chinesische Desinformations- und Fake-News-Bemühungen in westlichen Sozialmedien zeichnen sich bisher in der Regel durch ihre Flachheit aus. Videos von tanzenden Minderheiten oder die Lobpreisung für Xi Jinping in Kommentarspalten sind relativ schnell als Agenda-gesteuert ausmachbar. Das macht die Kampagnen aber nicht weniger gefährlich. Denn nicht jede Nutzerin oder Nutzer weiß um die Propaganda-Interessen aus Peking.
Meta hat nun tausende Konten, die demnach einem Desinformation-Netzwerk aus China zugehören, auf seinen Plattformen wie Facebook und Instagram gesperrt. Die Konten des Netzwerks hätten in ihren Beiträgen typischerweise China und im Besonderen die Provinz Xinjiang gepriesen, andererseits Kritik an den USA, westlicher Außenpolitik und Regierungskritikern geübt, schreibt Marcel Grzanna. Facebook sei aber nur die Spitze des Eisbergs dieser Spamouflage. Experten warnen auch, dass die Desinformation zunehmend subtiler wird.
Schon mehrfach hat die chinesische Führung das insbesondere von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern verhasste Hukou-System grundlegend reformieren wollen. Das strenge Meldesystem, das einen unkontrollierten Zuzug von Menschen vom Land in die Städte vermeiden soll, soll jetzt ein Stück weit gelockert werden: Landbewohner dürfen sich künftig offiziell in mittelgroßen Städten niederlassen, erklärt Frank Sieren. Peking will damit auch die Wirtschaft ankurbeln.
Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Peking, Shanghai oder Guangzhou bleiben aber weiter ohne Stadtrechte.
Zur Mittagspause stehen nationale Interessen in China für eine kurze Weile hinten an. Das klingt nach Satire, aber der US-Internetkonzern Meta hat dafür einen empirischen Beleg geliefert. Die Aktivitäten einer Vielzahl gefälschter Konten in Metas sozialen Netzwerken wie Facebook lassen regelmäßig signifikant nach, wenn in der Volksrepublik zum Mittag gerufen wird. Kaum ist der Hunger gestillt, steigen die Aktivitäten wieder deutlich an. Verlässlich von montags bis freitags.
Das Essverhalten der Betreiber von solchen Fake-Accounts ist Teil eines Mosaiks, das Meta seit Frühjahr 2022 zusammengesetzt hat, um chinesische Desinformationskampagnen – Spamouflage getauft – auf seinen eigenen Plattformen zu entlarven. Spamouflage sei die größte und produktivste verdeckte Online-Kampagne weltweit gewesen, heißt es im jüngsten Adversarial Threat Report des Unternehmens, der am Dienstag veröffentlicht wurde.
Meta hat reagiert und gut ein Jahr vor den US-Präsidentschaftswahlen 8.000 Facebook-Konten, 954 Seiten, 15 Gruppen und 15 Instagram-Konten gesperrt. Das Netzwerk war auch aufgeflogen, weil viele Kommentare von verschiedenen Konten im Wortlaut identisch waren: Kritik an den USA und anderen westlichen Regierungen, Verharmlosung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Uiguren in Xinjiang oder Gerüchte, das Corona-Virus habe sich von den USA aus in der Welt verbreitet statt aus Wuhan.
Facebook als Multiplikator ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Meta identifizierte durch Rückverfolgung über 50 Plattformen und Foren, wo die Kampagnen gestreut waren und oftmals ihren Ursprung nahmen. Tiktok, Twitter (heute X), Reddit oder YouTube wurden geschwemmt, aber auch völlig unpolitische Plattformen benutzt wie Soundcloud, Pinterest, TripAdvisor oder die Kunst-Website Artstation.
Wie groß der Effekt der Einflussnahme tatsächlich ist, lässt sich schwer nachvollziehen. Meta glaubt an eine begrenzte Wirkung, weil das Netzwerk in weiten Teilen um sich selbst rotiert. Der Bericht zeigt auf, dass von über einer halben Million Facebook-Konten, die als Abonnenten der jetzt gesperrten Seiten die Inhalte bezogen, ein großer Teil aus Vietnam, Bangladesch und Brasilien stammten, “von denen wir nicht annehmen, dass sie Ziel dieser Operation sind”.
Den Einfluss solcher Netzwerke zu unterschätzen, wäre jedoch leichtsinnig. “Als Hauptrisiko sehe ich das Potenzial für autoritäre Einflussnahme in demokratischen Informationsräumen”, sagt Rebecca Arcesati, die beim Berliner Merics-Institut zu Chinas Digitalpolitik forscht, dem Branchendienst Netzpolitik.org.
Die chinesische Regierung hat seit Inkrafttreten des Datensicherheitgesetzes im Jahr 2021 nicht nur einen mächtigen Hebel, um an Daten zu gelangen, die chinesische Unternehmen sammeln. Durch die verpflichtende Integration von Parteizellen in die Chefetagen kann Peking auch direkten Einfluss auf die Firmenpolitik nehmen. “Die Kontrolle von Inhalten ist etwas, an dem die Kommunistische Partei Chinas sehr interessiert ist. Es ist die Idee, die öffentliche Meinung nicht nur im eigenen Land zu beeinflussen, sondern auch außerhalb“, sagte Arcesati.
Beispiel Tiktok: Die weltweit populäre Videoplattform ist als Teil von Spamouflage ein wichtiges Werkzeug zur Verbreitung gezielter Informationen, wie Studien ergeben haben. Durch die Übertragbarkeit von Tiktok-Inhalten auf Facebook, Instagram oder X haben diese theoretisch das Potenzial, sich rasend schnell um den Globus zu verbreiten.
Der Einfluss von Algorithmen auf die politische Haltung eines Nutzers kann individuell unterschätzt werden. Während arglose Jugendliche, aber auch Erwachsene massenhaft Inhalte konsumieren, die von den Behörden der Volksrepublik grünes Licht erhalten, sind sie sich nicht darüber im Klaren, dass sie dadurch möglicherweise sehr behutsam, aber konsequent manipuliert werden sollen.
