Technologie des 21. Jahrhunderts wird für die Durchsetzung universeller Menschenrechte zunehmend problematisch. Die Überwachung, Kontrolle und Steuerung von Bevölkerungsgruppen in autoritären Staaten wird immer ausgefeilter. Beispiel: Xinjiang. Dort kann kein Mensch mehr unerkannt über die Straße gehen, ohne dass der Staat in Echtzeit seine Identität erfasst.
In liberalen Demokratien stoßen solche Entwicklungen auf politischen und zivilgesellschaftlichen Widerstand. Eingriffe in unsere Freiheiten und Gefahren für unsere individuelle Souveränität dem Staat gegenüber werden scharf kritisiert. Und dennoch tragen ausgerechnet wir Demokraten mit unseren Innovationen dazu bei, dass in Diktaturen die autoritären Zügel immer weiter angezogen werden können.
Denn vergleichsweise sorglos schauen wir dabei zu, wie unsere Technologien in Länder wie die Volksrepublik China abfließen und dort dabei helfen, Überwachung und Kontrolle zu perfektionieren. Wenn uns Xinjiang schon nicht mahnendes Beispiel genug ist, dann sollte uns zumindest Sorgen bereiten, dass der Rückfluss technologischer Neuentwicklungen aus China nach Deutschland den autoritären Geist in sich trägt. Wenn wir nicht sensibler mit unseren Innovationen umgehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der auch hierzulande aus der Flasche kommt.
Frau Tatlow, über 30 Jahre haben wir relativ emotionslos dabei zugeschaut, wie Technologie aus Deutschland nach China abfließt. Weshalb sollte uns das Thema jetzt mehr berühren?
China und die Welt haben sich verändert. Peking tritt heute sehr entschieden auf und hat begonnen, seine autoritären politischen Werte zu exportieren. Gemeinsam mit Russland will China die Weltordnung zu seinen Gunsten verändern. Nicht einmal der Ukraine-Krieg bingt diese Allianz ins Wanken, wie wir jetzt sehen.
Was hat das mit Technologie zu tun?
Der Export der politischen Werte findet vor allem auch über die Wirtschaft und den Cyberspace statt. China verwendet Kommunikations- und Hochtechnologien wie Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie oder Halbleiter in immer neuen Anwendungen und Produkten. In China tragen sie zur Perfektionierung eines totalitären Staates bei, aber diese Produkte fließen auch in unsere Mitte zurück. Wir sollten also sehr genau überlegen, wie sehr wir mit unseren Innovationen diese Entwicklung fördern wollen.
Weshalb sollten wir uns vor diesen Produkten sorgen?
Wir sollten uns im Klaren sein, dass wir Technologie aus China langfristig nicht kontrollieren können. Nehmen Sie das Beispiel Huawei. Wenn das Betriebssystem des Herstellers ein Update benötigt, kommt das aus der Volksrepublik auf das Mobiltelefon. Untersuchungen in Australien haben ergeben, dass diese Updates erhebliche Sicherheitslücken aufweisen.
Die hat Facebook auch.
Chinas Privatwirtschaft muss laut Gesetz eng mit der Partei zusammenarbeiten. Und wir haben, anders als in den USA, von außen keinerlei Chance, diesen Zusammenhängen durch Journalismus, Rechtsstaatlichkeit oder zivilgesellschaftliches Engagement auf die Spur zu kommen. Hinter all diesen chinesischen Produkten steht also ein diktatorisches System, dem wir uns, langsam aber sicher, technologisch auszuliefern drohen.
Welchen Einfluss soll das auf unsere Gesellschaft haben?
Auf vielen Ebenen. Das fängt an bei Anwendungen wie TikTok, die viele junge Menschen in Deutschland nutzen und die von Peking überwacht ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass TikTok Inhalte nach politischen Interessen der chinesischen Regierung zensiert. Auch taugen solche Apps, um subtile und damit hocheffektive Propaganda-Botschaften unter das Volk zu bringen.
Niemand muss sich TikTok herunterladen.
Nein. Aber wenn Smart-City-Konzepte mit chinesischer Technologie in der Welt implementiert werden, dann muss es einen engen Austausch zwischen dem Anbieter und der jeweiligen Verwaltung geben. Die muss dem chinesischen Unternehmen Zugang zu ihren administrativen Prozessen gewähren. Dass wir uns dadurch verwundbar und auf Dauer von chinesischer Software sowie in der Folge auch von chinesischer Hardware abhängig machen, sollte jedem klar sein.
Wo steckt die Gefahr?
Technologie ist nicht wertefrei. Mit der Technologie aus China und unserer wachsenden Abhängigkeit davon sollen sich auch unsere Werte verändern und damit unser Verhalten. Unsere Werte haben wir aber jahrzehntelang aufgebaut. Nicht nur ideologisch. Wir haben Abermilliarden in unser Bildungssystem investiert, auch um unsere demokratische Grundordnung zu stützen.
In Ihrem Buch “China’s Quest for Foreign Technology – Beyond Espionage” haben sie 32 Methoden identifiziert, mit denen die Volksrepublik in Deutschland und anderswo Technologie absaugt. Nur zwölf Methoden klassifizieren sie dabei als legal.
Diese legalen Methoden fangen bei Forschungsvereinbarungen an und reichen bis zu Kapitaleinlagen über Investmentfirmen. Das Problem dabei ist, dass wir meistens gar nicht so genau hinschauen, wer dahinter steckt, und wir erkennen deshalb das Muster nicht. Wie kann es sein, dass eine Firma wie Nuctech, die über Verzweigungen der China National Nuclear Corporation gehört, heute einer der größten Ausrüster von Cargo- und Fahrzeug-Scannern an europäischen Häfen, Flughäfen und Nato-Grenzen in 26 EU-Mitgliedsstaaten ist? Diese Firma ist in der Lage, hochsensible persönliche, militärische oder Frachtdaten zu sammeln.
Alles legal. Bleiben 20 illegale oder halb-illegale Methoden.
Das sind Vertragsbrüche, Spionage oder auch Patentverstöße. Oder sie bewegen sich in einer Grauzone. Dazu gehört beispielsweise die Verpflichtung von Chinesen, die aus dem Ausland zurückkehren, ihr Wissen mit dem Staat zu teilen. Auch jene Chinesen, die nicht zurückgehen, werden über zahllose Vereinigungen des Parteisystems, die der Einheitsfront zuarbeiten, an ihre moralischen Verpflichtungen erinnert. Unternehmen oder Forscher dürfen die Interessen des Vaterlandes nicht vergessen.
