Table.Briefing: China

Olympia-Boykott + EU-Instrument gegen Chinas Handelspraktiken

  • Koalition uneinig über Olympia-Boykott
  • Litauen-China-Konflikt: Hilft ein neues EU-Instrument?
  • Sinolytics.Radar: Nationalstolz wird wichtiger beim Konsum
  • Evergrande konnte Zinsen nicht bedienen
  • China erreicht Meilenstein bei Windenergie
  • Im Portrait: Stephan Orth – Couchsurfer und Reisereporter
Liebe Leserin, lieber Leser,

mitunter kommt es in der Geopolitik zu seltsamen “Zufällen”. Da verschwindet gerade Litauen für einige Tage aus dem Zollsystem Chinas. Der Handel wird also seltsamerweise gerade mit jenem Land unterbrochen, das sich jüngst Taiwan zugewandt hat und so der Volksrepublik Paroli bietet. Von einem technischen Fehler war die Rede. Das ist so leicht zu durchschauen, dass es nur als Botschaft in Richtung Vilnius verstanden werden kann. Amelie Richter hat sich den Konflikt zwischen dem baltischen EU-Staat und China genauer angeschaut. Peking liefert damit ein Paradebeispiel für die potenzielle Anwendung des neuen EU-Instruments gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen.

Ob es auch beim diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele durch die USA zu “technischen Fehlern” kommen wird, die USA also ernsthafte Konsequenzen zu befürchten haben, ist derzeit noch nicht absehbar. Peking hat jedoch schon mal mit “entschiedenen Gegenmaßnahmen” gedroht. Felix Lee berichtet über die Reaktionen auf den Boykott aus Peking und dem politischen Berlin. Bei den Grünen gibt es Sympathien für einen Boykott, doch die Koalitionspartner von SPD und FDP sind weitaus vorsichtiger.

Ich wünsche viele neue Erkenntnisse!

Ihr
Nico Beckert
Bild von Nico  Beckert

Analyse

US-Boykott bringt Ampel in Zugzwang

Eine konzertierte Aktion gegen jemanden oder einen ganzen Staat, an der sich möglichst viele beteiligen – das ist die Definition des Begriffs “Boykott”. Er geht zurück auf den britischen Großgrundbesitzer Charles Cunningham Boycott, der bekannt dafür war, Wucherzinsen von seinen Pächtern zu verlangen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schinden. Sie kündigten allesamt und gingen gegen ihn auf die Straße. Dorfbewohner schlossen sich dem Protest an und boykottierten den Handel mit ihm. Selbst die Post wurde ihm nicht mehr zugestellt. Der Boykott als Protestform war geboren.  

Aktuell haben die USA einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking verkündet. Und zwar einen “diplomatischen”. Wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen unter anderem gegen die muslimischen Uiguren werde Washington keine Regierungsvertreter zu den Spielen schicken, kündigte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, an. Auf die Frage, warum die US-Regierung von einem kompletten Boykott der Spiele absehe, antwortete Psaki, man habe die Sportler, die intensiv für die Spiele trainiert hätten, nicht bestrafen wollen.

Nun könnte man meinen: Na und? Ob jetzt Vertreter der US-Regierung zur Eröffnungsfeier auf den Tribünen sitzen werden oder nicht – das beeinträchtigt die Wettkämpfe nicht wirklich. Chinas rigide Corona-Schutzmaßnahmen sehen ohnehin kein Publikum aus dem Ausland vor. In einer ersten Reaktion auf die Entscheidung erklärte der Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington auf Twitter denn auch, der Boykott werde keine Auswirkungen auf die Spiele haben. “Niemand würde sich darum kümmern, ob diese Leute kommen oder nicht”. Die staatliche chinesische Zeitung Global Times versuchte den Konflikt erst komplett herunterzuspielen und schrieb auf Twitter: “Um ehrlich zu sein, sind die Chinesen erleichtert über diese Nachricht, denn je weniger US-Beamte kommen, desto weniger Viren werden eingeschleppt”.

Doch so ganz gelassen nimmt Peking den Olympia-Boykott dann doch nicht. Die USA sollten aufhören, “die Winterspiele in Peking durch Worte oder Taten zu stören”, wetterte Chinas Außenamtssprecher Zhao Lijian am nächsten Morgen. Ansonsten schadeten sie dem bilateralen Dialog und der Kooperation mit China in wichtigen Bereichen oder internationalen Fragen. Zudem solle Washington aufhören, den Sport zu politisieren. Olympia sei keine Bühne für “politische Manipulationen”. “Die USA werden den Preis für ihr Fehlverhalten bezahlen. Warten Sie ab“, drohte Zhao und kündigte “entschiedene Gegenmaßnahmen” an, ohne aber Details zu nennen. Der Versuch der USA, die Spiele “aus ideologischen Vorurteilen heraus zu behindern, die auf Lügen und Gerüchten beruhen, wird nur ihre finsteren Absichten aufdecken”, erklärte er.

Deutschlands Politiker sind uneins

Offenbar hatte die Führung gar nicht vor, zur Eröffnung und auch während der Winterspiele zwischen dem 4. und 20. Februar viel Staatsbesuch zu empfangen. Zhao hatte erst am Montag erklärt, dass China keine Einladungen ausgesprochen habe. Pandemiebedingt sind Zuschauer aus dem Ausland generell nicht vorgesehen. Das war auch bei den Olympischen Spielen im Sommer in Tokyo schon der Fall. Nur hatte das im Fall von Japan keine politische Bedeutung.

Die US-Regierung hat aber auch andere Länder aufgefordert, sich dem diplomatischen Boykott anzuschließen. Und einige Länder könnten Washingtons Aufruf Folge leisten. Australien, das sich ebenfalls seit Jahren im Streit mit China befindet, hat sich zusammen mit weiteren 19 Staaten bereits geweigert, ein Abkommen zu unterzeichnen, das Politik von den Spielen fernhalten soll. Die Zeitung Sydney Morning Herald berichtet nun in ihrer Mittwochsausgabe unter Berufung auf Regierungskreise, Australien werde keine Beamten oder Politiker zu den Spielen entsenden. Ob Premier Scott Morrison einen formalen diplomatischen Boykott ausrufe, habe er noch nicht entschieden.

Washingtons Forderung setzt auch die neue Ampel-Koalition in Berlin unter Zugzwang. Die designierte Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen hatte vergangene Woche im Gespräch mit China.Table einen Boykott der Spiele in Erwägung gezogen. “Wenn ich sehe, wie Chinas Führung mit der Tennisspielerin Peng Shuai umgeht oder mit der verhafteten Bürgerjournalistin Zhang Zhan, sollten wir natürlich auch die Olympischen Spiele genauer in den Blick nehmen”, sagte Baerbock. “Da gibt es für Regierungen unterschiedliche Formen des Umgangs, die in den kommenden Wochen sicherlich diskutiert werden.”

Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, legte am Dienstag nach und begrüßte die US-Entscheidung explizit. Bei massiven Menschenrechtsverletzungen sei es “notwendig, dass man auch ein klares Signal setzt”, sagte Nouripour am Dienstag im rbb-Inforadio. Nouripour warb zwar ebenfalls nicht für einen vollständigen Boykott. “Athletinnen und Athleten, die ein Leben lang auf ein Ziel hingearbeitet haben”, dürften nicht Opfer der Politik werden, sagte er. Das US-Vorgehen, keine Regierungsvertreter zu den Spielen zu schicken, sei aber die “richtige Herangehensweise”. Er hoffe, “dass sich Deutschland dem anschließt”.

Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bremst jedoch. Die Bundesregierung werde den Umgang mit China “sehr sorgfältig mit uns, unter uns und mit den Partnern in Europa und der Welt beraten”, sagte er am Dienstag. Viele Länder, mit denen Deutschland zu tun habe, hätten “Regierungsformen, die vollständig anders ausgerichtet sind, als das, was wir selber richtig finden”, sagte Scholz. Die neue Bundesregierung müsse es “hinkriegen, über die Unterschiede Bescheid zu wissen und trotzdem gut miteinander auszukommen in der Welt.” Dies sei ein “kluges Verständnis von Politik”.

Ebenso schwammig blieb der designierte Finanzminister Christian Lindner (FDP). Bei der künftigen Ausgestaltung der Beziehungen zu China werde auch die wirtschaftliche Bedeutung der Volksrepublik für Deutschland in die Entscheidungen einbezogen, betonte er nun. Es werde “auch weiterhin die besondere Rolle des chinesischen Binnenmarkts für die deutsche Wirtschaft berücksichtigt werden”, sagte Lindner. “Auf der anderen Seite haben wir uns vorgenommen, auf der Weltbühne auch einen Einsatz zu zeigen für Menschenrechte, die Achtung des Völkerrechts und Multilateralismus.” Darüber müsse es einen “offenen Austausch” mit China geben.