Die Beeinflussung erfolgt zum Teil sehr indirekt. “Ich nutze die Apps nur für Lifestyle-Themen. Dadurch kann ich gewiss nicht politisch beeinflusst werden”, erklärt beispielsweise eine 16-Jährige aus Taiwan im Gespräch mit dem britischen Guardian, der sich mit dem Einfluss Chinas auf die Jugend des Inselstaates beschäftigte.
Dabei funktioniert politische Einflussnahme seitens der chinesischen Regierung nicht immer in Form von eindeutigen Aussagen, sondern durch subtile Botschaften, die in einem größeren Kontext vermittelt werden. “Wir sollten meiner Meinung nach über algorithmische Manipulationen besorgt sein und darüber, wie TikTok von der chinesischen Regierung gesponserte Inhalte priorisieren könnte“, sagte Merics-Analystin Arcesati zu Netzpolitik.org.
Doch wie der Meta-Bericht aufzeigt, ist Tiktok eben auch nur ein Rädchen im Betrieb. “Das Muster der Verbreitung desselben Artikels über viele verschiedene Plattformen und Konten gab Spamouflage ein beträchtliches Maß an Widerstandsfähigkeit, da es Maßnahmen von vielen verschiedenen Plattformen benötigt, um ihre Artikel endgültig zu löschen.”
Bereits im 14. Fünfjahresplan hatte China 2021 Lockerungen des Hukou-Systems angekündigt. Das Haushaltsregistrierungssystem trennt seit Jahrzehnten die Menschen entlang der Stadt-Land-Grenze und bestimmt ihren Zugang zu Sozialleistungen, Bildung und Dienstleistungen. Änderungen der Beschränkungen soll es jetzt vor allem in kleinen und mittleren Städten geben. Peking erhofft sich dadurch auch einen Schub für das Wirtschaftswachstum.
In Städten mit einer Bevölkerungszahl zwischen drei und fünf Millionen Einwohnern würden die Regeln “völlig gelockert”, verkündete Yuan Xiguo, ein Sprecher des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei Städten mit weniger als drei Millionen Einwohnern, was natürlich sehr viel mehr sind, sollen die Regeln erstmals “umfassend erleichtert” werden. Zudem soll das Punktesystem, nachdem man einen Hukou auch für die Megastädte bekommt, verbessert und die Zuzugsquoten erhöht werden.
He Wenlin, der Forschungschef des Ministeriums für Staatssicherheit, sagte, die Lockerung habe das Ziel, die “freie Bewegung” von Arbeitskräften, aber auch von Autos, Daten und Informationen zu fördern. Wie sich die neuen Regelungen auf die Binnenmigration auswirkten, werde sich noch zeigen. Die Regierung erhofft sich durch die Erleichterungen, Chinas schwächelndes Wachstum wieder anzukurbeln. Insofern ist es wahrscheinlich, dass Peking die Provinzen anweist, die Regelungen schnell umzusetzen.
Die Erleichterungen bestehen vor allem darin, dass es einfacher wird, eine Wohnberechtigung im System der ständigen Wohnsitzkontrolle in den kleinen Städten zu bekommen. An diesem Hukou hängen die Sozialleistungen bis hin zu der Berechtigung der Kinder, kostenfrei eine Schule zu besuchen.
Lange war es so, dass die Eltern zwar in einer großen Stadt arbeiten konnten, wenn sie einen Job gefunden haben. Ihre Kinder mussten aber zu Hause bei den Großeltern bleiben, weil sie in der Metropole keinen Hukou-Schulplatz bekamen, wenn die Quote der Migranten in den Städten ausgeschöpft war. Auch zu ärztlichen Behandlungen mussten die Arbeitsmigranten dann in ihr Dorf oder ihre Kleinstadt zurückkehren, was besonders bitter war, weil die Gesundheitsversorgung dort in der Regel noch viel schlechter ist.
Der Zuwachs in die Städte war in den vergangenen Jahren ungebrochen: Im Jahr 2020 wurden in der Volksrepublik rund 376 Millionen Binnenmigranten gezählt, das entsprach knapp 27 Prozent der mehr als 1,4 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung des Landes.
Damit hatte sich ihre Zahl gegenüber 2010 (rund 154 Millionen) mehr als verdoppelt. “Kaum jemand hatte mit einem solch starken Zuwachs gerechnet”, sagt Bettina Gransow, Professorin am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin. Die meisten Migranten wollen in die Megastädte der reichen Küstenregionen. Die Regierung möchte das weiterhin verhindern. Sie fürchtet, dass die Städte von dem Ansturm überlastet werden.
In den Städten sind die Haushaltseinkommen um den Faktor 2,5 höher. Man verdient also im Durchschnitt 250 Prozent mehr und hat meist trotz der höheren Lebenshaltungskosten noch Geld übrig. Das ist verlockend. Die Regierung möchte jedoch verhindern, dass mehr Menschen ungeregelt in die Städte strömen. “Der Umfang der Migration innerhalb Chinas ist größer als jener der weltweiten grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen”, stellt Gransow fest.
Zhejiang, eine der reichen Küstenprovinzen südlich von Shanghai mit knapp 60 Millionen Einwohnern ist Anfang August bereits vorgeprescht. Sie hob die Restriktionen in der Provinz völlig auf, außer für die Stadt Hangzhou, in der gut zehn Millionen Menschen leben. Dort liegt auch die Zentrale von Alibaba, dem chinesischen Amazon mit einem Umsatz von 126 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr.
Auch Geely, einer der führenden chinesischen Autohersteller, hat dort seinen Sitz. Geely besitzt Volvo und ist an Daimler beteiligt. In Hangzhou und anderen Städten in Zhejiang soll jetzt das Punktesystem so verbessert werden, dass es Spitzenarbeitskräften erleichtert wird, dort einen Hukou zu bekommen.
