlag gegen die Religionsfreiheit in Hongkong an (China.Table berichtete).ari/rtr
Die deutsche Botschaft in Peking verzichtet in chinesischen Sozialmedien weiterhin auf Selbstzensur. Nachdem sie vor wenigen Wochen auf geschickte Art und Weise bereits an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens erinnert hatte, lenkte sie nun die Aufmerksamkeit auf den in chinesischer Haft verstorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo.
Die Botschaft nutzt dazu das 50-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen, in deren Rahmen sie an prägende Ereignisse in beiden Ländern aus jedem der vergangenen 50 Jahren erinnert. In Gedenken an das Jahr 2012 veröffentlichte die deutsche Repräsentanz am Sonntag zwei Fotos. Das eine zeigt Mo Yan, wie er vor zehn Jahren als erster Chinese den Literatur-Nobelpreis verliehen bekam, obwohl er als regimetreuer Schriftsteller gilt.
Daneben stellte die Botschaft ein Bild des leeren Stuhls von Liu Xiaobo von seiner Ehrung 2010 in Oslo. Der Stuhl symbolisierte damals die haftbedingte Abwesenheit des Preisträgers. “Zwei Jahre zuvor, als ein anderer chinesischer Schriftsteller mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, blieb sein Sitz frei: Liu Xiaobo durfte nicht an der Preisverleihung teilnehmen. 2017 starb Liu Xiaobo nach vielen Jahren Gefängnis an Leberkrebs. 2018 konnte seine Frau nach acht Jahren Hausarrest nach Deutschland zur medizinischen Behandlung”, schrieb die Botschaft dazu. Der Post erhielt über 2000 Likes und mehr als 400 Kommentare.
Liu war Initiator der Charta08, einem politischen Manifest zur Verfassungsänderung und Demokratisierung in der Volksrepublik. Kurz vor ihrer Veröffentlichung war Liu festgenommen und später zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Deutschlands neue Botschafterin in Peking, Patricia Flor, hatte in einem Interview mit China.Table vor einigen Wochen erklärt, dass sie Sozialmedien verstärkt als Kommunikationskanal nutzen wolle. grz
Die Demonstrationen begannen in der vergangenen Woche, als die Menschen um die Opfer eines Feuers in Urumqi in der autonomen Region Xinjiang trauerten. Der Brand kostete zehn Menschen das Leben und verletzte neun Personen schwer. Sie konnten das Gebäude nicht verlassen, da die Behörden aus Quarantänegründen die Türen von außen verriegelt hatten.
Die Trauernden forderten die Lockerung der Corona-Maßnahmen und riefen: “Keine Lockdowns mehr, keine PCR-Tests mehr.” Doch als sich immer mehr Menschen auf den Straßen versammelten, begannen sie, lauthals den Rücktritt von Staats- und Parteichef Xi Jinping zu fordern: “Wir brauchen Menschenrechte, wir brauchen Freiheit”. Seitdem haben sich die Demonstrationen wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausgebreitet.
Bisher galt das chinesische Volk allgemein als politisch unbedarft und wenig bereit, sich für soziale Themen zu engagieren. Obwohl sich die Unzufriedenheit sicherlich schon seit einiger Zeit zusammenbraut, hat unter der enormen Last von drei Jahren harter Null-Covid Politik niemand mit so viel Dissens gerechnet. Zudem haben die Behörden alles daran gesetzt, durch Zensur oder Löschung von Online-Inhalten und durch die Verbreitung von Propaganda über Chinas Erfolg im Kampf gegen Covid die Bevölkerung im Dunkeln zu lassen.
Aber die Menschen in China haben sich nicht abschrecken lassen. Obwohl sie sich der Konsequenzen bewusst sind, gehen sie auf die Straße. Sie wissen, dass die Behörden die Proteste brutal niederschlagen könnten und sogar zu noch Schlimmerem fähig sind. Dennoch strömen sie auf die Straßen. Die Wucht der Demonstrationen war so überwältigend, dass sich einige lokale Behörden sogar gezwungen sahen, die Corona-Maßnahmen teilweise zu lockern.