Deutschlands China-Politik lässt sich nicht länger aufrechterhalten

Dabei hatte auch die FDP die Vorgängerregierung noch dafür kritisiert, in der deutschen China-Politik trotz der massiv zugenommenen Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik zu zurückhaltend gewesen zu sein. Nun scheinen Deutschlands wirtschaftliche Interessen in China aber auch der FDP wichtiger zu sein. 2020 betrug das Volumen des bilateralen Außenhandels zwischen China und Deutschland weit über 220 Milliarden Euro, so hoch wie mit keinem anderen EU-Land. Insbesondere für Deutschlands Autobauer ist das Reich der Mitte längst der mit Abstand wichtigste Markt der Welt.

Doch wer sich unter europäischen Diplomaten in Peking umhört, bekommt hinter vorgehaltener Hand immer öfter gesagt, dass sich Deutschlands zurückhaltende China-Politik in dem zunehmend polarisierten Klima kaum länger aufrechterhalten lässt. Ebenfalls lässt sich vernehmen, dass die Botschaftsmitarbeiter vor Ort angesichts der geschlossenen Grenzen und den auf Telefonanrufe und Video-Calls beschränkten Austausch immer größere Schwierigkeiten haben, den zuständigen Regierungsvertretern in Berlin diesen grundlegenden Wandel der Volksrepublik unter Xi Jinping deutlich zu machen.

Wer sich genauer bei Firmenvertretern in China umhört, erntet vor allem betretenes Schweigen. Verwundern sollte das nicht, denn angesichts der aufgeheizten Stimmung kann jede kritische Äußerung mit wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen geahndet werden. Gleichzeitig stehen die Firmen auf ihrem Heimatmarkt genauso unter Druck – aufgrund neuer Lieferkettengesetze und dem gestiegenen moralischen Bewusstsein der Konsumenten.

Die deutsche Handelskammer in Peking versucht sich in einem Kompromiss: Sie verschickt eine generische Stellungnahme, die Details vermeidet. “Wenn die Bundesregierung im Rahmen der gemeinsamen EU-China-Politik eine umfassende China-Strategie in Deutschland gestalten und die Regierungskonsultationen fortsetzen will, ist das auch aus Sicht der Deutschen Handelskammer in China sinnvoll. Wir regen an, den Dialog zwischen Deutschland und China in verschiedenen Formaten fortzuführen”, heißt es. Mitarbeit: Fabian Kretschmer

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    Litauen gegen China – Beispiel für wirtschaftliche Nötigung

    Für einige Tage existierte der Staat Litauen für Chinas Zollbeamte offenbar nicht mehr. Ein litauischer Holzexporteur berichtete in einem Nachrichtenportal von 300 Containern, die vor chinesischen Häfen feststeckten. Zeitnah meldeten auch weitere litauische Firmen, dass ihre Ware nicht vom Zoll abgefertigt wird. “Es scheint, als gebe es unser Land im chinesischen Zollsystem nicht mehr“, erklärte Vidmantas Janulevičius, Präsident des litauischen Industriellenverbandes.

    Die Konsequenz: Ladungen aus Litauen konnten in China nicht mehr gelöscht werden, umgekehrt kamen keine Exporte aus China nach Litauen – keinerlei Handel war möglich. So etwas gab es noch nie. Das Drama hielt auch die EU-Kommission in Brüssel auf Trab. Am Dienstag dann die Erlösung: In den Computern der chinesischen Zollbeamten fand sich der baltische Staat wieder, wie Janulevičius der South China Morning Post (SCMP) bestätigte. Von einem technischen Fehler sei die Rede gewesen. Die EU wollte demnach mit ihrer Vertretung in China Nachforschungen anstellen.

    Technischer Fehler oder beabsichtigte Machtgebärde – für Vilnius und Peking ist der Vorgang der neuste Akt im Streit um das “Taiwan”-Büro in der litauischen Hauptstadt. Bei der Auseinandersetzung des kleinen EU-Staats mit gut 2,8 Millionen Einwohnern gegen den Riesen China geht es um mehr als Holzlieferungen – für Litauen ist China kein wichtiger Handelspartner.

    Die Vorgänge sind vielmehr ein Test für die Regeln der internationalen Handelsordnung. Zudem steht die Frage im Raum, wie auf wirtschaftliche Nötigung durch die Volksrepublik gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union reagiert werden kann. Für Brüssel liefert Chinas Handeln gerade das perfekte Paradebeispiel für ein neues Instrument gegen wirtschaftliche Strafaktionen, das am Mittwoch offiziell vorgestellt werden soll.

    Litauen warnt vor Auswirkungen auf EU

    Außerdem rückt der Fokus wieder einmal auf den generellen EU-Ansatz gegenüber Peking. Denn der verhältnismäßig kleine EU-Staat Litauen ruft Brüssel auf den Plan. Die EU-Kommission muss nun reagieren: In einem Brief an EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis und den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell schrieb Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis am Montag, China erhöhe den “inakzeptablen” wirtschaftlichen Druck “auf ein beispiellos hohes Niveau”.

    Landsbergis warnte vor weiteren Konsequenzen für den Staatenbund: “Diese Aktivitäten der Behörden der Volksrepublik China gegen einen EU-Mitgliedstaat haben direkte Auswirkungen auf die gesamte EU und unsere gemeinsame Handelspolitik”, schrieb der Minister. “Ich möchte Sie bitten, im Namen Litauens bei den chinesischen Behörden zu intervenieren, um die derzeitige Situation zu lösen.” Das geschah offenbar. Andere litauische Wirtschaftsquellen berichteten der SCMP jedoch von anhaltenden Problemen.

    Die EU-Exekutive erklärte, sie stehe in Kontakt mit Vilnius, der EU-Delegation in Peking und den chinesischen Behörden, um weitere Informationen zu sammeln und die Situation zu klären. Die EU unterstützte Litauen derweil in Fragen der diplomatischen Bewertung des taiwanischen Büros. Dieses habe nicht den Status einer Botschaft und verstoße deshalb nicht gegen die “Ein-China-Politik”, betonte eine Sprecherin der Generaldirektion für Handel.

    China vermutet einen bösartigen Schachzug Litauens

    Und China? Peking behauptet, mit den Problemen der litauischen Händler nichts zu tun zu haben. Das staatliche Propagandablatt Global Times widersprach zu Beginn der Woche der Darstellung des EU-Staats: Litauen sei “noch nicht” aus dem System entfernt worden, hieß es. Wenn im Moment kein Handel stattfinde, dann liege es allein an den chinesischen Importeuren, die Risiken vermeiden wollten. Warum der Zoll deshalb aber die komplette Abfertigung verweigert, wurde nicht thematisiert. Das Blatt unterstellte Litauen stattdessen die Absicht, China in ein schlechtes Licht zu rücken. “Während die chinesische Regierung keine restriktiven Maßnahmen für aus Litauen importierte Waren erlassen hat, scheint es, dass das baltische Land es kaum erwarten kann, die sogenannten Sanktionen chinesischer Häfen gegen litauische Produkte hochzuspielen.” Der Vorgang sei ein “Stunt”, orchestriert aus Vilnius. Gleichzeitig warnte das Blatt scharf: Jedes Land, das “Kerninteressen Chinas” verletze, müsse zwangsläufig mit Gegenmaßnahmen rechnen.

    Doch aus der Import-/Exportbranche ist zu hören, dass eine Zollblockade durch China eben auch ohne eine offizielle Verwaltungsanweisung möglich ist. Rokas Radvilavičius, Direktor der litauisch-chinesischen Handelsvereinigung, sagte Medien seines Heimatlands, es habe keinerlei Bestätigung einer Blockade des Handels mit Litauen gegeben. Er vermute “interne, inoffizielle Anweisungen”. 

    Bei den von der Global Times angesprochenen “Kerninteressen” geht es um Taiwan. Der Zwist zwischen Vilnius und Peking hatte bereits im Frühsommer begonnen und seither zu einer steil abfallenden Abwärtsspirale der Beziehungen geführt. Als bekannt wurde, dass in der litauischen Hauptstadt ein “Taiwan”-Büro eröffnet werden solle, zog China aus Protest seinen Botschafter ab, stoppte den Schienen-Frachtverkehr nach Litauen und erteilte dem Land fortan keine Einfuhrgenehmigungen mehr für Lebensmittel (China.Table berichtete). Drei Tage nach der tatsächlichen Öffnung des Büros im November stufte Peking seine diplomatischen Beziehungen zu Litauen herab (China.Table berichtete).