In der Greater Bay Area um Guangdong, Hong Kong und Macau werden die Regeln ebenfalls gelockert, damit eine der wichtigsten Boomregionen der Welt effizienter zusammenwachsen kann. “Das ist eine gute Entwicklung”, sagt Michael Pettis, Senior Fellow bei der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden mit Sitz in Peking. Mancher habe umgekehrt befürchtet, dass die Regierung angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Chinas die Hukou-Regeln verschärft. Die Entspannung sei so gesehen ein “Grund, optimistisch zu sein”.
China wird ab Mittwoch bei Einreisen in die Volksrepublik keinen negativen Corona-Test mehr verlangen. Das kündigte ein Außenamtssprecher am Montag in Peking an. Es handele sich um einen weiteren Meilenstein bei der Beendigung der seit Anfang 2020 verhängten Beschränkungen, sagte Wang.
Bis Dezember verfolgte China eine strikte “Null-Covid”-Politik, durch die ganze Städte in den Lockdown versetzt wurden und infizierte Personen für lange Zeit in Quarantäne gesteckt wurden. Die Kosten jener Null-Covid-Politik waren erheblich – wirtschaftlich, sozial, aber zunehmend auch politisch. Erst als sich in der Bevölkerung immer stärker Unmut breitmachte und es zu Protesten kam, lenkte die Führung in Peking ein. rad
Ein US-Forscherteam hat frei zugängliche Daten ausgewertet, um die Zahl der an Covid-19 gestorbenen Menschen in China zu ermitteln. Demnach liegt die Zahl der zusätzlich Verstorbenen bei zwei Millionen. Das Fred Hutchinson Cancer Center in Seattle hat dazu Suchmaschinentreffer und andere Informationen zu Nachrufen und Beerdigungen ausgewertet.
Die Behörden hatten nur die absurd niedrige Zahl von 60.000 Toten bekannt gegeben. Schätzungen von Wissenschaftlern in Hongkong variierten zwischen knapp einer und mehreren Millionen Toten. Ab Dezember 2022 war das Virus praktisch ungebremst durch die Bevölkerung gerauscht. fin
Gestern vor einem Jahr wurde der UN-Bericht zur Menschenrechtslage in Xinjiang veröffentlicht. Anlässlich des Jahrestages nannte Amnesty International den Bericht eine “ernste Mahnung, China für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen”. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den Bericht nannte die Menschenrechtsorganisation “völlig unzureichend”.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hatte den Bericht am letzten Tag ihrer Amtszeit kurz vor Mitternacht veröffentlicht. Es war der erste Bericht der UN zur Menschenrechtslage in Xinjiang. Die chinesische Regierung hatte bis zuletzt versucht, die Veröffentlichung zu verhindern.
In dem Bericht heißt es unter anderem, dass Handlungen der chinesischen Regierung in Xinjiang “internationale Verbrechen darstellen können, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Der Report vermeidet den Ausdruck “Genozid”, der unter anderem von der US-Regierung und mehreren Parlamenten demokratischer Staaten verwendet wird, thematisiert aber sehr konkret die Vorwürfe der Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und Folter. Peking konnte in einem Annex auf den Bericht antworten. Auf 131 Seiten – fast dreimal so lang wie der UN-Bericht selbst – erklärt die chinesische Regierung, dass “die sogenannte Bewertung China in den Schmutz ziehe” und es verleumde.
Über ein Jahr lang war die Veröffentlichung des Berichts immer wieder verschoben worden. Bachelet hatte die letzte Verzögerung damit begründet, dass sie die Eindrücke ihres Xinjiang-Besuchs Ende Mai in das Dokument integrieren wollte. Allerdings war die Reise nach Xinjiang keine offizielle Untersuchung und in ihrem Umfang stark eingeschränkt. jul
Die Geschichte der europäisch-chinesischen Beziehungen ist eine Erzählung mit Höhen und Tiefen. Gerade für Deutschland war die Zusammenarbeit mit China in den letzten dreißig Jahren eine echte Erfolgsstory: Deutschlands Wirtschaft hat unheimlich von Chinas Aufstieg profitiert und ihn gleichzeitig befördert. Er hat uns reicher gemacht und resilienter gegenüber den kleinen und großen Krisen, die uns begegnet sind. Auch wegen des florierenden China-Geschäfts war Deutschland in der Lage, die Rolle eines finanziell potenten Stabilitätsankers in Europa zu spielen – von der Eurokrise bis zur Coronapandemie.
Deutschland verlor dabei – anders als die USA – nur wenige Jobs nach China und auch nicht die eigene industrielle Basis. Ein Konzern wie Volkswagen produzierte nicht günstig in China, um dann in Wolfsburg Arbeitsplätze abzubauen. Der Kuchen wurde einfach immer größer. Für Europa in Europa, für China in China wurden so immer mehr Autos verkauft. Mehr als so mancher Ingenieur des Traditionskonzerns vielleicht je zu träumen gewagt hatte. […] Alle konnten sich als Gewinner fühlen.
In jüngster Zeit allerdings ändert sich die Stimmung zunehmend. Es sind Brüche aufgetreten. Und dabei ist es bemerkenswert, dass der erste wirklich laute Weckruf gerade aus der deutschen Wirtschaft kam. Noch verwunderlicher ist es, dass es ausgerechnet der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) war, der die Botschaft in der Breite zur Diskussion stellte. Der BDI steht selten im Verdacht, revolutionäre Umstürze anzuzetteln, gehört er doch eigentlich eher zum konservativen Spektrum des deutschen Verbandswesens. Aber im Januar 2019 war es ein Positionspapier ebendieser Organisation, das etwas tat, was andere bisher vermieden hatten: Die Entwicklungen, die man als Unternehmer:in vor Ort beobachten konnte, weiterzudenken und das Problem, das sich da zusammenbraute, klar zu benennen. Es war der Moment, an dem eine neue Form des Wettbewerbs ins Spiel kam, genauer: der “Systemwettbewerb”. […]
In den sonst doch oft etwas trockenen Debatten des deutschen und europäischen Politikbetriebs kam dieser Moment einem echten Paukenschlag gleich. Die Formulierung “Systemwettbewerb” versuchte, die Herausforderung zu beschreiben, der sich deutsche Konzerne im nach wie vor florierenden China-Geschäft gegenübersahen. Der Wandel von Komplementarität zu Konkurrenz. Und er räumte im selben Atemzug mit einem Mythos auf: der Illusion des friedlichen Aufstiegs der Volksrepublik, der nur Gewinner und keine Verlierer kenne.