Manche Firmen loben aber, dass ihre Patente in China inzwischen besser geschützt werden.
Das mag der Fall sein, wenn es um Design geht oder Technologien, die nichts mit den zentralen Wirtschaftssektoren zu tun haben. In anderen Bereichen sieht das anders aus. Erst vor wenigen Tagen hat die EU bei der Welthandelsorganisation Klage eingereicht, weil sie die Schlüsseltechnologien europäischer Unternehmen nicht ausreichend geschützt sieht im Land.
China droht mit hohen Geldstrafen, wenn europäische Firmen bei Verstößen gegen deren Patente in Drittländern ihr Recht suchen.
Auf diese Art und Weise werden Firmen genötigt, sich mit Lizenzgebühren abspeisen zu lassen, während sich chinesische Mitbewerber ihre Technologie zu nutzen machen. Japan wird deshalb ab 2023 die übliche Patentveröffentlichung nach 18 Monaten in bestimmten Sektoren verbieten und Ausfallzahlungen an die betroffenen japanischen Unternehmen leisten.
Chinesische Investitionen in Deutschland haben in den vergangenen Jahren nachgelassen. Das sieht nicht nach großem Appetit auf deutsche Technologie aus?
Nach dem Kuka-Verkauf 2016 ist die deutsche Politik sensibler geworden und hat die Barrieren höher gezogen. Auch die wachsende Skepsis in Deutschland mahnt China zur Zurückhaltung. Aber Investitionen sind ja auch nur ein kleiner Teil des Technologie-Abflusses. Längst streckt China verstärkt seine Hände nach unseren Talenten aus. Das sind Leute mit bester Expertise, denen viel Geld gezahlt und fast alles an Forschung ermöglicht wird, was sie sich wünschen.
Wo sollten wir die Grenze ziehen bei Investitionen und Kooperationen aus und mit China?
Eine Leitlinie bieten uns die Fünfjahrespläne der chinesischen Regierung. Alles, was dort als Schlüsseltechnologien für bestimmte Sektoren aufgelistet ist, interessiert China in Deutschland besonders. Hier gilt es, allerhöchste Vorsicht walten zu lassen.
Eine größere Abschirmung würde nicht überall in Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Manche Forscher und Unternehmen könnten das als Angriff auf ihre eigenen Interessen verstehen.
Das liegt auch daran, dass die existierende Gefahr einfach noch nicht klar genug kommuniziert wird. Unser Verhältnis zu China war in den vergangenen 20 Jahren davon geprägt, besonders nett zu sein und auch mal wegzuschauen. Aber wenn wir so handeln, werden wir hochgradig manipulierbar. Da stellt sich auch die Frage, ob dieses Wegschauen eigentlich respektvoll ist. Denn es bedeutet ja auch, dass wir China immer noch nicht ernst genug nehmen. Das sollten wir aber, denn das dortige System ist eine gewaltige Herausforderung für unsere offenen Gesellschaften.
Die China-Strategie der neuen Ampel-Regierung scheint Form anzunehmen. Erste Details sickern bereits durch und sorgen für Debatten in deutschen China-Kreisen ebenso wie in China selbst. So berichtete das Handelsblatt am Mittwoch über einen geheimen Drahtbericht der Deutschen Botschaft in Peking. Dieser fordere die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) auf, ihre Projekte in China zu überdenken. Die staatliche GIZ setzt vor allem im Auftrag des Entwicklungsministeriums (BMZ) Kooperationen etwa im Klimaschutz, im Rechtssystem oder Industrie 4.0 um.
Auf den Prüfstand sollten vor allem Projekte “für die Bereiche, in denen Deutschland und China in strategischer Konkurrenz zueinanderstehen”, zitiert die Zeitung aus dem Bericht. Nicht immer sei ein zielführender Dialog möglich. Es mag nur ein einzelner Bericht sein, um den es hier geht. Doch er ist wieder ein Signal, dass die China-Politik in Deutschland vor einem Paradigmenwechsel stehen könnte.
Das registriert man auch in China. Offenbar gibt es in Peking Unruhe über die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte “Zeitenwende” in der deutschen Außenpolitik. In EU-Kreisen in Peking heißt es, die schnelle Änderung in der deutschen Verteidigungspolitik sei ein “Schock” gewesen. Der Schwenk Berlins werde in China als “Game Changer” wahrgenommen, den niemand in Peking davor erwartet hatte. Nach einem Bericht der South China Morning Post erkundigen sich aufgeregte Politikwissenschaftler aus Peking bei deutschen Denkfabriken, was es mit der Zeitenwende auf sich habe.
Scholz kündigte in der Ukraine-Sitzung des Bundestages kürzlich einen 100-Milliarden-Euro-Sonderhaushalt für die Bundeswehr an und gelobte, ab sofort die der Nato schon lange zugesagten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben. Am selben Tag erlaubte Deutschland Waffenlieferungen an die Ukraine und unterstützte den Ausschluss russischer Banken vom Swift-System sowie das Einfrieren der Vermögenswerte der russischen Zentralbank in Europa. Nichts davon war nur wenige Tage vorher denkbar gewesen.
Die Zeitenwende sei in China sicherlich registriert worden, sagt Pascal Abb, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt. Diesen Eindruck habe er unter anderem aus Gesprächen mit chinesischen Thinktank-Kollegen.
Deutschland habe mit dem Finanzschub für die Bundeswehr und Waffenlieferungen in die Konfliktregion Ukraine einen jahrzehntelang unveränderten Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik über den Haufen geworfen, so Abb. Dass dies in solch kurzer Zeit geschah, sorge nun in Peking für Sorge, dass auch in anderen Feldern eine Kehrtwende anstehe, schätzt Abb, der sich am HSFK mit Chinas Außenpolitik und chinesischen Weltordnungskonzepten befasst.
Bislang galt Deutschland als Staat, der sich mehr um den Marktzugang seiner Autobauer kümmerte als um Geopolitik oder Menschenrechtsfragen. China gefiel, was es als deutschen Pragmatismus ansah: Wirtschaft und Politik trennen. Deutschland sei bisher eher als wirtschaftspolitischer Akteur gesehen worden, sagt Abb. Treffen der beiden Seiten seien eher “komplementär als konträr” gewesen. Mit einem Ausbau der Verteidigungspolitik aber könnte sich das ändern.