    Abwärtsspirale wegen “Taiwan”-Büro

    Das Vorgehen gegen Litauen ist keine Premiere – Politik mit Handelssanktionen hat die Führung in Peking schon häufiger gemacht. Nachdem der Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo 2010 in Oslo den Friedensnobelpreis bekam, verhängte China ein Importverbot für norwegischen Lachs. Nach Kritik aus Australien schlug die Volksrepublik Strafzölle auf australischen Wein auf und verweigerte Schiffen, die Steinkohle aus Australien geladen hatten, das Löschen der Ladung. Einen ganzen Staat einfach aus dem Zollsystem zu löschen ist allerdings ein bisher nicht dagewesenes Vorgehen.

    Um China, aber auch den USA und ihren Strafzöllen, nun die Stirn zu bieten, wird die EU heute ihre neuen Abschreckungsmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken vorstellen: das sogenannte Anti-Coercion Instrument (ACI). Dieses ziele auf Staaten ab, die “in legitime souveräne Entscheidungen” der EU oder ihrer Mitgliedsstaaten eingreifen, “indem sie Maßnahmen ergreifen oder androhen, die den Handel oder die Investitionen beeinträchtigen”, wie es in einem Entwurf heißt.

    Was enthält der Vorschlag:

    • Einsatz nur als “letztes Mittel”: Die EU sollte nur dann Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn andere Mittel wie Verhandlungen, Mediation oder Urteile “nicht zur sofortigen und wirksamen Beendigung des wirtschaftlichen Zwanges und zur Wiedergutmachung des von ihr verursachten Schadens führen”. Es geht also primär um Abschreckung, die im besten Fall zu “keiner oder nur eingeschränkten Nutzung des Instruments” führen soll. Das ACI solle “keine erheblichen Kosten” verursachen.
    • Bei den Gegenmaßnahmen könnte die EU jedoch in einen großen Topf greifen: Der Vorschlag der EU-Kommission beinhaltet unter anderem zusätzliche Zölle, Investitionsbeschränkungen, Marktzugangsbeschränkungen oder den Ausschluss von Beschaffungsprogrammen. Dabei müsse auf Verhältnismäßigkeit geachtet werden: “Alle von der EU verhängten Maßnahmen sollten dem Schaden angemessen sein, der durch die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen der Drittländer verursacht wurde.”
    • Die Kompetenz liegt in Brüssel: Das ACI solle “effektiv, schnell und effizient” sein. Die Hoheit über die Umsetzung ist dem Entwurf zufolge bei der EU-Kommission gelagert, nicht bei den Mitgliedsstaaten.
    • Mehrere Kriterien zur Bestimmung: Bei der Entscheidung, ob ein wirtschaftlicher Zwang stattgefunden hat, will die Kommission nach “Intensität, Schwere, Häufigkeit, Dauer, Breite, Ausmaß” bewerten. Auch, ob das Drittland ein “Muster” verfolge, soll eine Rolle spielen.
    • Vor den Gegenmaßnahmen gibt es Verhandlungen: Nach einer “schnellen” Untersuchung des Nötigungsverdachts soll das Drittland aufgefordert werden, seine eigenen Ansichten vorzulegen. Gleichzeitig solle es Aufforderungen geben, “den wirtschaftlichen Zwang einzustellen und gegebenenfalls den Schaden der Europäischen Union oder der Mitgliedsstaaten zu beheben”, wie es in dem Entwurf heißt. Danach soll es direkte Verhandlungen geben sowie Aussprachen in internationalen Foren wie der WTO.

    EU: Gegenmaßnahmen als “letztes Mittel”

    Der Vorschlag der EU-Kommission soll am Mittwoch von EU-Handelskommissar Dombrovskis offiziell vorgestellt werden. Die Vorlage wird dann dem Europaparlament und dem EU-Rat zur Bewertung vorgelegt. Es kann also noch zu Änderungen kommen.

    Hat die EU mit ACI vielleicht das goldene Schwert gegen Chinas Handelsmobbing gefunden? Eher nicht, analysiert Viking Bohman vom Swedish National China Centre in einem Bericht. Erstens, argumentiert Bohman, ist es unwahrscheinlich, dass Chinas aggressive Diplomatie durch eine Androhung von Strafen abgeschreckt wird. So würde eher ein Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen beginnen. Bei ungeschickter Anwendung könnte sich die EU so selbst schaden. Zweitens, so Bohman, könne ACI nicht gegen Zwangshandlungen eingesetzt werden, die weder vom Angreifer noch vom Ziel öffentlich gemacht und so die EU-Kommission auf den Plan rufen würden.

    Besser als Vergeltungsmaßnahmen sei “Absorption”, heißt es in dem Bericht des China Centers: Mitgliedsstaaten, deren Handel mit China durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen blockiert sei, müssten Hilfe bekommen, andere Lieferketten zu entwickeln. Auch ein finanzieller Ausgleich durch einen Solidaritätsfonds könnte Nötigung demnach abfedern.

    ACI könnte zu Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen führen

    Bohman sieht den Vorschlag mit der bei Brüssel liegenden Umsetzungskompetenz kritisch: “Ich bezweifle ernsthaft, dass es so bleiben wird. Die EU-Mitgliedstaaten werden bei der Nutzung des Instruments mitreden wollen.” Die sich ergebenden Probleme mit China seien “hochgradig politischer Natur”. “Die Mitgliedsländer wären diejenigen, die angegriffen würden, und ihre Volkswirtschaften müssten die Kosten sowohl der Maßnahmen Chinas als auch der Gegenmaßnahmen der EU tragen.”

    Ähnlich sieht es auch Jonathan Hackenbroich, Leiter der Taskforce der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), die sich mit den Möglichkeiten der EU gegen wirtschaftlichen Zwang beschäftigt und wichtige Impulse im Erarbeitungsprozess von ACI gegeben hat. Die Mitsprache der Mitgliedsländer sei nun eine große Frage – und ob das Vorhaben im Rahmen der Verhandlungen verwässert wird. Darin sieht Hackenbroich ein Risiko: “Wenn es letztendlich zu einem ‘Kleinsten-gemeinsamer-Nenner’-Instrument wird, wäre das schlecht. Ein schwaches Instrument wäre der schlechteste Ausgang.” Auch Bedenken, dass es durch ACI zu Protektionismus kommen kann, stellen Hackenbroich zufolge ein Risiko für die EU dar. Hier müsse nun die richtige Balance gefunden werden. 

    Vorbehalte noch vor ACI-Vorstellung

    Auch die Effektivität der vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ist für Hackenbroich noch fraglich. Die US-Regierung unter Trump habe auch Strafzölle eingesetzt, zu einer Verhaltensänderung bei China habe das aber kaum geführt.

    “Wir können mit intensiven Diskussionen rechnen”, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters einen EU-Diplomaten. Frankreich, das im ersten Halbjahr 2022 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird, unterstützt die Maßnahme. Eher marktwirtschaftlich orientierte Staaten wie Schweden und Tschechien könnten es jedoch potenziell als zu protektionistisch sehen. Noch vor der offiziellen Vorstellung kamen am Dienstag aus Stockholm Bedenken: Die schwedische Regierung betonte einem Bloomberg-Bericht zufolge, sie sei nicht davon überzeugt, dass das Problem groß genug sei, um den Vorschlag der EU-Kommission in dieser Form überhaupt zu rechtfertigen.

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      Sinolytics.Radar

      Nationalstolz wird wichtiger beim Konsum

      Dieser Inhalt ist Lizenznehmern unserer Vollversion vorbehalten.
      • Aufstrebende chinesische Marken setzen zunehmend auf die Platzierung als explizit chinesische Premiumprodukte und nutzen dabei intensiv zum Beispiel Optik und Symbolik aus der chinesischen Geschichte, Kultur und nationalen Identität.
      • Dies ist zumeist kombiniert mit ausgefeiltem digitalem Marketing und Social Media Präsenz sowie einer steigenden Produktqualität zu niedrigeren Preisen als ausländische Konkurrenten sie bieten. Damit treffen diese Marken die Bedürfnisse insbesondere jüngerer chinesischer Konsumenten.
      • Der Erfolg des “Guochao” (“Nationale Flut”) genannten Trends basiert auf einem wachsendem nationalem Selbstbewusstsein, Stolz auf die steigende Qualität von “Made in China” sowie die Förderung eines starken Nationalgefühls durch die Regierung und Medien.
      • National ausgerichtetes Kaufverhalten stellt eine große Herausforderung für ausländische Marken auf dem chinesischen Markt dar. Durchdachte Markenlokalisierung wird, vor allem für Konsumartikelhersteller, noch entscheidender, um Marktanteile in China zu verteidigen.
      • Andererseits befinden sich viele der aufstrebenden chinesischen Marken noch ganz am Anfang: Angesichts hoher Marketinginvestitionen erreichen viele von ihnen noch nicht die Gewinnzone. Ausländische Marken haben also noch Chancen, die richtigen strategischen Antworten auf die “Nationale Flut” zu finden.