Um China ranken sich viele Mythen und Allgemeinplätze. Das ist nicht verwunderlich. Für die meisten Deutschen ist China weit weg, das politische System wenig einladend, die Sprache kompliziert. Aber es haftet eben allem auch ein Hauch Mystisches, etwas Jahrhundertealtes, kulturell Beeindruckendes an. […]
Hinzu kommt, dass viele der entstandenen Glaubenssätze, mit denen versucht wird, das Phänomen China zu fassen, Versionen der Wirklichkeit und Geschichtsschreibung sind, die von der Kommunistischen Partei Chinas ganz bewusst verbreitet und immer wieder wiederholt werden. Realität entsteht auch durch das Ausbleiben von Widerspruch, und Repetition sorgt für Gewöhnungseffekte. Wenn ein großer Kommunikations- und Propagandaapparat bestimmte Sätze in Dauerschleife von sich gibt, dann werden sie irgendwann kaum noch hinterfragt. “Die Kommunistische Partei Chinas hat 400 Millionen Menschen aus der Armut befreit” ist so ein Satz, oder: “China hat noch nie ein anderes Land angegriffen und kolonialisiert”, “Eine Entkopplung von China ist nicht möglich”, “China ist nicht Russland”, “Ohne Zusammenarbeit mit China ist globaler Klimaschutz unmöglich”, “China will das eigene System nicht exportieren”.
Aber nicht nur die Partei hat den Mythos des modernen China geschaffen, viele andere Akteure haben kräftig daran mitgebaut: Unternehmer:innen, die davon schwärmen, wie effizient die Dinge in China geregelt sind und mit welcher Geschwindigkeit Projekte auf den Weg gebracht werden können; Politiker:innen, die beeindruckt von der Art, wie ihnen der Empfang bereitet und angesichts der schieren Möglichkeiten und technischen Finessen, die ihnen in China von Robotern serviert werden, den Abstieg des Westens voraussagen; Expert:innen, die Chinas kulturelle Besonderheiten beschwören und deshalb jede umfangreichere Kritik an der Kommunistischen Partei zur Anmaßung erklären. […]
Die Illusionen, denen wir uns in Deutschland gern mit Blick auf China hingeben, suggerieren uns, dass entweder kein Handlungsdruck besteht oder dass wir es mit alternativlosen Umständen zu tun haben, die den Gesetzen der Physik in kaum etwas nachstehen: “Eine Entkopplung von China ist nicht möglich” – wirklich? Auch eine vollständige Loslösung von russischem Gas innerhalb eines Jahres wäre vor der russischen Invasion in die Ukraine sicher in eine vergleichbare Kategorie des Unmöglichen gefallen. Ist die Entkopplung also eher nicht wünschenswert? Das ist dann aber etwas ganz anderes und bringt auch völlig andere politische Fragen und Abwägungen mit sich: Nicht wünschenswert für wen? Warum? Wer profitiert von einer engen Anbindung an China? Wirklich alle? Oder einige wenige besonders stark? Wie verändern sich das Risiko und die Kosten, je mehr Zeit vergeht und je machtvoller China wird?
Es ist nicht polemisch, diese Fragen zu stellen, sondern vernünftig. Sie führen möglicherweise zu unbequemen Antworten oder zu der Erkenntnis, dass besser erklärt werden muss, warum die derzeitige Kosten-Nutzen-Abwägung nach wie vor Bestand hat. Es sind eben doch keine Gesetze der Physik, mit denen wir es hier zu tun haben, sondern die der Politik und des Marktes. Und die sind vieles, aber definitiv nicht ausschließlich rational und berechenbar. [….]
Der Ton gegenüber den USA und ihren Partnern ist rau geworden, über der Welt schwebt nicht nur das Gespenst eines erneuten Kalten Krieges, sondern die echte Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung. Was ist passiert? Wie konnte die Lage in den letzten zehn Jahren so massiv eskalieren? Warum ist es nicht so gekommen, wie man es sich im Westen gewünscht, ja eigentlich eher schon, wie man es fest geplant hatte? Warum ist inzwischen das Verhältnis zwischen China und der Europäischen Union auf nahe null abgekühlt? Und wer trägt die Verantwortung für all die geplatzten Träume? Die USA? Europa? Oder doch China selbst?
Wie so oft gibt es leider keine einfache Erklärung. Politische Entwicklungen entstehen immer in einem größeren Kontext. Innenpolitik ist überall auf der Welt wichtig und findet dennoch nirgendwo in Isolation vom internationalen Geschehen statt. Vieles hat sich gegenseitig bedingt, und einige Abzweigungen wurden mehr oder weniger ungezielt genommen. Was man aber festhalten kann: Etwas ist anders im China Xi Jinpings, und das ist beunruhigend und bisweilen zutiefst verstörend. Aber ist es wirklich neu? Oder ist es eine Rückkehr zum Naturzustand autoritärer Führung im China der Kommunistischen Partei?
Janka Oertel, ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Sinologin und seit vielen Jahren bei verschiedenen Forsschungsinstituten tätig. Derzeit leitet sie das Asienprogramm des European Council on Foreign Relations (ECFR). Dies ist eine Vorveröffentlichung aus ihrem neuen Buch “Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen”. Es erscheint am 24. August im Piper Verlag.
chinesische Desinformations- und Fake-News-Bemühungen in westlichen Sozialmedien zeichnen sich bisher in der Regel durch ihre Flachheit aus. Videos von tanzenden Minderheiten oder die Lobpreisung für Xi Jinping in Kommentarspalten sind relativ schnell als Agenda-gesteuert ausmachbar. Das macht die Kampagnen aber nicht weniger gefährlich. Denn nicht jede Nutzerin oder Nutzer weiß um die Propaganda-Interessen aus Peking.