Einiges von dem, was China erwarten könnte, deutete sich bereits im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag an. Außenministerin Annalena Baerbock forderte schon im Wahlkampf eine werteorientierte Außenpolitik, und warb im Umgang mit China für einen Mix aus “Dialog und Härte”. Auch setzt sie stärker als die Vorgängerregierung auf eine gemeinsame Linie der EU gegenüber China. Doch in früheren Jahren lag die Hoheit über die China-Politik in Deutschland meist im Kanzleramt Angela Merkels. Olaf Scholz galt bislang eher als Befürworter ihres Kurses wirtschaftlicher Kooperation. Doch alles, was bisher war, könne nun zur Disposition stehen.
Als Erstes dürfte sich das im Außenministerium zeigen. Es ist dabei, im Auftrag Baerbocks seine neue China-Strategie zu entwerfen – und wird dabei sicher versuchen, sich gegenüber dem Kanzleramt zu behaupten. “Wir haben gesehen, dass Annalena Baerbock eine selbstbewusste Außenministerin ist, und das Auswärtige Amt hat typischerweise schon ein gutes Gespür dafür, dass Wirtschaft und Geopolitik immer mehr ineinandergreifen“, sagt Jonathan Hackenbroich, Experte für Außenwirtschaftspolitik an der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR).
“Das Kanzleramt wird gegenüber China sicher etwas moderierender auftreten”, so Hackenbroich zu China.Table. “Aber die entscheidende Frage ist, ob Scholz die Zeitenwende auf Europa und die Verteidigungspolitik bezieht, oder auf die gesamte Weltordnung und damit auch auf die Wirtschaftsbeziehungen. Der Hebel Chinas gegenüber Deutschland wäre dann natürlich ein wichtiges Thema.” Der Hebel, das sind die engen wirtschaftlichen Verflechtungen, und die immer größer werdende Abhängigkeit vieler deutscher Großunternehmen von Chinas Markt.
Es werde dauern, bis der künftige außenpolitische Kurs feststehe, glauben Abb und Hackenbroich. Aktuell sei man in Berlin natürlich vor allem mit der akuten Krisenantwort beschäftigt, sagt Hackenbroich. “Es gibt aber offenbar ein Bewusstsein für die Schwere der Veränderungen.”
Pascal Abb sagt mit Blick auf die Bundeswehr: “Die entscheidende Frage ist, in welchen größeren außenpolitischen Kontext diese neuen Kapazitäten eingebettet werden.” China habe in dieser Hinsicht eine engere EU-Zusammenarbeit hin zu einer strategischen Autonomie immer befürwortet. Anders sehe es bei einer transatlantischen Kooperation unter US-Führung aus, glaubt Abb. Sollte Deutschland etwa neue Kapazitäten dafür nutzen, um sich stärker in der Indo-Pazifik-Region zu engagieren, würde das in Peking sicherlich negativ gesehen, ist sich der Experte sicher. Hackenbroich sieht das ähnlich: “Es wird ja ab und zu der Vergleich zwischen der Ukraine und Taiwan bemüht. Das ist zwar eine andere Situation, aber es gibt durchaus ein paar Parallelen.”
Der ECFR-Experte ist sich aber in einem sicher: “Die große Frage aber ist, ob die militärische Zeitenwende auch zu einer geoökonomischen Zeitenwende wird. Das ist die Hauptfrage für die deutschen Beziehungen mit China, die ja hauptsächlich ökonomischer Natur sind.” Es könne schon sein, dass die Erfahrung mit der Abhängigkeit des deutschen Energiesektors von Russland dazu führe, dass Berlin einen neuen Blick etwa auf die mögliche Abhängigkeit vom chinesischen Markt werfe, sagt Hackenbroich. “Darauf wird man in Peking genau achten.” Amelie Richter/Christiane Kühl
Wegen angeblicher Verwicklungen von Huawei im Ukraine-Krieg hat Fußballstar Robert Lewandowski seinen hoch dotierten Werbevertrag mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster aufgekündigt. “Wir haben heute die Entscheidung getroffen, die Marketingkooperation zwischen Robert Lewandowski und der Marke Huawei zu beenden”, teilte am Montag ein Berater des FC-Bayern-Stürmers der Nachrichtenagentur AFP mit.
Laut Berichten der britischen Presse soll Huawei der russischen Armee dabei geholfen haben, sich vor Cyberattacken pro-ukrainischer Aktivisten zu schützen. Huawei erklärte, die Berichte, die auf die Hackergruppe Anonymous zurückgehen, seien “Fake News”. “Die Geschichte basiert auf ungenauen und falschen Informationen aus einem Artikel, der inzwischen korrigiert wurde”, so ein Sprecher des chinesischen Unternehmens.
Erst im Januar hatte Lewandowski seinen Vertrag als Huawei-Markenbotschafter in Osteuropa und den baltischen und skandinavischen Staaten verlängert. Durch die Kündigung verzichtet er nun auf Einnahmen von jährlich rund fünf Millionen Euro.
Der in Warschau geborene Sportler war bereits kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit einer Kapitänsbinde in den ukrainischen Nationalfarben aufgelaufen. Außerdem hatte er angekündigt, für das WM-Playoff-Spiel gegen Russland am 24. März in Moskau nicht zur Verfügung zu stehen. Lewandowski wurde 2020 und 2021 als FIFA-Weltfußballer des Jahres ausgezeichnet. fpe
Das chinesische Staatsfernsehen bleibt dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) weiterhin eine Erklärung für seine Zensur schuldig. Während der Liveübertragung der Eröffnungsfeier der Paralympics am vergangenen Freitag in Peking hatte CCTV auf die sonst übliche Simultanübersetzung der Eröffnungsrede des IPC-Präsidenten Andrew Parsons weitgehend verzichtet. Parsons hatte darin unter anderem die Invasion der Ukraine durch Russland scharf verurteilt.
Die allermeisten Fernsehzuschauer in der Volksrepublik dürften den Inhalt der Rede nicht verstanden haben. Nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung spricht ausreichend gut Englisch. Zudem wurde Parsons Stimme von CCTV leiser geschaltet, als der darauf hinwies, dass der Olympische Friede während der Olympischen und Paralympischen Spiele einst durch eine UN-Resolution beschlossen worden ist. Die Simultanübersetzung begrenzte sich derweil auf die lobenden Worte Parsons über die Gastgeber.