      Sinolytics ist ein europäisches Beratungs- und Analyseunternehmen, das sich ganz auf China konzentriert. Es berät europäische Unternehmen bei der strategischen Ausrichtung und den konkreten Geschäftsaktivitäten in China.

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        Insider – Evergrande bei Zinszahlungen im Rückstand

        Der hoch verschuldete chinesische Immobilienkonzern China Evergrande kann offenbar nicht mehr allen Zahlungsverpflichtungen bei seinen Anleihen nachkommen. Einige ausländische Gläubiger hätten am Ende der 30-tägigen Karenzfrist die fälligen Zinszahlungen nicht erhalten, sagten vier mit der Angelegenheit vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. Es handele sich um insgesamt
        82,5 Millionen Dollar. Somit verdichten sich die Anzeichen, dass der Immobilienentwickler vor einer Umstrukturierung der drückenden Schuldenlast steht (China.Table berichtete). Der zweitgrößte Immobilienentwickler der Volksrepublik sitzt auf einem Schuldenberg von mehr als 300 Milliarden Dollar.

        Finanzanalysten sind jedoch zuversichtlich, dass eine Umstrukturierung der Schulden Evergrandes überschaubare Folgen hätte. Das “Ansteckungsrisiko” sei nicht allzu hoch. Ein Zahlungsausfall von Evergrande würde eher dem Fall der HNA Group ähneln, deren Umstrukturierungsplan im Oktober von den Gläubigern genehmigt wurde, sagte eine Analystin gegenüber Reuters.

        Am Montag hatte Evergrande ein Risiko-Kommittee einberufen, das den Konzern restrukturieren soll. Die unterlassene Zinszahlung von Evergrande könnte die erste ausländische Unternehmensanleihe des Konzerns sein, die nicht bedient wurde. Sie dürfte weitere Versäumnisse nach sich ziehen. nib / rtr

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          China verfügt über 300 GW Windkraft-Kapazität

          China verfügt mittlerweile über mehr als 300 Gigawatt an netzangebundener Windkraft-Kapazität, wie die National Energy Administration bekannt gab. Seit 2016 hat sich die Kapazität somit verdoppelt. Insgesamt liegt die chinesische Windkraft-Kapazität 1,4 Mal höher als in der EU und 2,6 Mal höher als in den USA. Trotz des rasanten Ausbaus der Windkraft ist die Kohle weiterhin der dominante Energieträger Chinas und macht gut 2/3 der Stromproduktion aus. Windenergie macht heute rund 13 Prozent der installierten Stromerzeugungskapazität Chinas aus und trug 2020 sechs Prozent zur Energieproduktion bei. Da in den letzten Jahren auch die Gesamtnachfrage nach Strom stark anstieg, konnten die erneuerbaren Energien den Anteil des Kohlestroms noch nicht zurückdrängen. nib

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            China’s November exports rise 21.4% but growth eases INDEPENDENT
            The EU is finally putting its money where its mouth is on China CNN
            As China Evergrande Teeters, Beijing Steps In NYT
            China Increasingly Obscures True State of Its Economy to Outsiders WSJ
            US coerces others to prevent Chinese warships’ presence: Global Times editorial GLOBAL TIMES (STAATSMEDIUM)
            Null-Toleranz-StrategieChina fährt Null-Toleranz-Strategie bei Omikron: Jetzt drohen Lieferketten zu kollabieren FOCUS
            Neuseeland schickt keine Diplomaten zu Olympischen Winterspielen ZEIT
            Chinas Streit mit Litauen eskaliert – doch schon bald könnte die EU hart reagieren WELT
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            EU verlängert China-Sanktionen um ein Jahr DW

            Portrait

            Stephan Orth – Couchsurfer und Reisereporter

            Stephan Orth übers Couchsurfen in China
            Stephan Orth braucht auf Reisen keinen Komfort

            “Ich bin Reisereporter mit einer Vorliebe für Länder, die einen schlechten Ruf haben“, sagt Stephan Orth über sich selbst. Vor Ort lautet die Devise des professionellen Couchsurfers trotz aller intensiver Reisevorbereitung dann aber: “Alles ergebnisoffen angehen.” Und das muss man auch: Couchsurfer suchen über das Internet nach kostenlosen Schlafmöglichkeiten bei Fremden. Wo und mit welchem Komfort man bei dieser Reiseform abseits des Tourismus schließlich übernachtet, weiß man vorher so gut wie nie.

            Nachdem Orth bereits zwei erfolgreiche Bücher über seine Couchsurfing-Erfahrungen veröffentlicht hatte, flog er 2018 mit der Idee eines neuen Buches nach China. Mit einiger Vorerfahrung im Gepäck – der Journalist hatte zuvor bereits drei Chinareisen gemacht – bewegte er sich drei Monate allein und nur mit Chinesisch-Grundkenntnissen quer durch das Land. Dabei durfte er vor Freunden seiner Gastgeber häufig nicht erwähnen, dass er ein Couchsurfing-Gast ist, denn diese Art der Beherbergung von Fremden ist in China nicht üblich. Der Umstand, dass sich Besucher innerhalb von 24 Stunden bei der örtlichen Polizeibehörde melden müssen, erschwert den Prozess zusätzlich. Orths Reiseeindrücke mündeten schließlich in dem 2019 publizierten Buch Couchsurfing in China, einem literarischen Mosaik aus Begegnungen und unterschiedlichen Perspektiven, welche die verschiedenen Facetten Chinas offenlegen.

            Hundefleisch als Gastmahl

            Für den Reisereporter war nicht immer klar, dass er in diesem Genre arbeiten würde: “Ich hatte lange daran gedacht, eher über kulturelle oder gesellschaftliche Themen zu schreiben.” Der Schwenk zum Reisejournalismus habe sich durch sein Masterstudium in Australien ergeben. “Weil ich da ein paar Monate lang gereist bin”, sagt Orth. Neben Australien entdeckte er Neuseeland, die Inselgruppe Fidschi und die Cookinseln für sich. Später arbeitete der Journalist einige Jahre im Reiseressort bei Spiegel Online. “Und jetzt bin ich Reisereporter mit einem großen Fokus auf gesellschaftlichen und kulturellen Themen – und es passt irgendwie alles zusammen.”

            Sein Chinabuch widmete er dem Hund Xiao Bai, der für ihn bei einer Familie in der Provinz Guangxi als Gastmahl im Kochtopf endete. In solchen Momenten musste er entscheiden: “Will ich jetzt lieber höflich sein und brav mitessen oder will ich hier […] aus der Reihe tanzen?” Hunde werden in China lediglich in einigen Regionen als Nahrungsmittel betrachtet. Auf dem YouTube-Kanal In Bed With berichtet Stephan Orth, dass speziell die städtische junge Mittelschicht Hunde und Katzen eher als Haustiere hält. Der Autor weiß, wovon er spricht: An einem Punkt seiner Reise musste er sich seine Schlafgelegenheit mit fünf Katzen teilen.

            Als Journalist interessierte Stephan Orth aber auch die Medienzensur in China. Als das chinesische Nachrichtenportal Tiantian kuai bao 2018 ein Interview bei ihm anfragte, erlebte er sie am eigenen Leib. Denn was selbst das Filmteam nicht wusste: Kurz zuvor wurde ein Gesetz erlassen, welches die Live-Übertragung von Interviews mit Ausländern untersagt. Das Material müsse erst gesichtet werden, vertröstete man ihn auf unbestimmte Zeit. Und auch sein Buch wird den chinesischen Markt wohl nie erreichen.  

            Ob er sich selbst vorstellen könne, in China zu leben? “Für einige Zeit fände ich es auf jeden Fall hochinteressant – auf Dauer ist mir das Land aber auch etwas zu anstrengend.” Juliane Scholübbers

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              Dominic Barton wird zum Ende des Jahres seinen Posten als kanadischer Botschafter verlassen. Der frühere McKinsey-Manager war seit 2019 im Amt. Als mögliche Nachfolgerinnen gelten Cindy Termorshuizen, stellvertretende Missionsleiterin in Peking, Julia Bentley, die frühere Hochkommissarin in Malaysia und Sarah Taylor, Kanadas derzeitige Botschafterin für Thailand, Laos und Kambodscha.