Meta hat nun tausende Konten, die demnach einem Desinformation-Netzwerk aus China zugehören, auf seinen Plattformen wie Facebook und Instagram gesperrt. Die Konten des Netzwerks hätten in ihren Beiträgen typischerweise China und im Besonderen die Provinz Xinjiang gepriesen, andererseits Kritik an den USA, westlicher Außenpolitik und Regierungskritikern geübt, schreibt Marcel Grzanna. Facebook sei aber nur die Spitze des Eisbergs dieser Spamouflage. Experten warnen auch, dass die Desinformation zunehmend subtiler wird.
Schon mehrfach hat die chinesische Führung das insbesondere von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern verhasste Hukou-System grundlegend reformieren wollen. Das strenge Meldesystem, das einen unkontrollierten Zuzug von Menschen vom Land in die Städte vermeiden soll, soll jetzt ein Stück weit gelockert werden: Landbewohner dürfen sich künftig offiziell in mittelgroßen Städten niederlassen, erklärt Frank Sieren. Peking will damit auch die Wirtschaft ankurbeln.
Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Peking, Shanghai oder Guangzhou bleiben aber weiter ohne Stadtrechte.
Zur Mittagspause stehen nationale Interessen in China für eine kurze Weile hinten an. Das klingt nach Satire, aber der US-Internetkonzern Meta hat dafür einen empirischen Beleg geliefert. Die Aktivitäten einer Vielzahl gefälschter Konten in Metas sozialen Netzwerken wie Facebook lassen regelmäßig signifikant nach, wenn in der Volksrepublik zum Mittag gerufen wird. Kaum ist der Hunger gestillt, steigen die Aktivitäten wieder deutlich an. Verlässlich von montags bis freitags.
Das Essverhalten der Betreiber von solchen Fake-Accounts ist Teil eines Mosaiks, das Meta seit Frühjahr 2022 zusammengesetzt hat, um chinesische Desinformationskampagnen – Spamouflage getauft – auf seinen eigenen Plattformen zu entlarven. Spamouflage sei die größte und produktivste verdeckte Online-Kampagne weltweit gewesen, heißt es im jüngsten Adversarial Threat Report des Unternehmens, der am Dienstag veröffentlicht wurde.
Meta hat reagiert und gut ein Jahr vor den US-Präsidentschaftswahlen 8.000 Facebook-Konten, 954 Seiten, 15 Gruppen und 15 Instagram-Konten gesperrt. Das Netzwerk war auch aufgeflogen, weil viele Kommentare von verschiedenen Konten im Wortlaut identisch waren: Kritik an den USA und anderen westlichen Regierungen, Verharmlosung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Uiguren in Xinjiang oder Gerüchte, das Corona-Virus habe sich von den USA aus in der Welt verbreitet statt aus Wuhan.
Facebook als Multiplikator ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Meta identifizierte durch Rückverfolgung über 50 Plattformen und Foren, wo die Kampagnen gestreut waren und oftmals ihren Ursprung nahmen. Tiktok, Twitter (heute X), Reddit oder YouTube wurden geschwemmt, aber auch völlig unpolitische Plattformen benutzt wie Soundcloud, Pinterest, TripAdvisor oder die Kunst-Website Artstation.
Wie groß der Effekt der Einflussnahme tatsächlich ist, lässt sich schwer nachvollziehen. Meta glaubt an eine begrenzte Wirkung, weil das Netzwerk in weiten Teilen um sich selbst rotiert. Der Bericht zeigt auf, dass von über einer halben Million Facebook-Konten, die als Abonnenten der jetzt gesperrten Seiten die Inhalte bezogen, ein großer Teil aus Vietnam, Bangladesch und Brasilien stammten, “von denen wir nicht annehmen, dass sie Ziel dieser Operation sind”.
Den Einfluss solcher Netzwerke zu unterschätzen, wäre jedoch leichtsinnig. “Als Hauptrisiko sehe ich das Potenzial für autoritäre Einflussnahme in demokratischen Informationsräumen”, sagt Rebecca Arcesati, die beim Berliner Merics-Institut zu Chinas Digitalpolitik forscht, dem Branchendienst Netzpolitik.org.
Die chinesische Regierung hat seit Inkrafttreten des Datensicherheitgesetzes im Jahr 2021 nicht nur einen mächtigen Hebel, um an Daten zu gelangen, die chinesische Unternehmen sammeln. Durch die verpflichtende Integration von Parteizellen in die Chefetagen kann Peking auch direkten Einfluss auf die Firmenpolitik nehmen. “Die Kontrolle von Inhalten ist etwas, an dem die Kommunistische Partei Chinas sehr interessiert ist. Es ist die Idee, die öffentliche Meinung nicht nur im eigenen Land zu beeinflussen, sondern auch außerhalb“, sagte Arcesati.
Beispiel Tiktok: Die weltweit populäre Videoplattform ist als Teil von Spamouflage ein wichtiges Werkzeug zur Verbreitung gezielter Informationen, wie Studien ergeben haben. Durch die Übertragbarkeit von Tiktok-Inhalten auf Facebook, Instagram oder X haben diese theoretisch das Potenzial, sich rasend schnell um den Globus zu verbreiten.
Der Einfluss von Algorithmen auf die politische Haltung eines Nutzers kann individuell unterschätzt werden. Während arglose Jugendliche, aber auch Erwachsene massenhaft Inhalte konsumieren, die von den Behörden der Volksrepublik grünes Licht erhalten, sind sie sich nicht darüber im Klaren, dass sie dadurch möglicherweise sehr behutsam, aber konsequent manipuliert werden sollen.