Das IPC hat übers Wochenende eine Anfrage an CCTV gestellt und um Aufklärung gebeten. Bislang hat sich das staatliche TV-Netzwerk noch nicht geäußert. Die Regierung in Peking verzichtet auf eine klare Positionierung in dem Konflikt, sondern verwendet wachsweiche Floskeln, die Raum zur Interpretation lassen. grz
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, will im Mai nach China reisen. Dort wird sie auch die Region Xinjiang besuchen, wie Bachelet am Dienstag im UN-Menschenrechtsrat bekannt gab. Über die Modalitäten der Reise wurde jahrelang verhandelt.
China hält in Xinjiang Uiguren in Internierungslagern gegen deren Willen fest. Die Zahlen der festgehaltenen Menschen reichen dabei von Hunderttausenden bis mehr als eine Million. Es gibt Beweise für Zwangsarbeit, Folter, Indoktrinierung und Misshandlungen, auf die sich unter anderem auch die UN-Menschenrechtskommission und die UN-Arbeitsorganisation (ILO) in ihren Bewertungen beziehen. Die chinesische Seite spricht hingegen von “Ausbildungsstätten”.
Die Volksrepublik hat den Zugang in die Region seit Jahren drastisch einschränkt. Unabhängige Fortbewegung in Xinjiang und journalistische Recherchen sind nur geheim und unter großen Risiken einer Festnahme möglich. Bachelet soll hingegen einen freien Zugang in die Region erhalten und mit den gewünschten Gesprächspartnern aus der Zivilgesellschaft ungehindert sprechen können. Das habe China versichert, so eine Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.
Bachelet hat einen Bericht über die Menschenrechtslage in Xinjiang erarbeiten lassen. Die Veröffentlichung steht noch aus. In einem offenen Brief fordert Human Rights Watch gemeinsam mit 195 Menschenrechtsorganisationen die Veröffentlichung des Berichts.
Chinas Botschafter bei der UN, Zhang Jun, sagte: “Wir begrüßen den Besuch der UN-Hochkommissarin in Xinjiang im Mai dieses Jahres. China wird mit dem Hochkommissariat zusammenarbeiten, um diesen Besuch gut vorzubereiten.” Derzeit ist noch unklar, wie sehr die Position Chinas nur diplomatisches Geplänkel ist. Ein komplett freier Besuch Bachelets wäre eine Zeitenwende in der Causa Xinjiang, wird aber von Experten als höchst unwahrscheinlich eingestuft. nib
Die Songs von Tsewang Norbu sind nicht nur in der tibetischen Gemeinde beliebt. Seine Musik verbindet chinesische und westliche Einflüsse, der 25-Jährige hat auch Fans in anderen Teilen der Volksrepublik China. Sein ethnischer Pop schien eine versöhnliche Brücke zwischen der tibetischen Minderheit und den Han-Chinesen zu schlagen.
Am 22. Februar veröffentlichte Tsewang Norbu einen Song, dessen Name ins Deutsche übersetzt lautet: “Wenn du etwas bereust, behalte es nicht für dich selbst”. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ist das Lied seine letzte künstlerische Hinterlassenschaft. Norbu soll nach Informationen von tibetischen Menschenrechtsorganisationen verstorben sein.
Die International Campaign for Tibet (ICT) berichtet, dass sich am 25. Februar ein junger Mann vor dem Potala-Palast in der Hauptstadt Lhasa selbst in Brand gesteckt habe. Dabei scheint es sich um Tsewang Norbu zu handeln. Ob der Schwerverletzte verstorben ist oder überlebt hat, ist nicht bekannt. Binnen kürzester Zeit löschten chinesische Sicherheitskräfte den brennenden Körper und brachten ihn weg. Wohin, ist nicht bekannt.
“Seit 2009 haben sich bereits 157 Tibeter selbst angezündet, weil sie keinen anderen Ausweg sahen, um gegen die Menschenrechtsverletzungen im vom chinesischen Regime besetzten Tibet zu protestieren”, sagt Geschäftsführer Kai Müller von der ICT Deutschland. Norbus jüngster Versuch sei offenbar eine weitere verzweifelte Reaktion auf die erdrückende Repressionspolitik der Kommunistischen Partei Chinas.
Nach Informationen von tibetischen Exilgruppen erfolgten Repressionen gegen Tibeter zuletzt verstärkt in den Landkreisen Sog, Driru und Dranggo in Osttibet. Dort liegt auch Norbus Heimatstadt Nyagchu, die zur Provinz Sichuan gehört. Nicht nur buddhistische Mönche und Nonnen, auch einfache, religiöse Bürger:innen werden nach Berichten der tibetischen Exilregierung zu Tausenden in Umerziehungslager gesteckt. Menschenrechtsorganisationen berichten von Folter und Ermordungen.
Eine Welle der Selbstverbrennungen unter Tibetern begann im Jahr 2009 rund um den 50. Jahrestag des Tibetaufstandes am 10. März 1959. Seitdem gelangen Informationen nur noch spärlich an die Außenwelt. In Selbstverbrennungen sahen viele Tibeter offenbar die letzte verbliebene Chance, um ein Zeichen gegen die chinesische Besatzung zu setzen. Nach 2015 ebbte die Zahl der Selbstverbrennungen aber deutlich ab.
Laut Radio Free Asia ist Norbus Mutter, Sonam Wangmo, ebenfalls eine landesweit bekannte Sängerin. Sein Onkel dagegen sitzt im Gefängnis und gilt als einer der bekanntesten politischen Häftlinge Tibets: Sogkhar Lodoe Gyatso wurde 2018 zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er vor dem Potala-Palast im Alleingang gegen die chinesische Besatzung protestiert hatte.
Der Onkel, Lodoe Gyatso, war bereits zuvor für 23 Jahre inhaftiert gewesen, nachdem er in den 1990er-Jahren wegen Totschlags verurteilt worden war. Seine Frau Gakyi erhielt eine zweijährige Haftstrafe, weil sie ein Video von ihrem Mann aufgenommen hatte, das sie über die Landesgrenzen nach Indien schmuggelte. Darin kündigte Lodoe Gyatso seinen Protest und die Beweggründe dafür an.
Der Fall Norbu rückt die Situation der Tibeter wieder etwas in den Fokus. ICT berichtet, dass sein Weibo-Konto nach der Nachricht seines angeblichen Todes von Beileidsbekundungen geflutet worden sei und daraufhin vorübergehend geschlossen wurde. Vor wenigen Tagen versammelten sich rund 200 Exil-Tibeter im indischen Dharamsala in Gedenken an den Künstler zu einer Mahnwache. Marcel Grzanna
Technologie des 21. Jahrhunderts wird für die Durchsetzung universeller Menschenrechte zunehmend problematisch. Die Überwachung, Kontrolle und Steuerung von Bevölkerungsgruppen in autoritären Staaten wird immer ausgefeilter. Beispiel: Xinjiang. Dort kann kein Mensch mehr unerkannt über die Straße gehen, ohne dass der Staat in Echtzeit seine Identität erfasst.