              Dessert

              Schwere See: An der Westküste der russischen Insel Sachalin ist ein chinesisches Containerschiff auf Grund gelaufen. Der betagte Kahn mit dem Namen Xing Yuan war am Montagnachmittag von einem Sturm an das Ufer der Stadt Cholmsk getrieben worden. Die 12-köpfige Crew wurde von der russischen Küstenwache evakuiert. Das Schiff war ohne Ladung unterwegs, hat aber 103 Tonnen Treibstoff in seinen Tanks. Der Containerriese wird von Tauchern auf Lecks untersucht.

              China.Table Redaktion

              CHINA.TABLE REDAKTION

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                Liebe Leserin, lieber Leser,

                mitunter kommt es in der Geopolitik zu seltsamen “Zufällen”. Da verschwindet gerade Litauen für einige Tage aus dem Zollsystem Chinas. Der Handel wird also seltsamerweise gerade mit jenem Land unterbrochen, das sich jüngst Taiwan zugewandt hat und so der Volksrepublik Paroli bietet. Von einem technischen Fehler war die Rede. Das ist so leicht zu durchschauen, dass es nur als Botschaft in Richtung Vilnius verstanden werden kann. Amelie Richter hat sich den Konflikt zwischen dem baltischen EU-Staat und China genauer angeschaut. Peking liefert damit ein Paradebeispiel für die potenzielle Anwendung des neuen EU-Instruments gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen.

                Ob es auch beim diplomatischen Boykott der Olympischen Winterspiele durch die USA zu “technischen Fehlern” kommen wird, die USA also ernsthafte Konsequenzen zu befürchten haben, ist derzeit noch nicht absehbar. Peking hat jedoch schon mal mit “entschiedenen Gegenmaßnahmen” gedroht. Felix Lee berichtet über die Reaktionen auf den Boykott aus Peking und dem politischen Berlin. Bei den Grünen gibt es Sympathien für einen Boykott, doch die Koalitionspartner von SPD und FDP sind weitaus vorsichtiger.

                Ich wünsche viele neue Erkenntnisse!

                Ihr
                Nico Beckert
                Bild von Nico  Beckert

                Analyse

                US-Boykott bringt Ampel in Zugzwang

                Eine konzertierte Aktion gegen jemanden oder einen ganzen Staat, an der sich möglichst viele beteiligen – das ist die Definition des Begriffs “Boykott”. Er geht zurück auf den britischen Großgrundbesitzer Charles Cunningham Boycott, der bekannt dafür war, Wucherzinsen von seinen Pächtern zu verlangen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schinden. Sie kündigten allesamt und gingen gegen ihn auf die Straße. Dorfbewohner schlossen sich dem Protest an und boykottierten den Handel mit ihm. Selbst die Post wurde ihm nicht mehr zugestellt. Der Boykott als Protestform war geboren.  

                Aktuell haben die USA einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking verkündet. Und zwar einen “diplomatischen”. Wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen unter anderem gegen die muslimischen Uiguren werde Washington keine Regierungsvertreter zu den Spielen schicken, kündigte die Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, an. Auf die Frage, warum die US-Regierung von einem kompletten Boykott der Spiele absehe, antwortete Psaki, man habe die Sportler, die intensiv für die Spiele trainiert hätten, nicht bestrafen wollen.

                Nun könnte man meinen: Na und? Ob jetzt Vertreter der US-Regierung zur Eröffnungsfeier auf den Tribünen sitzen werden oder nicht – das beeinträchtigt die Wettkämpfe nicht wirklich. Chinas rigide Corona-Schutzmaßnahmen sehen ohnehin kein Publikum aus dem Ausland vor. In einer ersten Reaktion auf die Entscheidung erklärte der Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington auf Twitter denn auch, der Boykott werde keine Auswirkungen auf die Spiele haben. “Niemand würde sich darum kümmern, ob diese Leute kommen oder nicht”. Die staatliche chinesische Zeitung Global Times versuchte den Konflikt erst komplett herunterzuspielen und schrieb auf Twitter: “Um ehrlich zu sein, sind die Chinesen erleichtert über diese Nachricht, denn je weniger US-Beamte kommen, desto weniger Viren werden eingeschleppt”.

                Doch so ganz gelassen nimmt Peking den Olympia-Boykott dann doch nicht. Die USA sollten aufhören, “die Winterspiele in Peking durch Worte oder Taten zu stören”, wetterte Chinas Außenamtssprecher Zhao Lijian am nächsten Morgen. Ansonsten schadeten sie dem bilateralen Dialog und der Kooperation mit China in wichtigen Bereichen oder internationalen Fragen. Zudem solle Washington aufhören, den Sport zu politisieren. Olympia sei keine Bühne für “politische Manipulationen”. “Die USA werden den Preis für ihr Fehlverhalten bezahlen. Warten Sie ab“, drohte Zhao und kündigte “entschiedene Gegenmaßnahmen” an, ohne aber Details zu nennen. Der Versuch der USA, die Spiele “aus ideologischen Vorurteilen heraus zu behindern, die auf Lügen und Gerüchten beruhen, wird nur ihre finsteren Absichten aufdecken”, erklärte er.

                Deutschlands Politiker sind uneins

                Offenbar hatte die Führung gar nicht vor, zur Eröffnung und auch während der Winterspiele zwischen dem 4. und 20. Februar viel Staatsbesuch zu empfangen. Zhao hatte erst am Montag erklärt, dass China keine Einladungen ausgesprochen habe. Pandemiebedingt sind Zuschauer aus dem Ausland generell nicht vorgesehen. Das war auch bei den Olympischen Spielen im Sommer in Tokyo schon der Fall. Nur hatte das im Fall von Japan keine politische Bedeutung.

                Die US-Regierung hat aber auch andere Länder aufgefordert, sich dem diplomatischen Boykott anzuschließen. Und einige Länder könnten Washingtons Aufruf Folge leisten. Australien, das sich ebenfalls seit Jahren im Streit mit China befindet, hat sich zusammen mit weiteren 19 Staaten bereits geweigert, ein Abkommen zu unterzeichnen, das Politik von den Spielen fernhalten soll. Die Zeitung Sydney Morning Herald berichtet nun in ihrer Mittwochsausgabe unter Berufung auf Regierungskreise, Australien werde keine Beamten oder Politiker zu den Spielen entsenden. Ob Premier Scott Morrison einen formalen diplomatischen Boykott ausrufe, habe er noch nicht entschieden.

                Washingtons Forderung setzt auch die neue Ampel-Koalition in Berlin unter Zugzwang. Die designierte Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen hatte vergangene Woche im Gespräch mit China.Table einen Boykott der Spiele in Erwägung gezogen. “Wenn ich sehe, wie Chinas Führung mit der Tennisspielerin Peng Shuai umgeht oder mit der verhafteten Bürgerjournalistin Zhang Zhan, sollten wir natürlich auch die Olympischen Spiele genauer in den Blick nehmen”, sagte Baerbock. “Da gibt es für Regierungen unterschiedliche Formen des Umgangs, die in den kommenden Wochen sicherlich diskutiert werden.”

                Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, legte am Dienstag nach und begrüßte die US-Entscheidung explizit. Bei massiven Menschenrechtsverletzungen sei es “notwendig, dass man auch ein klares Signal setzt”, sagte Nouripour am Dienstag im rbb-Inforadio. Nouripour warb zwar ebenfalls nicht für einen vollständigen Boykott. “Athletinnen und Athleten, die ein Leben lang auf ein Ziel hingearbeitet haben”, dürften nicht Opfer der Politik werden, sagte er. Das US-Vorgehen, keine Regierungsvertreter zu den Spielen zu schicken, sei aber die “richtige Herangehensweise”. Er hoffe, “dass sich Deutschland dem anschließt”.

                Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bremst jedoch. Die Bundesregierung werde den Umgang mit China “sehr sorgfältig mit uns, unter uns und mit den Partnern in Europa und der Welt beraten”, sagte er am Dienstag. Viele Länder, mit denen Deutschland zu tun habe, hätten “Regierungsformen, die vollständig anders ausgerichtet sind, als das, was wir selber richtig finden”, sagte Scholz. Die neue Bundesregierung müsse es “hinkriegen, über die Unterschiede Bescheid zu wissen und trotzdem gut miteinander auszukommen in der Welt.” Dies sei ein “kluges Verständnis von Politik”.

                Ebenso schwammig blieb der designierte Finanzminister Christian Lindner (FDP). Bei der künftigen Ausgestaltung der Beziehungen zu China werde auch die wirtschaftliche Bedeutung der Volksrepublik für Deutschland in die Entscheidungen einbezogen, betonte er nun. Es werde “auch weiterhin die besondere Rolle des chinesischen Binnenmarkts für die deutsche Wirtschaft berücksichtigt werden”, sagte Lindner. “Auf der anderen Seite haben wir uns vorgenommen, auf der Weltbühne auch einen Einsatz zu zeigen für Menschenrechte, die Achtung des Völkerrechts und Multilateralismus.” Darüber müsse es einen “offenen Austausch” mit China geben.