Die Beeinflussung erfolgt zum Teil sehr indirekt. “Ich nutze die Apps nur für Lifestyle-Themen. Dadurch kann ich gewiss nicht politisch beeinflusst werden”, erklärt beispielsweise eine 16-Jährige aus Taiwan im Gespräch mit dem britischen Guardian, der sich mit dem Einfluss Chinas auf die Jugend des Inselstaates beschäftigte.
Dabei funktioniert politische Einflussnahme seitens der chinesischen Regierung nicht immer in Form von eindeutigen Aussagen, sondern durch subtile Botschaften, die in einem größeren Kontext vermittelt werden. “Wir sollten meiner Meinung nach über algorithmische Manipulationen besorgt sein und darüber, wie TikTok von der chinesischen Regierung gesponserte Inhalte priorisieren könnte“, sagte Merics-Analystin Arcesati zu Netzpolitik.org.
Doch wie der Meta-Bericht aufzeigt, ist Tiktok eben auch nur ein Rädchen im Betrieb. “Das Muster der Verbreitung desselben Artikels über viele verschiedene Plattformen und Konten gab Spamouflage ein beträchtliches Maß an Widerstandsfähigkeit, da es Maßnahmen von vielen verschiedenen Plattformen benötigt, um ihre Artikel endgültig zu löschen.”
Bereits im 14. Fünfjahresplan hatte China 2021 Lockerungen des Hukou-Systems angekündigt. Das Haushaltsregistrierungssystem trennt seit Jahrzehnten die Menschen entlang der Stadt-Land-Grenze und bestimmt ihren Zugang zu Sozialleistungen, Bildung und Dienstleistungen. Änderungen der Beschränkungen soll es jetzt vor allem in kleinen und mittleren Städten geben. Peking erhofft sich dadurch auch einen Schub für das Wirtschaftswachstum.
In Städten mit einer Bevölkerungszahl zwischen drei und fünf Millionen Einwohnern würden die Regeln “völlig gelockert”, verkündete Yuan Xiguo, ein Sprecher des Ministeriums für Staatssicherheit. Bei Städten mit weniger als drei Millionen Einwohnern, was natürlich sehr viel mehr sind, sollen die Regeln erstmals “umfassend erleichtert” werden. Zudem soll das Punktesystem, nachdem man einen Hukou auch für die Megastädte bekommt, verbessert und die Zuzugsquoten erhöht werden.
He Wenlin, der Forschungschef des Ministeriums für Staatssicherheit, sagte, die Lockerung habe das Ziel, die “freie Bewegung” von Arbeitskräften, aber auch von Autos, Daten und Informationen zu fördern. Wie sich die neuen Regelungen auf die Binnenmigration auswirkten, werde sich noch zeigen. Die Regierung erhofft sich durch die Erleichterungen, Chinas schwächelndes Wachstum wieder anzukurbeln. Insofern ist es wahrscheinlich, dass Peking die Provinzen anweist, die Regelungen schnell umzusetzen.
Die Erleichterungen bestehen vor allem darin, dass es einfacher wird, eine Wohnberechtigung im System der ständigen Wohnsitzkontrolle in den kleinen Städten zu bekommen. An diesem Hukou hängen die Sozialleistungen bis hin zu der Berechtigung der Kinder, kostenfrei eine Schule zu besuchen.
Lange war es so, dass die Eltern zwar in einer großen Stadt arbeiten konnten, wenn sie einen Job gefunden haben. Ihre Kinder mussten aber zu Hause bei den Großeltern bleiben, weil sie in der Metropole keinen Hukou-Schulplatz bekamen, wenn die Quote der Migranten in den Städten ausgeschöpft war. Auch zu ärztlichen Behandlungen mussten die Arbeitsmigranten dann in ihr Dorf oder ihre Kleinstadt zurückkehren, was besonders bitter war, weil die Gesundheitsversorgung dort in der Regel noch viel schlechter ist.
Der Zuwachs in die Städte war in den vergangenen Jahren ungebrochen: Im Jahr 2020 wurden in der Volksrepublik rund 376 Millionen Binnenmigranten gezählt, das entsprach knapp 27 Prozent der mehr als 1,4 Milliarden Menschen umfassenden Bevölkerung des Landes.
Damit hatte sich ihre Zahl gegenüber 2010 (rund 154 Millionen) mehr als verdoppelt. “Kaum jemand hatte mit einem solch starken Zuwachs gerechnet”, sagt Bettina Gransow, Professorin am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin. Die meisten Migranten wollen in die Megastädte der reichen Küstenregionen. Die Regierung möchte das weiterhin verhindern. Sie fürchtet, dass die Städte von dem Ansturm überlastet werden.
In den Städten sind die Haushaltseinkommen um den Faktor 2,5 höher. Man verdient also im Durchschnitt 250 Prozent mehr und hat meist trotz der höheren Lebenshaltungskosten noch Geld übrig. Das ist verlockend. Die Regierung möchte jedoch verhindern, dass mehr Menschen ungeregelt in die Städte strömen. “Der Umfang der Migration innerhalb Chinas ist größer als jener der weltweiten grenzüberschreitenden Migrationsbewegungen”, stellt Gransow fest.
Zhejiang, eine der reichen Küstenprovinzen südlich von Shanghai mit knapp 60 Millionen Einwohnern ist Anfang August bereits vorgeprescht. Sie hob die Restriktionen in der Provinz völlig auf, außer für die Stadt Hangzhou, in der gut zehn Millionen Menschen leben. Dort liegt auch die Zentrale von Alibaba, dem chinesischen Amazon mit einem Umsatz von 126 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr.
Auch Geely, einer der führenden chinesischen Autohersteller, hat dort seinen Sitz. Geely besitzt Volvo und ist an Daimler beteiligt. In Hangzhou und anderen Städten in Zhejiang soll jetzt das Punktesystem so verbessert werden, dass es Spitzenarbeitskräften erleichtert wird, dort einen Hukou zu bekommen.