In liberalen Demokratien stoßen solche Entwicklungen auf politischen und zivilgesellschaftlichen Widerstand. Eingriffe in unsere Freiheiten und Gefahren für unsere individuelle Souveränität dem Staat gegenüber werden scharf kritisiert. Und dennoch tragen ausgerechnet wir Demokraten mit unseren Innovationen dazu bei, dass in Diktaturen die autoritären Zügel immer weiter angezogen werden können.
Denn vergleichsweise sorglos schauen wir dabei zu, wie unsere Technologien in Länder wie die Volksrepublik China abfließen und dort dabei helfen, Überwachung und Kontrolle zu perfektionieren. Wenn uns Xinjiang schon nicht mahnendes Beispiel genug ist, dann sollte uns zumindest Sorgen bereiten, dass der Rückfluss technologischer Neuentwicklungen aus China nach Deutschland den autoritären Geist in sich trägt. Wenn wir nicht sensibler mit unseren Innovationen umgehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der auch hierzulande aus der Flasche kommt.
Frau Tatlow, über 30 Jahre haben wir relativ emotionslos dabei zugeschaut, wie Technologie aus Deutschland nach China abfließt. Weshalb sollte uns das Thema jetzt mehr berühren?
China und die Welt haben sich verändert. Peking tritt heute sehr entschieden auf und hat begonnen, seine autoritären politischen Werte zu exportieren. Gemeinsam mit Russland will China die Weltordnung zu seinen Gunsten verändern. Nicht einmal der Ukraine-Krieg bingt diese Allianz ins Wanken, wie wir jetzt sehen.
Was hat das mit Technologie zu tun?
Der Export der politischen Werte findet vor allem auch über die Wirtschaft und den Cyberspace statt. China verwendet Kommunikations- und Hochtechnologien wie Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie oder Halbleiter in immer neuen Anwendungen und Produkten. In China tragen sie zur Perfektionierung eines totalitären Staates bei, aber diese Produkte fließen auch in unsere Mitte zurück. Wir sollten also sehr genau überlegen, wie sehr wir mit unseren Innovationen diese Entwicklung fördern wollen.
Weshalb sollten wir uns vor diesen Produkten sorgen?
Wir sollten uns im Klaren sein, dass wir Technologie aus China langfristig nicht kontrollieren können. Nehmen Sie das Beispiel Huawei. Wenn das Betriebssystem des Herstellers ein Update benötigt, kommt das aus der Volksrepublik auf das Mobiltelefon. Untersuchungen in Australien haben ergeben, dass diese Updates erhebliche Sicherheitslücken aufweisen.
Die hat Facebook auch.
Chinas Privatwirtschaft muss laut Gesetz eng mit der Partei zusammenarbeiten. Und wir haben, anders als in den USA, von außen keinerlei Chance, diesen Zusammenhängen durch Journalismus, Rechtsstaatlichkeit oder zivilgesellschaftliches Engagement auf die Spur zu kommen. Hinter all diesen chinesischen Produkten steht also ein diktatorisches System, dem wir uns, langsam aber sicher, technologisch auszuliefern drohen.
Welchen Einfluss soll das auf unsere Gesellschaft haben?
Auf vielen Ebenen. Das fängt an bei Anwendungen wie TikTok, die viele junge Menschen in Deutschland nutzen und die von Peking überwacht ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass TikTok Inhalte nach politischen Interessen der chinesischen Regierung zensiert. Auch taugen solche Apps, um subtile und damit hocheffektive Propaganda-Botschaften unter das Volk zu bringen.
Niemand muss sich TikTok herunterladen.
Nein. Aber wenn Smart-City-Konzepte mit chinesischer Technologie in der Welt implementiert werden, dann muss es einen engen Austausch zwischen dem Anbieter und der jeweiligen Verwaltung geben. Die muss dem chinesischen Unternehmen Zugang zu ihren administrativen Prozessen gewähren. Dass wir uns dadurch verwundbar und auf Dauer von chinesischer Software sowie in der Folge auch von chinesischer Hardware abhängig machen, sollte jedem klar sein.
Wo steckt die Gefahr?
Technologie ist nicht wertefrei. Mit der Technologie aus China und unserer wachsenden Abhängigkeit davon sollen sich auch unsere Werte verändern und damit unser Verhalten. Unsere Werte haben wir aber jahrzehntelang aufgebaut. Nicht nur ideologisch. Wir haben Abermilliarden in unser Bildungssystem investiert, auch um unsere demokratische Grundordnung zu stützen.
In Ihrem Buch “China’s Quest for Foreign Technology – Beyond Espionage” haben sie 32 Methoden identifiziert, mit denen die Volksrepublik in Deutschland und anderswo Technologie absaugt. Nur zwölf Methoden klassifizieren sie dabei als legal.
Diese legalen Methoden fangen bei Forschungsvereinbarungen an und reichen bis zu Kapitaleinlagen über Investmentfirmen. Das Problem dabei ist, dass wir meistens gar nicht so genau hinschauen, wer dahinter steckt, und wir erkennen deshalb das Muster nicht. Wie kann es sein, dass eine Firma wie Nuctech, die über Verzweigungen der China National Nuclear Corporation gehört, heute einer der größten Ausrüster von Cargo- und Fahrzeug-Scannern an europäischen Häfen, Flughäfen und Nato-Grenzen in 26 EU-Mitgliedsstaaten ist? Diese Firma ist in der Lage, hochsensible persönliche, militärische oder Frachtdaten zu sammeln.
Alles legal. Bleiben 20 illegale oder halb-illegale Methoden.
Das sind Vertragsbrüche, Spionage oder auch Patentverstöße. Oder sie bewegen sich in einer Grauzone. Dazu gehört beispielsweise die Verpflichtung von Chinesen, die aus dem Ausland zurückkehren, ihr Wissen mit dem Staat zu teilen. Auch jene Chinesen, die nicht zurückgehen, werden über zahllose Vereinigungen des Parteisystems, die der Einheitsfront zuarbeiten, an ihre moralischen Verpflichtungen erinnert. Unternehmen oder Forscher dürfen die Interessen des Vaterlandes nicht vergessen.
Manche Firmen loben aber, dass ihre Patente in China inzwischen besser geschützt werden.