                Deutschlands China-Politik lässt sich nicht länger aufrechterhalten

                Dabei hatte auch die FDP die Vorgängerregierung noch dafür kritisiert, in der deutschen China-Politik trotz der massiv zugenommenen Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik zu zurückhaltend gewesen zu sein. Nun scheinen Deutschlands wirtschaftliche Interessen in China aber auch der FDP wichtiger zu sein. 2020 betrug das Volumen des bilateralen Außenhandels zwischen China und Deutschland weit über 220 Milliarden Euro, so hoch wie mit keinem anderen EU-Land. Insbesondere für Deutschlands Autobauer ist das Reich der Mitte längst der mit Abstand wichtigste Markt der Welt.

                Doch wer sich unter europäischen Diplomaten in Peking umhört, bekommt hinter vorgehaltener Hand immer öfter gesagt, dass sich Deutschlands zurückhaltende China-Politik in dem zunehmend polarisierten Klima kaum länger aufrechterhalten lässt. Ebenfalls lässt sich vernehmen, dass die Botschaftsmitarbeiter vor Ort angesichts der geschlossenen Grenzen und den auf Telefonanrufe und Video-Calls beschränkten Austausch immer größere Schwierigkeiten haben, den zuständigen Regierungsvertretern in Berlin diesen grundlegenden Wandel der Volksrepublik unter Xi Jinping deutlich zu machen.

                Wer sich genauer bei Firmenvertretern in China umhört, erntet vor allem betretenes Schweigen. Verwundern sollte das nicht, denn angesichts der aufgeheizten Stimmung kann jede kritische Äußerung mit wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen geahndet werden. Gleichzeitig stehen die Firmen auf ihrem Heimatmarkt genauso unter Druck – aufgrund neuer Lieferkettengesetze und dem gestiegenen moralischen Bewusstsein der Konsumenten.

                Die deutsche Handelskammer in Peking versucht sich in einem Kompromiss: Sie verschickt eine generische Stellungnahme, die Details vermeidet. “Wenn die Bundesregierung im Rahmen der gemeinsamen EU-China-Politik eine umfassende China-Strategie in Deutschland gestalten und die Regierungskonsultationen fortsetzen will, ist das auch aus Sicht der Deutschen Handelskammer in China sinnvoll. Wir regen an, den Dialog zwischen Deutschland und China in verschiedenen Formaten fortzuführen”, heißt es. Mitarbeit: Fabian Kretschmer

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                  Litauen gegen China – Beispiel für wirtschaftliche Nötigung

                  Für einige Tage existierte der Staat Litauen für Chinas Zollbeamte offenbar nicht mehr. Ein litauischer Holzexporteur berichtete in einem Nachrichtenportal von 300 Containern, die vor chinesischen Häfen feststeckten. Zeitnah meldeten auch weitere litauische Firmen, dass ihre Ware nicht vom Zoll abgefertigt wird. “Es scheint, als gebe es unser Land im chinesischen Zollsystem nicht mehr“, erklärte Vidmantas Janulevičius, Präsident des litauischen Industriellenverbandes.

                  Die Konsequenz: Ladungen aus Litauen konnten in China nicht mehr gelöscht werden, umgekehrt kamen keine Exporte aus China nach Litauen – keinerlei Handel war möglich. So etwas gab es noch nie. Das Drama hielt auch die EU-Kommission in Brüssel auf Trab. Am Dienstag dann die Erlösung: In den Computern der chinesischen Zollbeamten fand sich der baltische Staat wieder, wie Janulevičius der South China Morning Post (SCMP) bestätigte. Von einem technischen Fehler sei die Rede gewesen. Die EU wollte demnach mit ihrer Vertretung in China Nachforschungen anstellen.

                  Technischer Fehler oder beabsichtigte Machtgebärde – für Vilnius und Peking ist der Vorgang der neuste Akt im Streit um das “Taiwan”-Büro in der litauischen Hauptstadt. Bei der Auseinandersetzung des kleinen EU-Staats mit gut 2,8 Millionen Einwohnern gegen den Riesen China geht es um mehr als Holzlieferungen – für Litauen ist China kein wichtiger Handelspartner.

                  Die Vorgänge sind vielmehr ein Test für die Regeln der internationalen Handelsordnung. Zudem steht die Frage im Raum, wie auf wirtschaftliche Nötigung durch die Volksrepublik gegen einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union reagiert werden kann. Für Brüssel liefert Chinas Handeln gerade das perfekte Paradebeispiel für ein neues Instrument gegen wirtschaftliche Strafaktionen, das am Mittwoch offiziell vorgestellt werden soll.

                  Litauen warnt vor Auswirkungen auf EU

                  Außerdem rückt der Fokus wieder einmal auf den generellen EU-Ansatz gegenüber Peking. Denn der verhältnismäßig kleine EU-Staat Litauen ruft Brüssel auf den Plan. Die EU-Kommission muss nun reagieren: In einem Brief an EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis und den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell schrieb Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis am Montag, China erhöhe den “inakzeptablen” wirtschaftlichen Druck “auf ein beispiellos hohes Niveau”.

                  Landsbergis warnte vor weiteren Konsequenzen für den Staatenbund: “Diese Aktivitäten der Behörden der Volksrepublik China gegen einen EU-Mitgliedstaat haben direkte Auswirkungen auf die gesamte EU und unsere gemeinsame Handelspolitik”, schrieb der Minister. “Ich möchte Sie bitten, im Namen Litauens bei den chinesischen Behörden zu intervenieren, um die derzeitige Situation zu lösen.” Das geschah offenbar. Andere litauische Wirtschaftsquellen berichteten der SCMP jedoch von anhaltenden Problemen.

                  Die EU-Exekutive erklärte, sie stehe in Kontakt mit Vilnius, der EU-Delegation in Peking und den chinesischen Behörden, um weitere Informationen zu sammeln und die Situation zu klären. Die EU unterstützte Litauen derweil in Fragen der diplomatischen Bewertung des taiwanischen Büros. Dieses habe nicht den Status einer Botschaft und verstoße deshalb nicht gegen die “Ein-China-Politik”, betonte eine Sprecherin der Generaldirektion für Handel.

                  China vermutet einen bösartigen Schachzug Litauens

                  Und China? Peking behauptet, mit den Problemen der litauischen Händler nichts zu tun zu haben. Das staatliche Propagandablatt Global Times widersprach zu Beginn der Woche der Darstellung des EU-Staats: Litauen sei “noch nicht” aus dem System entfernt worden, hieß es. Wenn im Moment kein Handel stattfinde, dann liege es allein an den chinesischen Importeuren, die Risiken vermeiden wollten. Warum der Zoll deshalb aber die komplette Abfertigung verweigert, wurde nicht thematisiert. Das Blatt unterstellte Litauen stattdessen die Absicht, China in ein schlechtes Licht zu rücken. “Während die chinesische Regierung keine restriktiven Maßnahmen für aus Litauen importierte Waren erlassen hat, scheint es, dass das baltische Land es kaum erwarten kann, die sogenannten Sanktionen chinesischer Häfen gegen litauische Produkte hochzuspielen.” Der Vorgang sei ein “Stunt”, orchestriert aus Vilnius. Gleichzeitig warnte das Blatt scharf: Jedes Land, das “Kerninteressen Chinas” verletze, müsse zwangsläufig mit Gegenmaßnahmen rechnen.

                  Doch aus der Import-/Exportbranche ist zu hören, dass eine Zollblockade durch China eben auch ohne eine offizielle Verwaltungsanweisung möglich ist. Rokas Radvilavičius, Direktor der litauisch-chinesischen Handelsvereinigung, sagte Medien seines Heimatlands, es habe keinerlei Bestätigung einer Blockade des Handels mit Litauen gegeben. Er vermute “interne, inoffizielle Anweisungen”. 

                  Bei den von der Global Times angesprochenen “Kerninteressen” geht es um Taiwan. Der Zwist zwischen Vilnius und Peking hatte bereits im Frühsommer begonnen und seither zu einer steil abfallenden Abwärtsspirale der Beziehungen geführt. Als bekannt wurde, dass in der litauischen Hauptstadt ein “Taiwan”-Büro eröffnet werden solle, zog China aus Protest seinen Botschafter ab, stoppte den Schienen-Frachtverkehr nach Litauen und erteilte dem Land fortan keine Einfuhrgenehmigungen mehr für Lebensmittel (China.Table berichtete). Drei Tage nach der tatsächlichen Öffnung des Büros im November stufte Peking seine diplomatischen Beziehungen zu Litauen herab (China.Table berichtete).