In der Greater Bay Area um Guangdong, Hong Kong und Macau werden die Regeln ebenfalls gelockert, damit eine der wichtigsten Boomregionen der Welt effizienter zusammenwachsen kann. “Das ist eine gute Entwicklung”, sagt Michael Pettis, Senior Fellow bei der Carnegie Stiftung für internationalen Frieden mit Sitz in Peking. Mancher habe umgekehrt befürchtet, dass die Regierung angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Chinas die Hukou-Regeln verschärft. Die Entspannung sei so gesehen ein “Grund, optimistisch zu sein”.
China wird ab Mittwoch bei Einreisen in die Volksrepublik keinen negativen Corona-Test mehr verlangen. Das kündigte ein Außenamtssprecher am Montag in Peking an. Es handele sich um einen weiteren Meilenstein bei der Beendigung der seit Anfang 2020 verhängten Beschränkungen, sagte Wang.
Bis Dezember verfolgte China eine strikte “Null-Covid”-Politik, durch die ganze Städte in den Lockdown versetzt wurden und infizierte Personen für lange Zeit in Quarantäne gesteckt wurden. Die Kosten jener Null-Covid-Politik waren erheblich – wirtschaftlich, sozial, aber zunehmend auch politisch. Erst als sich in der Bevölkerung immer stärker Unmut breitmachte und es zu Protesten kam, lenkte die Führung in Peking ein. rad
Ein US-Forscherteam hat frei zugängliche Daten ausgewertet, um die Zahl der an Covid-19 gestorbenen Menschen in China zu ermitteln. Demnach liegt die Zahl der zusätzlich Verstorbenen bei zwei Millionen. Das Fred Hutchinson Cancer Center in Seattle hat dazu Suchmaschinentreffer und andere Informationen zu Nachrufen und Beerdigungen ausgewertet.
Die Behörden hatten nur die absurd niedrige Zahl von 60.000 Toten bekannt gegeben. Schätzungen von Wissenschaftlern in Hongkong variierten zwischen knapp einer und mehreren Millionen Toten. Ab Dezember 2022 war das Virus praktisch ungebremst durch die Bevölkerung gerauscht. fin
Gestern vor einem Jahr wurde der UN-Bericht zur Menschenrechtslage in Xinjiang veröffentlicht. Anlässlich des Jahrestages nannte Amnesty International den Bericht eine “ernste Mahnung, China für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen”. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den Bericht nannte die Menschenrechtsorganisation “völlig unzureichend”.
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, hatte den Bericht am letzten Tag ihrer Amtszeit kurz vor Mitternacht veröffentlicht. Es war der erste Bericht der UN zur Menschenrechtslage in Xinjiang. Die chinesische Regierung hatte bis zuletzt versucht, die Veröffentlichung zu verhindern.
In dem Bericht heißt es unter anderem, dass Handlungen der chinesischen Regierung in Xinjiang “internationale Verbrechen darstellen können, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit”. Der Report vermeidet den Ausdruck “Genozid”, der unter anderem von der US-Regierung und mehreren Parlamenten demokratischer Staaten verwendet wird, thematisiert aber sehr konkret die Vorwürfe der Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen und Folter. Peking konnte in einem Annex auf den Bericht antworten. Auf 131 Seiten – fast dreimal so lang wie der UN-Bericht selbst – erklärt die chinesische Regierung, dass “die sogenannte Bewertung China in den Schmutz ziehe” und es verleumde.
Über ein Jahr lang war die Veröffentlichung des Berichts immer wieder verschoben worden. Bachelet hatte die letzte Verzögerung damit begründet, dass sie die Eindrücke ihres Xinjiang-Besuchs Ende Mai in das Dokument integrieren wollte. Allerdings war die Reise nach Xinjiang keine offizielle Untersuchung und in ihrem Umfang stark eingeschränkt. jul
Die Geschichte der europäisch-chinesischen Beziehungen ist eine Erzählung mit Höhen und Tiefen. Gerade für Deutschland war die Zusammenarbeit mit China in den letzten dreißig Jahren eine echte Erfolgsstory: Deutschlands Wirtschaft hat unheimlich von Chinas Aufstieg profitiert und ihn gleichzeitig befördert. Er hat uns reicher gemacht und resilienter gegenüber den kleinen und großen Krisen, die uns begegnet sind. Auch wegen des florierenden China-Geschäfts war Deutschland in der Lage, die Rolle eines finanziell potenten Stabilitätsankers in Europa zu spielen – von der Eurokrise bis zur Coronapandemie.
Deutschland verlor dabei – anders als die USA – nur wenige Jobs nach China und auch nicht die eigene industrielle Basis. Ein Konzern wie Volkswagen produzierte nicht günstig in China, um dann in Wolfsburg Arbeitsplätze abzubauen. Der Kuchen wurde einfach immer größer. Für Europa in Europa, für China in China wurden so immer mehr Autos verkauft. Mehr als so mancher Ingenieur des Traditionskonzerns vielleicht je zu träumen gewagt hatte. […] Alle konnten sich als Gewinner fühlen.
In jüngster Zeit allerdings ändert sich die Stimmung zunehmend. Es sind Brüche aufgetreten. Und dabei ist es bemerkenswert, dass der erste wirklich laute Weckruf gerade aus der deutschen Wirtschaft kam. Noch verwunderlicher ist es, dass es ausgerechnet der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) war, der die Botschaft in der Breite zur Diskussion stellte. Der BDI steht selten im Verdacht, revolutionäre Umstürze anzuzetteln, gehört er doch eigentlich eher zum konservativen Spektrum des deutschen Verbandswesens. Aber im Januar 2019 war es ein Positionspapier ebendieser Organisation, das etwas tat, was andere bisher vermieden hatten: Die Entwicklungen, die man als Unternehmer:in vor Ort beobachten konnte, weiterzudenken und das Problem, das sich da zusammenbraute, klar zu benennen. Es war der Moment, an dem eine neue Form des Wettbewerbs ins Spiel kam, genauer: der “Systemwettbewerb”. […]
In den sonst doch oft etwas trockenen Debatten des deutschen und europäischen Politikbetriebs kam dieser Moment einem echten Paukenschlag gleich. Die Formulierung “Systemwettbewerb” versuchte, die Herausforderung zu beschreiben, der sich deutsche Konzerne im nach wie vor florierenden China-Geschäft gegenübersahen. Der Wandel von Komplementarität zu Konkurrenz. Und er räumte im selben Atemzug mit einem Mythos auf: der Illusion des friedlichen Aufstiegs der Volksrepublik, der nur Gewinner und keine Verlierer kenne.