Das mag der Fall sein, wenn es um Design geht oder Technologien, die nichts mit den zentralen Wirtschaftssektoren zu tun haben. In anderen Bereichen sieht das anders aus. Erst vor wenigen Tagen hat die EU bei der Welthandelsorganisation Klage eingereicht, weil sie die Schlüsseltechnologien europäischer Unternehmen nicht ausreichend geschützt sieht im Land.
China droht mit hohen Geldstrafen, wenn europäische Firmen bei Verstößen gegen deren Patente in Drittländern ihr Recht suchen.
Auf diese Art und Weise werden Firmen genötigt, sich mit Lizenzgebühren abspeisen zu lassen, während sich chinesische Mitbewerber ihre Technologie zu nutzen machen. Japan wird deshalb ab 2023 die übliche Patentveröffentlichung nach 18 Monaten in bestimmten Sektoren verbieten und Ausfallzahlungen an die betroffenen japanischen Unternehmen leisten.
Chinesische Investitionen in Deutschland haben in den vergangenen Jahren nachgelassen. Das sieht nicht nach großem Appetit auf deutsche Technologie aus?
Nach dem Kuka-Verkauf 2016 ist die deutsche Politik sensibler geworden und hat die Barrieren höher gezogen. Auch die wachsende Skepsis in Deutschland mahnt China zur Zurückhaltung. Aber Investitionen sind ja auch nur ein kleiner Teil des Technologie-Abflusses. Längst streckt China verstärkt seine Hände nach unseren Talenten aus. Das sind Leute mit bester Expertise, denen viel Geld gezahlt und fast alles an Forschung ermöglicht wird, was sie sich wünschen.
Wo sollten wir die Grenze ziehen bei Investitionen und Kooperationen aus und mit China?
Eine Leitlinie bieten uns die Fünfjahrespläne der chinesischen Regierung. Alles, was dort als Schlüsseltechnologien für bestimmte Sektoren aufgelistet ist, interessiert China in Deutschland besonders. Hier gilt es, allerhöchste Vorsicht walten zu lassen.
Eine größere Abschirmung würde nicht überall in Deutschland auf Gegenliebe stoßen. Manche Forscher und Unternehmen könnten das als Angriff auf ihre eigenen Interessen verstehen.
Das liegt auch daran, dass die existierende Gefahr einfach noch nicht klar genug kommuniziert wird. Unser Verhältnis zu China war in den vergangenen 20 Jahren davon geprägt, besonders nett zu sein und auch mal wegzuschauen. Aber wenn wir so handeln, werden wir hochgradig manipulierbar. Da stellt sich auch die Frage, ob dieses Wegschauen eigentlich respektvoll ist. Denn es bedeutet ja auch, dass wir China immer noch nicht ernst genug nehmen. Das sollten wir aber, denn das dortige System ist eine gewaltige Herausforderung für unsere offenen Gesellschaften.
Die China-Strategie der neuen Ampel-Regierung scheint Form anzunehmen. Erste Details sickern bereits durch und sorgen für Debatten in deutschen China-Kreisen ebenso wie in China selbst. So berichtete das Handelsblatt am Mittwoch über einen geheimen Drahtbericht der Deutschen Botschaft in Peking. Dieser fordere die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) auf, ihre Projekte in China zu überdenken. Die staatliche GIZ setzt vor allem im Auftrag des Entwicklungsministeriums (BMZ) Kooperationen etwa im Klimaschutz, im Rechtssystem oder Industrie 4.0 um.
Auf den Prüfstand sollten vor allem Projekte “für die Bereiche, in denen Deutschland und China in strategischer Konkurrenz zueinanderstehen”, zitiert die Zeitung aus dem Bericht. Nicht immer sei ein zielführender Dialog möglich. Es mag nur ein einzelner Bericht sein, um den es hier geht. Doch er ist wieder ein Signal, dass die China-Politik in Deutschland vor einem Paradigmenwechsel stehen könnte.
Das registriert man auch in China. Offenbar gibt es in Peking Unruhe über die von Bundeskanzler Olaf Scholz proklamierte “Zeitenwende” in der deutschen Außenpolitik. In EU-Kreisen in Peking heißt es, die schnelle Änderung in der deutschen Verteidigungspolitik sei ein “Schock” gewesen. Der Schwenk Berlins werde in China als “Game Changer” wahrgenommen, den niemand in Peking davor erwartet hatte. Nach einem Bericht der South China Morning Post erkundigen sich aufgeregte Politikwissenschaftler aus Peking bei deutschen Denkfabriken, was es mit der Zeitenwende auf sich habe.
Scholz kündigte in der Ukraine-Sitzung des Bundestages kürzlich einen 100-Milliarden-Euro-Sonderhaushalt für die Bundeswehr an und gelobte, ab sofort die der Nato schon lange zugesagten zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung auszugeben. Am selben Tag erlaubte Deutschland Waffenlieferungen an die Ukraine und unterstützte den Ausschluss russischer Banken vom Swift-System sowie das Einfrieren der Vermögenswerte der russischen Zentralbank in Europa. Nichts davon war nur wenige Tage vorher denkbar gewesen.
Die Zeitenwende sei in China sicherlich registriert worden, sagt Pascal Abb, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt. Diesen Eindruck habe er unter anderem aus Gesprächen mit chinesischen Thinktank-Kollegen.
Deutschland habe mit dem Finanzschub für die Bundeswehr und Waffenlieferungen in die Konfliktregion Ukraine einen jahrzehntelang unveränderten Pfeiler der Außen- und Sicherheitspolitik über den Haufen geworfen, so Abb. Dass dies in solch kurzer Zeit geschah, sorge nun in Peking für Sorge, dass auch in anderen Feldern eine Kehrtwende anstehe, schätzt Abb, der sich am HSFK mit Chinas Außenpolitik und chinesischen Weltordnungskonzepten befasst.
Bislang galt Deutschland als Staat, der sich mehr um den Marktzugang seiner Autobauer kümmerte als um Geopolitik oder Menschenrechtsfragen. China gefiel, was es als deutschen Pragmatismus ansah: Wirtschaft und Politik trennen. Deutschland sei bisher eher als wirtschaftspolitischer Akteur gesehen worden, sagt Abb. Treffen der beiden Seiten seien eher “komplementär als konträr” gewesen. Mit einem Ausbau der Verteidigungspolitik aber könnte sich das ändern.