                  Abwärtsspirale wegen “Taiwan”-Büro

                  Das Vorgehen gegen Litauen ist keine Premiere – Politik mit Handelssanktionen hat die Führung in Peking schon häufiger gemacht. Nachdem der Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo 2010 in Oslo den Friedensnobelpreis bekam, verhängte China ein Importverbot für norwegischen Lachs. Nach Kritik aus Australien schlug die Volksrepublik Strafzölle auf australischen Wein auf und verweigerte Schiffen, die Steinkohle aus Australien geladen hatten, das Löschen der Ladung. Einen ganzen Staat einfach aus dem Zollsystem zu löschen ist allerdings ein bisher nicht dagewesenes Vorgehen.

                  Um China, aber auch den USA und ihren Strafzöllen, nun die Stirn zu bieten, wird die EU heute ihre neuen Abschreckungsmaßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken vorstellen: das sogenannte Anti-Coercion Instrument (ACI). Dieses ziele auf Staaten ab, die “in legitime souveräne Entscheidungen” der EU oder ihrer Mitgliedsstaaten eingreifen, “indem sie Maßnahmen ergreifen oder androhen, die den Handel oder die Investitionen beeinträchtigen”, wie es in einem Entwurf heißt.

                  Was enthält der Vorschlag:

                  • Einsatz nur als “letztes Mittel”: Die EU sollte nur dann Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn andere Mittel wie Verhandlungen, Mediation oder Urteile “nicht zur sofortigen und wirksamen Beendigung des wirtschaftlichen Zwanges und zur Wiedergutmachung des von ihr verursachten Schadens führen”. Es geht also primär um Abschreckung, die im besten Fall zu “keiner oder nur eingeschränkten Nutzung des Instruments” führen soll. Das ACI solle “keine erheblichen Kosten” verursachen.
                  • Bei den Gegenmaßnahmen könnte die EU jedoch in einen großen Topf greifen: Der Vorschlag der EU-Kommission beinhaltet unter anderem zusätzliche Zölle, Investitionsbeschränkungen, Marktzugangsbeschränkungen oder den Ausschluss von Beschaffungsprogrammen. Dabei müsse auf Verhältnismäßigkeit geachtet werden: “Alle von der EU verhängten Maßnahmen sollten dem Schaden angemessen sein, der durch die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen der Drittländer verursacht wurde.”
                  • Die Kompetenz liegt in Brüssel: Das ACI solle “effektiv, schnell und effizient” sein. Die Hoheit über die Umsetzung ist dem Entwurf zufolge bei der EU-Kommission gelagert, nicht bei den Mitgliedsstaaten.
                  • Mehrere Kriterien zur Bestimmung: Bei der Entscheidung, ob ein wirtschaftlicher Zwang stattgefunden hat, will die Kommission nach “Intensität, Schwere, Häufigkeit, Dauer, Breite, Ausmaß” bewerten. Auch, ob das Drittland ein “Muster” verfolge, soll eine Rolle spielen.
                  • Vor den Gegenmaßnahmen gibt es Verhandlungen: Nach einer “schnellen” Untersuchung des Nötigungsverdachts soll das Drittland aufgefordert werden, seine eigenen Ansichten vorzulegen. Gleichzeitig solle es Aufforderungen geben, “den wirtschaftlichen Zwang einzustellen und gegebenenfalls den Schaden der Europäischen Union oder der Mitgliedsstaaten zu beheben”, wie es in dem Entwurf heißt. Danach soll es direkte Verhandlungen geben sowie Aussprachen in internationalen Foren wie der WTO.

                  EU: Gegenmaßnahmen als “letztes Mittel”

                  Der Vorschlag der EU-Kommission soll am Mittwoch von EU-Handelskommissar Dombrovskis offiziell vorgestellt werden. Die Vorlage wird dann dem Europaparlament und dem EU-Rat zur Bewertung vorgelegt. Es kann also noch zu Änderungen kommen.

                  Hat die EU mit ACI vielleicht das goldene Schwert gegen Chinas Handelsmobbing gefunden? Eher nicht, analysiert Viking Bohman vom Swedish National China Centre in einem Bericht. Erstens, argumentiert Bohman, ist es unwahrscheinlich, dass Chinas aggressive Diplomatie durch eine Androhung von Strafen abgeschreckt wird. So würde eher ein Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen beginnen. Bei ungeschickter Anwendung könnte sich die EU so selbst schaden. Zweitens, so Bohman, könne ACI nicht gegen Zwangshandlungen eingesetzt werden, die weder vom Angreifer noch vom Ziel öffentlich gemacht und so die EU-Kommission auf den Plan rufen würden.

                  Besser als Vergeltungsmaßnahmen sei “Absorption”, heißt es in dem Bericht des China Centers: Mitgliedsstaaten, deren Handel mit China durch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen blockiert sei, müssten Hilfe bekommen, andere Lieferketten zu entwickeln. Auch ein finanzieller Ausgleich durch einen Solidaritätsfonds könnte Nötigung demnach abfedern.

                  ACI könnte zu Kreislauf von Vergeltungsmaßnahmen führen

                  Bohman sieht den Vorschlag mit der bei Brüssel liegenden Umsetzungskompetenz kritisch: “Ich bezweifle ernsthaft, dass es so bleiben wird. Die EU-Mitgliedstaaten werden bei der Nutzung des Instruments mitreden wollen.” Die sich ergebenden Probleme mit China seien “hochgradig politischer Natur”. “Die Mitgliedsländer wären diejenigen, die angegriffen würden, und ihre Volkswirtschaften müssten die Kosten sowohl der Maßnahmen Chinas als auch der Gegenmaßnahmen der EU tragen.”

                  Ähnlich sieht es auch Jonathan Hackenbroich, Leiter der Taskforce der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR), die sich mit den Möglichkeiten der EU gegen wirtschaftlichen Zwang beschäftigt und wichtige Impulse im Erarbeitungsprozess von ACI gegeben hat. Die Mitsprache der Mitgliedsländer sei nun eine große Frage – und ob das Vorhaben im Rahmen der Verhandlungen verwässert wird. Darin sieht Hackenbroich ein Risiko: “Wenn es letztendlich zu einem ‘Kleinsten-gemeinsamer-Nenner’-Instrument wird, wäre das schlecht. Ein schwaches Instrument wäre der schlechteste Ausgang.” Auch Bedenken, dass es durch ACI zu Protektionismus kommen kann, stellen Hackenbroich zufolge ein Risiko für die EU dar. Hier müsse nun die richtige Balance gefunden werden. 

                  Vorbehalte noch vor ACI-Vorstellung

                  Auch die Effektivität der vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ist für Hackenbroich noch fraglich. Die US-Regierung unter Trump habe auch Strafzölle eingesetzt, zu einer Verhaltensänderung bei China habe das aber kaum geführt.

                  “Wir können mit intensiven Diskussionen rechnen”, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters einen EU-Diplomaten. Frankreich, das im ersten Halbjahr 2022 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehaben wird, unterstützt die Maßnahme. Eher marktwirtschaftlich orientierte Staaten wie Schweden und Tschechien könnten es jedoch potenziell als zu protektionistisch sehen. Noch vor der offiziellen Vorstellung kamen am Dienstag aus Stockholm Bedenken: Die schwedische Regierung betonte einem Bloomberg-Bericht zufolge, sie sei nicht davon überzeugt, dass das Problem groß genug sei, um den Vorschlag der EU-Kommission in dieser Form überhaupt zu rechtfertigen.

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                    Nationalstolz wird wichtiger beim Konsum

                    Dieser Inhalt ist Lizenznehmern unserer Vollversion vorbehalten.
                    • Aufstrebende chinesische Marken setzen zunehmend auf die Platzierung als explizit chinesische Premiumprodukte und nutzen dabei intensiv zum Beispiel Optik und Symbolik aus der chinesischen Geschichte, Kultur und nationalen Identität.
                    • Dies ist zumeist kombiniert mit ausgefeiltem digitalem Marketing und Social Media Präsenz sowie einer steigenden Produktqualität zu niedrigeren Preisen als ausländische Konkurrenten sie bieten. Damit treffen diese Marken die Bedürfnisse insbesondere jüngerer chinesischer Konsumenten.
                    • Der Erfolg des “Guochao” (“Nationale Flut”) genannten Trends basiert auf einem wachsendem nationalem Selbstbewusstsein, Stolz auf die steigende Qualität von “Made in China” sowie die Förderung eines starken Nationalgefühls durch die Regierung und Medien.
                    • National ausgerichtetes Kaufverhalten stellt eine große Herausforderung für ausländische Marken auf dem chinesischen Markt dar. Durchdachte Markenlokalisierung wird, vor allem für Konsumartikelhersteller, noch entscheidender, um Marktanteile in China zu verteidigen.
                    • Andererseits befinden sich viele der aufstrebenden chinesischen Marken noch ganz am Anfang: Angesichts hoher Marketinginvestitionen erreichen viele von ihnen noch nicht die Gewinnzone. Ausländische Marken haben also noch Chancen, die richtigen strategischen Antworten auf die “Nationale Flut” zu finden.