Um China ranken sich viele Mythen und Allgemeinplätze. Das ist nicht verwunderlich. Für die meisten Deutschen ist China weit weg, das politische System wenig einladend, die Sprache kompliziert. Aber es haftet eben allem auch ein Hauch Mystisches, etwas Jahrhundertealtes, kulturell Beeindruckendes an. […]
Hinzu kommt, dass viele der entstandenen Glaubenssätze, mit denen versucht wird, das Phänomen China zu fassen, Versionen der Wirklichkeit und Geschichtsschreibung sind, die von der Kommunistischen Partei Chinas ganz bewusst verbreitet und immer wieder wiederholt werden. Realität entsteht auch durch das Ausbleiben von Widerspruch, und Repetition sorgt für Gewöhnungseffekte. Wenn ein großer Kommunikations- und Propagandaapparat bestimmte Sätze in Dauerschleife von sich gibt, dann werden sie irgendwann kaum noch hinterfragt. “Die Kommunistische Partei Chinas hat 400 Millionen Menschen aus der Armut befreit” ist so ein Satz, oder: “China hat noch nie ein anderes Land angegriffen und kolonialisiert”, “Eine Entkopplung von China ist nicht möglich”, “China ist nicht Russland”, “Ohne Zusammenarbeit mit China ist globaler Klimaschutz unmöglich”, “China will das eigene System nicht exportieren”.
Aber nicht nur die Partei hat den Mythos des modernen China geschaffen, viele andere Akteure haben kräftig daran mitgebaut: Unternehmer:innen, die davon schwärmen, wie effizient die Dinge in China geregelt sind und mit welcher Geschwindigkeit Projekte auf den Weg gebracht werden können; Politiker:innen, die beeindruckt von der Art, wie ihnen der Empfang bereitet und angesichts der schieren Möglichkeiten und technischen Finessen, die ihnen in China von Robotern serviert werden, den Abstieg des Westens voraussagen; Expert:innen, die Chinas kulturelle Besonderheiten beschwören und deshalb jede umfangreichere Kritik an der Kommunistischen Partei zur Anmaßung erklären. […]
Die Illusionen, denen wir uns in Deutschland gern mit Blick auf China hingeben, suggerieren uns, dass entweder kein Handlungsdruck besteht oder dass wir es mit alternativlosen Umständen zu tun haben, die den Gesetzen der Physik in kaum etwas nachstehen: “Eine Entkopplung von China ist nicht möglich” – wirklich? Auch eine vollständige Loslösung von russischem Gas innerhalb eines Jahres wäre vor der russischen Invasion in die Ukraine sicher in eine vergleichbare Kategorie des Unmöglichen gefallen. Ist die Entkopplung also eher nicht wünschenswert? Das ist dann aber etwas ganz anderes und bringt auch völlig andere politische Fragen und Abwägungen mit sich: Nicht wünschenswert für wen? Warum? Wer profitiert von einer engen Anbindung an China? Wirklich alle? Oder einige wenige besonders stark? Wie verändern sich das Risiko und die Kosten, je mehr Zeit vergeht und je machtvoller China wird?
Es ist nicht polemisch, diese Fragen zu stellen, sondern vernünftig. Sie führen möglicherweise zu unbequemen Antworten oder zu der Erkenntnis, dass besser erklärt werden muss, warum die derzeitige Kosten-Nutzen-Abwägung nach wie vor Bestand hat. Es sind eben doch keine Gesetze der Physik, mit denen wir es hier zu tun haben, sondern die der Politik und des Marktes. Und die sind vieles, aber definitiv nicht ausschließlich rational und berechenbar. [….]
Der Ton gegenüber den USA und ihren Partnern ist rau geworden, über der Welt schwebt nicht nur das Gespenst eines erneuten Kalten Krieges, sondern die echte Angst vor einer militärischen Auseinandersetzung. Was ist passiert? Wie konnte die Lage in den letzten zehn Jahren so massiv eskalieren? Warum ist es nicht so gekommen, wie man es sich im Westen gewünscht, ja eigentlich eher schon, wie man es fest geplant hatte? Warum ist inzwischen das Verhältnis zwischen China und der Europäischen Union auf nahe null abgekühlt? Und wer trägt die Verantwortung für all die geplatzten Träume? Die USA? Europa? Oder doch China selbst?
Wie so oft gibt es leider keine einfache Erklärung. Politische Entwicklungen entstehen immer in einem größeren Kontext. Innenpolitik ist überall auf der Welt wichtig und findet dennoch nirgendwo in Isolation vom internationalen Geschehen statt. Vieles hat sich gegenseitig bedingt, und einige Abzweigungen wurden mehr oder weniger ungezielt genommen. Was man aber festhalten kann: Etwas ist anders im China Xi Jinpings, und das ist beunruhigend und bisweilen zutiefst verstörend. Aber ist es wirklich neu? Oder ist es eine Rückkehr zum Naturzustand autoritärer Führung im China der Kommunistischen Partei?
Janka Oertel, ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Sinologin und seit vielen Jahren bei verschiedenen Forsschungsinstituten tätig. Derzeit leitet sie das Asienprogramm des European Council on Foreign Relations (ECFR). Dies ist eine Vorveröffentlichung aus ihrem neuen Buch “Ende der China-Illusion. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen”. Es erscheint am 24. August im Piper Verlag.