Einiges von dem, was China erwarten könnte, deutete sich bereits im Wahlkampf und im Koalitionsvertrag an. Außenministerin Annalena Baerbock forderte schon im Wahlkampf eine werteorientierte Außenpolitik, und warb im Umgang mit China für einen Mix aus “Dialog und Härte”. Auch setzt sie stärker als die Vorgängerregierung auf eine gemeinsame Linie der EU gegenüber China. Doch in früheren Jahren lag die Hoheit über die China-Politik in Deutschland meist im Kanzleramt Angela Merkels. Olaf Scholz galt bislang eher als Befürworter ihres Kurses wirtschaftlicher Kooperation. Doch alles, was bisher war, könne nun zur Disposition stehen.
Als Erstes dürfte sich das im Außenministerium zeigen. Es ist dabei, im Auftrag Baerbocks seine neue China-Strategie zu entwerfen – und wird dabei sicher versuchen, sich gegenüber dem Kanzleramt zu behaupten. “Wir haben gesehen, dass Annalena Baerbock eine selbstbewusste Außenministerin ist, und das Auswärtige Amt hat typischerweise schon ein gutes Gespür dafür, dass Wirtschaft und Geopolitik immer mehr ineinandergreifen“, sagt Jonathan Hackenbroich, Experte für Außenwirtschaftspolitik an der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR).
“Das Kanzleramt wird gegenüber China sicher etwas moderierender auftreten”, so Hackenbroich zu China.Table. “Aber die entscheidende Frage ist, ob Scholz die Zeitenwende auf Europa und die Verteidigungspolitik bezieht, oder auf die gesamte Weltordnung und damit auch auf die Wirtschaftsbeziehungen. Der Hebel Chinas gegenüber Deutschland wäre dann natürlich ein wichtiges Thema.” Der Hebel, das sind die engen wirtschaftlichen Verflechtungen, und die immer größer werdende Abhängigkeit vieler deutscher Großunternehmen von Chinas Markt.
Es werde dauern, bis der künftige außenpolitische Kurs feststehe, glauben Abb und Hackenbroich. Aktuell sei man in Berlin natürlich vor allem mit der akuten Krisenantwort beschäftigt, sagt Hackenbroich. “Es gibt aber offenbar ein Bewusstsein für die Schwere der Veränderungen.”
Pascal Abb sagt mit Blick auf die Bundeswehr: “Die entscheidende Frage ist, in welchen größeren außenpolitischen Kontext diese neuen Kapazitäten eingebettet werden.” China habe in dieser Hinsicht eine engere EU-Zusammenarbeit hin zu einer strategischen Autonomie immer befürwortet. Anders sehe es bei einer transatlantischen Kooperation unter US-Führung aus, glaubt Abb. Sollte Deutschland etwa neue Kapazitäten dafür nutzen, um sich stärker in der Indo-Pazifik-Region zu engagieren, würde das in Peking sicherlich negativ gesehen, ist sich der Experte sicher. Hackenbroich sieht das ähnlich: “Es wird ja ab und zu der Vergleich zwischen der Ukraine und Taiwan bemüht. Das ist zwar eine andere Situation, aber es gibt durchaus ein paar Parallelen.”
Der ECFR-Experte ist sich aber in einem sicher: “Die große Frage aber ist, ob die militärische Zeitenwende auch zu einer geoökonomischen Zeitenwende wird. Das ist die Hauptfrage für die deutschen Beziehungen mit China, die ja hauptsächlich ökonomischer Natur sind.” Es könne schon sein, dass die Erfahrung mit der Abhängigkeit des deutschen Energiesektors von Russland dazu führe, dass Berlin einen neuen Blick etwa auf die mögliche Abhängigkeit vom chinesischen Markt werfe, sagt Hackenbroich. “Darauf wird man in Peking genau achten.” Amelie Richter/Christiane Kühl
Wegen angeblicher Verwicklungen von Huawei im Ukraine-Krieg hat Fußballstar Robert Lewandowski seinen hoch dotierten Werbevertrag mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster aufgekündigt. “Wir haben heute die Entscheidung getroffen, die Marketingkooperation zwischen Robert Lewandowski und der Marke Huawei zu beenden”, teilte am Montag ein Berater des FC-Bayern-Stürmers der Nachrichtenagentur AFP mit.
Laut Berichten der britischen Presse soll Huawei der russischen Armee dabei geholfen haben, sich vor Cyberattacken pro-ukrainischer Aktivisten zu schützen. Huawei erklärte, die Berichte, die auf die Hackergruppe Anonymous zurückgehen, seien “Fake News”. “Die Geschichte basiert auf ungenauen und falschen Informationen aus einem Artikel, der inzwischen korrigiert wurde”, so ein Sprecher des chinesischen Unternehmens.
Erst im Januar hatte Lewandowski seinen Vertrag als Huawei-Markenbotschafter in Osteuropa und den baltischen und skandinavischen Staaten verlängert. Durch die Kündigung verzichtet er nun auf Einnahmen von jährlich rund fünf Millionen Euro.
Der in Warschau geborene Sportler war bereits kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mit einer Kapitänsbinde in den ukrainischen Nationalfarben aufgelaufen. Außerdem hatte er angekündigt, für das WM-Playoff-Spiel gegen Russland am 24. März in Moskau nicht zur Verfügung zu stehen. Lewandowski wurde 2020 und 2021 als FIFA-Weltfußballer des Jahres ausgezeichnet. fpe
Das chinesische Staatsfernsehen bleibt dem Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) weiterhin eine Erklärung für seine Zensur schuldig. Während der Liveübertragung der Eröffnungsfeier der Paralympics am vergangenen Freitag in Peking hatte CCTV auf die sonst übliche Simultanübersetzung der Eröffnungsrede des IPC-Präsidenten Andrew Parsons weitgehend verzichtet. Parsons hatte darin unter anderem die Invasion der Ukraine durch Russland scharf verurteilt.
Die allermeisten Fernsehzuschauer in der Volksrepublik dürften den Inhalt der Rede nicht verstanden haben. Nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung spricht ausreichend gut Englisch. Zudem wurde Parsons Stimme von CCTV leiser geschaltet, als der darauf hinwies, dass der Olympische Friede während der Olympischen und Paralympischen Spiele einst durch eine UN-Resolution beschlossen worden ist. Die Simultanübersetzung begrenzte sich derweil auf die lobenden Worte Parsons über die Gastgeber.