                    Sinolytics ist ein europäisches Beratungs- und Analyseunternehmen, das sich ganz auf China konzentriert. Es berät europäische Unternehmen bei der strategischen Ausrichtung und den konkreten Geschäftsaktivitäten in China.

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                      Insider – Evergrande bei Zinszahlungen im Rückstand

                      Der hoch verschuldete chinesische Immobilienkonzern China Evergrande kann offenbar nicht mehr allen Zahlungsverpflichtungen bei seinen Anleihen nachkommen. Einige ausländische Gläubiger hätten am Ende der 30-tägigen Karenzfrist die fälligen Zinszahlungen nicht erhalten, sagten vier mit der Angelegenheit vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. Es handele sich um insgesamt
                      82,5 Millionen Dollar. Somit verdichten sich die Anzeichen, dass der Immobilienentwickler vor einer Umstrukturierung der drückenden Schuldenlast steht (China.Table berichtete). Der zweitgrößte Immobilienentwickler der Volksrepublik sitzt auf einem Schuldenberg von mehr als 300 Milliarden Dollar.

                      Finanzanalysten sind jedoch zuversichtlich, dass eine Umstrukturierung der Schulden Evergrandes überschaubare Folgen hätte. Das “Ansteckungsrisiko” sei nicht allzu hoch. Ein Zahlungsausfall von Evergrande würde eher dem Fall der HNA Group ähneln, deren Umstrukturierungsplan im Oktober von den Gläubigern genehmigt wurde, sagte eine Analystin gegenüber Reuters.

                      Am Montag hatte Evergrande ein Risiko-Kommittee einberufen, das den Konzern restrukturieren soll. Die unterlassene Zinszahlung von Evergrande könnte die erste ausländische Unternehmensanleihe des Konzerns sein, die nicht bedient wurde. Sie dürfte weitere Versäumnisse nach sich ziehen. nib / rtr

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                        China verfügt über 300 GW Windkraft-Kapazität

                        China verfügt mittlerweile über mehr als 300 Gigawatt an netzangebundener Windkraft-Kapazität, wie die National Energy Administration bekannt gab. Seit 2016 hat sich die Kapazität somit verdoppelt. Insgesamt liegt die chinesische Windkraft-Kapazität 1,4 Mal höher als in der EU und 2,6 Mal höher als in den USA. Trotz des rasanten Ausbaus der Windkraft ist die Kohle weiterhin der dominante Energieträger Chinas und macht gut 2/3 der Stromproduktion aus. Windenergie macht heute rund 13 Prozent der installierten Stromerzeugungskapazität Chinas aus und trug 2020 sechs Prozent zur Energieproduktion bei. Da in den letzten Jahren auch die Gesamtnachfrage nach Strom stark anstieg, konnten die erneuerbaren Energien den Anteil des Kohlestroms noch nicht zurückdrängen. nib

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                          Stephan Orth übers Couchsurfen in China
                          Stephan Orth braucht auf Reisen keinen Komfort

                          “Ich bin Reisereporter mit einer Vorliebe für Länder, die einen schlechten Ruf haben“, sagt Stephan Orth über sich selbst. Vor Ort lautet die Devise des professionellen Couchsurfers trotz aller intensiver Reisevorbereitung dann aber: “Alles ergebnisoffen angehen.” Und das muss man auch: Couchsurfer suchen über das Internet nach kostenlosen Schlafmöglichkeiten bei Fremden. Wo und mit welchem Komfort man bei dieser Reiseform abseits des Tourismus schließlich übernachtet, weiß man vorher so gut wie nie.

                          Nachdem Orth bereits zwei erfolgreiche Bücher über seine Couchsurfing-Erfahrungen veröffentlicht hatte, flog er 2018 mit der Idee eines neuen Buches nach China. Mit einiger Vorerfahrung im Gepäck – der Journalist hatte zuvor bereits drei Chinareisen gemacht – bewegte er sich drei Monate allein und nur mit Chinesisch-Grundkenntnissen quer durch das Land. Dabei durfte er vor Freunden seiner Gastgeber häufig nicht erwähnen, dass er ein Couchsurfing-Gast ist, denn diese Art der Beherbergung von Fremden ist in China nicht üblich. Der Umstand, dass sich Besucher innerhalb von 24 Stunden bei der örtlichen Polizeibehörde melden müssen, erschwert den Prozess zusätzlich. Orths Reiseeindrücke mündeten schließlich in dem 2019 publizierten Buch Couchsurfing in China, einem literarischen Mosaik aus Begegnungen und unterschiedlichen Perspektiven, welche die verschiedenen Facetten Chinas offenlegen.

                          Hundefleisch als Gastmahl

                          Für den Reisereporter war nicht immer klar, dass er in diesem Genre arbeiten würde: “Ich hatte lange daran gedacht, eher über kulturelle oder gesellschaftliche Themen zu schreiben.” Der Schwenk zum Reisejournalismus habe sich durch sein Masterstudium in Australien ergeben. “Weil ich da ein paar Monate lang gereist bin”, sagt Orth. Neben Australien entdeckte er Neuseeland, die Inselgruppe Fidschi und die Cookinseln für sich. Später arbeitete der Journalist einige Jahre im Reiseressort bei Spiegel Online. “Und jetzt bin ich Reisereporter mit einem großen Fokus auf gesellschaftlichen und kulturellen Themen – und es passt irgendwie alles zusammen.”

                          Sein Chinabuch widmete er dem Hund Xiao Bai, der für ihn bei einer Familie in der Provinz Guangxi als Gastmahl im Kochtopf endete. In solchen Momenten musste er entscheiden: “Will ich jetzt lieber höflich sein und brav mitessen oder will ich hier […] aus der Reihe tanzen?” Hunde werden in China lediglich in einigen Regionen als Nahrungsmittel betrachtet. Auf dem YouTube-Kanal In Bed With berichtet Stephan Orth, dass speziell die städtische junge Mittelschicht Hunde und Katzen eher als Haustiere hält. Der Autor weiß, wovon er spricht: An einem Punkt seiner Reise musste er sich seine Schlafgelegenheit mit fünf Katzen teilen.

                          Als Journalist interessierte Stephan Orth aber auch die Medienzensur in China. Als das chinesische Nachrichtenportal Tiantian kuai bao 2018 ein Interview bei ihm anfragte, erlebte er sie am eigenen Leib. Denn was selbst das Filmteam nicht wusste: Kurz zuvor wurde ein Gesetz erlassen, welches die Live-Übertragung von Interviews mit Ausländern untersagt. Das Material müsse erst gesichtet werden, vertröstete man ihn auf unbestimmte Zeit. Und auch sein Buch wird den chinesischen Markt wohl nie erreichen.  

                          Ob er sich selbst vorstellen könne, in China zu leben? “Für einige Zeit fände ich es auf jeden Fall hochinteressant – auf Dauer ist mir das Land aber auch etwas zu anstrengend.” Juliane Scholübbers

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                            Personalien

                            Dominic Barton wird zum Ende des Jahres seinen Posten als kanadischer Botschafter verlassen. Der frühere McKinsey-Manager war seit 2019 im Amt. Als mögliche Nachfolgerinnen gelten Cindy Termorshuizen, stellvertretende Missionsleiterin in Peking, Julia Bentley, die frühere Hochkommissarin in Malaysia und Sarah Taylor, Kanadas derzeitige Botschafterin für Thailand, Laos und Kambodscha.

                            Dessert

                            Schwere See: An der Westküste der russischen Insel Sachalin ist ein chinesisches Containerschiff auf Grund gelaufen. Der betagte Kahn mit dem Namen Xing Yuan war am Montagnachmittag von einem Sturm an das Ufer der Stadt Cholmsk getrieben worden. Die 12-köpfige Crew wurde von der russischen Küstenwache evakuiert. Das Schiff war ohne Ladung unterwegs, hat aber 103 Tonnen Treibstoff in seinen Tanks. Der Containerriese wird von Tauchern auf Lecks untersucht.

                            China.Table Redaktion

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