In den vergangenen Jahrzehnten gab es in China immer wieder vereinzelt kleinere Proteste und Widerstand. Nachdem Li Wenliang, der Arzt, der erstmals vor den Gefahren des Coronavirus warnte, von der KPCh kaum behandelt wurde, brachen vor zwei Jahren Proteste aus. Einige erinnern sich vielleicht noch an das Busunglück in Guizhou oder an die Protestplakate gegen Xi Jinping an der Xitong-Brücke vor dem großen Parteitag. Viele kleine Ereignisse haben sich angesammelt und ein Feuer des Widerstands in ganz China entfacht.
Lange Zeit haben die Menschen in China die Kommunistische Partei Chinas als ihre Regierungspartei akzeptiert. Sie waren bereit, ihre Freiheiten einzutauschen. Solange die Wirtschaft scheinbar gut lief, haben sie Stillschweigen bewahrt. Für uns Hongkonger ist es befremdlich zu sehen, dass die Menschen auf dem Festland eine ähnliche Haltung einnehmen wie wir bei den Protesten 2019. Während der Hongkong-Proteste warf uns die chinesische Bevölkerung häufig vor: “Ihr undankbaren Gören, ihr werdet von ausländischen Regierungen bezahlt”. Sie verstanden nicht, weshalb wir ohne finanziellen Anreiz kämpften, und beleidigten uns auf unterschiedlichste Weise. Für uns war es immer unvorstellbar, dass Festlandchinesen einmal Demokratie und Menschenrechte fordern und den Rücktritt von Xi Jinping verlangen.
Aber jetzt bekomme ich Nachrichten von Chinesen in den sozialen Medien, die sich für die Schikanen entschuldigen. Sie schreiben, dass sie jetzt verstehen, warum wir uns für Demokratie und Freiheit einsetzen und so verzweifelt danach streben. Zum ersten Mal herrscht ein Gefühl von Sympathie und gegenseitigem Verständnis.
Diejenigen unter uns, die der Unterdrückung durch die KPCh schutzlos ausgeliefert sind, verspüren ein ausgeprägtes Gefühl gerechter Empörung. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele Journalisten an unserer Sache gezweifelt und sich sogar über unsere Bemühungen lustig gemacht haben, der eisernen Faust der Partei die Stirn zu bieten. Ich muss dem Drang widerstehen, ihnen Videos von den mutigen Menschen in China zu schicken. Die totalitäre Regierung in Peking wird nur dann aufhören, wenn das chinesische Volk dies fordert, und die Tatsache, dass es damit begonnen hat, erfüllt mich mit Hoffnung und Ehrfurcht.
Aber ihren Mut zu bewundern, reicht nicht aus. Wir werden erleben, wie man versucht, diese Menschen massiv zu bekämpfen. Es könnte sogar zu einem zweiten Tian’anmen kommen. Wie immer sind die demokratischen Nationen völlig unvorbereitet. Was werden wir tun, wenn Xis Armee anrollt, um diese mutigen Stimmen, die ihre Rechte einfordern, zu zermalmen? Werden wir einfach tatenlos zusehen, wie sie zu Tausenden inhaftiert werden und verschwinden?
Die Zeit drängt. Unsere Staats- und Regierungschefs müssen sich frühzeitig auf ein Sanktionspaket einigen, um ein brutales Niederschlagen zu verhindern und diejenigen zu schützen und zu verteidigen, die für ihre Grundrechte eintreten.
Im Jahr 1989 sah die Welt dem Tian’anmen-Massaker zu. 2019 sah die Welt zu, wie China Hongkong unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts an sich riss. Werden wir erneut tatenlos zusehen, wie die Hoffnung auf ein freies China brutal zunichtegemacht wird? Wir müssen handeln, bevor es zu spät ist.
Chung Ching Kwong (zuvor auch Glacier Kwong) ist eine Bürgerrechtlerin aus Hongkong, die seit der Ausschaltung der demokratischen Parteien im Exil in Deutschland lebt.
Die jüngsten Proteste haben Chinas Internetnutzer wieder zu zahlreichen Illustrationen und Memes inspiriert. In dieses “Abbey Road”-Albumcover der Beatles hat jemand das Straßenschild der Wulumuqi Road gephotoshoppt – ein ironischer Wink an die Männer mit Bauarbeiterhelmen, die besagtes Schild am Tag nach den ersten Demonstrationen in Shanghai abmontiert und im Gleichschritt abtransportiert hatten.