Das IPC hat übers Wochenende eine Anfrage an CCTV gestellt und um Aufklärung gebeten. Bislang hat sich das staatliche TV-Netzwerk noch nicht geäußert. Die Regierung in Peking verzichtet auf eine klare Positionierung in dem Konflikt, sondern verwendet wachsweiche Floskeln, die Raum zur Interpretation lassen. grz
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, will im Mai nach China reisen. Dort wird sie auch die Region Xinjiang besuchen, wie Bachelet am Dienstag im UN-Menschenrechtsrat bekannt gab. Über die Modalitäten der Reise wurde jahrelang verhandelt.
China hält in Xinjiang Uiguren in Internierungslagern gegen deren Willen fest. Die Zahlen der festgehaltenen Menschen reichen dabei von Hunderttausenden bis mehr als eine Million. Es gibt Beweise für Zwangsarbeit, Folter, Indoktrinierung und Misshandlungen, auf die sich unter anderem auch die UN-Menschenrechtskommission und die UN-Arbeitsorganisation (ILO) in ihren Bewertungen beziehen. Die chinesische Seite spricht hingegen von “Ausbildungsstätten”.
Die Volksrepublik hat den Zugang in die Region seit Jahren drastisch einschränkt. Unabhängige Fortbewegung in Xinjiang und journalistische Recherchen sind nur geheim und unter großen Risiken einer Festnahme möglich. Bachelet soll hingegen einen freien Zugang in die Region erhalten und mit den gewünschten Gesprächspartnern aus der Zivilgesellschaft ungehindert sprechen können. Das habe China versichert, so eine Sprecherin des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte.
Bachelet hat einen Bericht über die Menschenrechtslage in Xinjiang erarbeiten lassen. Die Veröffentlichung steht noch aus. In einem offenen Brief fordert Human Rights Watch gemeinsam mit 195 Menschenrechtsorganisationen die Veröffentlichung des Berichts.
Chinas Botschafter bei der UN, Zhang Jun, sagte: “Wir begrüßen den Besuch der UN-Hochkommissarin in Xinjiang im Mai dieses Jahres. China wird mit dem Hochkommissariat zusammenarbeiten, um diesen Besuch gut vorzubereiten.” Derzeit ist noch unklar, wie sehr die Position Chinas nur diplomatisches Geplänkel ist. Ein komplett freier Besuch Bachelets wäre eine Zeitenwende in der Causa Xinjiang, wird aber von Experten als höchst unwahrscheinlich eingestuft. nib
Die Songs von Tsewang Norbu sind nicht nur in der tibetischen Gemeinde beliebt. Seine Musik verbindet chinesische und westliche Einflüsse, der 25-Jährige hat auch Fans in anderen Teilen der Volksrepublik China. Sein ethnischer Pop schien eine versöhnliche Brücke zwischen der tibetischen Minderheit und den Han-Chinesen zu schlagen.
Am 22. Februar veröffentlichte Tsewang Norbu einen Song, dessen Name ins Deutsche übersetzt lautet: “Wenn du etwas bereust, behalte es nicht für dich selbst”. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit ist das Lied seine letzte künstlerische Hinterlassenschaft. Norbu soll nach Informationen von tibetischen Menschenrechtsorganisationen verstorben sein.
Die International Campaign for Tibet (ICT) berichtet, dass sich am 25. Februar ein junger Mann vor dem Potala-Palast in der Hauptstadt Lhasa selbst in Brand gesteckt habe. Dabei scheint es sich um Tsewang Norbu zu handeln. Ob der Schwerverletzte verstorben ist oder überlebt hat, ist nicht bekannt. Binnen kürzester Zeit löschten chinesische Sicherheitskräfte den brennenden Körper und brachten ihn weg. Wohin, ist nicht bekannt.
“Seit 2009 haben sich bereits 157 Tibeter selbst angezündet, weil sie keinen anderen Ausweg sahen, um gegen die Menschenrechtsverletzungen im vom chinesischen Regime besetzten Tibet zu protestieren”, sagt Geschäftsführer Kai Müller von der ICT Deutschland. Norbus jüngster Versuch sei offenbar eine weitere verzweifelte Reaktion auf die erdrückende Repressionspolitik der Kommunistischen Partei Chinas.
Nach Informationen von tibetischen Exilgruppen erfolgten Repressionen gegen Tibeter zuletzt verstärkt in den Landkreisen Sog, Driru und Dranggo in Osttibet. Dort liegt auch Norbus Heimatstadt Nyagchu, die zur Provinz Sichuan gehört. Nicht nur buddhistische Mönche und Nonnen, auch einfache, religiöse Bürger:innen werden nach Berichten der tibetischen Exilregierung zu Tausenden in Umerziehungslager gesteckt. Menschenrechtsorganisationen berichten von Folter und Ermordungen.
Eine Welle der Selbstverbrennungen unter Tibetern begann im Jahr 2009 rund um den 50. Jahrestag des Tibetaufstandes am 10. März 1959. Seitdem gelangen Informationen nur noch spärlich an die Außenwelt. In Selbstverbrennungen sahen viele Tibeter offenbar die letzte verbliebene Chance, um ein Zeichen gegen die chinesische Besatzung zu setzen. Nach 2015 ebbte die Zahl der Selbstverbrennungen aber deutlich ab.
Laut Radio Free Asia ist Norbus Mutter, Sonam Wangmo, ebenfalls eine landesweit bekannte Sängerin. Sein Onkel dagegen sitzt im Gefängnis und gilt als einer der bekanntesten politischen Häftlinge Tibets: Sogkhar Lodoe Gyatso wurde 2018 zu einer 18-jährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er vor dem Potala-Palast im Alleingang gegen die chinesische Besatzung protestiert hatte.
Der Onkel, Lodoe Gyatso, war bereits zuvor für 23 Jahre inhaftiert gewesen, nachdem er in den 1990er-Jahren wegen Totschlags verurteilt worden war. Seine Frau Gakyi erhielt eine zweijährige Haftstrafe, weil sie ein Video von ihrem Mann aufgenommen hatte, das sie über die Landesgrenzen nach Indien schmuggelte. Darin kündigte Lodoe Gyatso seinen Protest und die Beweggründe dafür an.
Der Fall Norbu rückt die Situation der Tibeter wieder etwas in den Fokus. ICT berichtet, dass sein Weibo-Konto nach der Nachricht seines angeblichen Todes von Beileidsbekundungen geflutet worden sei und daraufhin vorübergehend geschlossen wurde. Vor wenigen Tagen versammelten sich rund 200 Exil-Tibeter im indischen Dharamsala in Gedenken an den Künstler zu einer Mahnwache. Marcel Grzanna