Table.Briefing: China

Gu Xuewu zum Volkskongress + Was wusste Xi? + Paralympics

  • Gu Xuewu: Die Regierung sorgt sich vor allem ums Wachstum
  • Sport-Entrepreneur Mark Dreyer zu den Paralympics
  • Invasion: China war wohl vorgewarnt, aber nicht eingeweiht
  • Termine der kommenden Woche
  • Taiwan rüstet kräftig auf
  • IfW: China profitiert nicht von Sanktionen
  • Boom für Yuan-Bankkonten in Moskau
  • Johnny Erling zum Kathedralenbau von Chongli
Liebe Leserin, lieber Leser,

der diesjährige Nationale Volkskongress beginnt Samstag. Gu Xuewu, Professor für internationale Beziehungen in Bonn, ordnet im Dialog mit Christiane Kühl die Bedeutung des politischen Großereignisses ein. Im Vordergrund steht zunächst einmal die Wirtschaftspolitik: Die Regierung muss die Konjunktur ankurbeln, ohne Blasen und Überkapazitäten zu schaffen. Wachstumspolitik ist weiterhin die wichtigste Innenpolitik.

Doch der Krieg in Ukraine wird den Volkskongress auch dazu zwingen, sich verstärkt mit Sicherheitsfragen zu beschäftigen. Klare Worte seien allerdings nicht zu erwarten, sagt Gu. Indem die chinesische Regierung vage bleibt, hält sie sich alle Möglichkeiten offen. Immerhin: “Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben”, glaubt er.

Der Frage nach Chinas Haltung zum Krieg geht auch unsere Analyse nach: Hat Xi Jinping seinem Präsidentenkollegen Wladimir Putin grünes Licht für die Invasion gegeben? Vermutlich nicht. Dennoch trendet diese Version der Ereignisse derzeit im Netz. Richtig ist wohl, dass Xi darauf bestanden hat, eventuelle Aktionen erst nach Olympia zu beginnen. Ob Putin aber seinen vermeintlichen Freund in seine Pläne eingeweiht hat, ist höchst fraglich. Denn China war von der Dimension des Angriffs überrumpelt. Amelie Richter fasst zusammen, was wir über die Kontakte zwischen China und Russland im Vorfeld des Krieges an gesicherten Erkenntnissen haben.

Es gibt nicht nur Krieg und Geostrategie auf der Welt, und doch bleibt kaum ein Bereich des Lebens von den Auswirkungen der aktuellen Ereignisse verschont. In Peking beginnen die Paralympischen Spiele – und die Athleten aus Russland dürfen nicht dabei sein. Über die schwierigen Paralympics in Peking sprach Wang Ning mit Mark Dreyer von China Sports Insider.

Ihr
Finn Mayer-Kuckuk
Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

Interview

“Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben.”

Gu Xuewu - im Interview über den Nationalen Volkskongress und des Hauptthemen, unter anderem Wirtschaftswachstum.
Xuewu Gu ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn.

Professor Gu, auf welche Aspekte und Themen sollten wir beim diesjährigen Nationalen Volkskongress besonders achten?

Die Regierung ist extrem besorgt über die Stabilität des Wirtschaftswachstums. Dieses auf einem stabilen Niveau von mindestens sechs Prozent zu halten, dürfte der Fokus des diesjährigen Nationalen Volkskongresses sein. Daher ist mit großer Spannung zu erwarten, welche konkreten Maßnahmen angekündigt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn ich mich nicht irre, müssten in diesem Jahr neue Investitionspläne, Programme zum Abbau der Kluft zwischen Stadt und Land sowie eine Agenda zur Erschließung der landwirtschaftlichen Sektoren im Vordergrund stehen – ebenso wie Konzepte zur weiteren Förderung Künstlicher Intelligenz, Informationstechnologie und Halbleiterindustrie.

Welche Rolle werden geostrategische Fragen spielen – der Ukraine-Krieg, eine sichere Rohstoff- und Energieversorgung, der Handelskonflikt mit den USA?

Das Land sieht sich in der Tat durch wachsende geopolitische Probleme herausgefordert. Aber zentral werden das Management der Beziehungen zu den USA, die Minimierung der Risiken infolge des Ukraine-Konflikts und die Wiederbelebung der Beziehungen zur EU bleiben.

China äußert sich ja in diesen Dingen meist eher verklausuliert, vor allem beim NVK. Erwarten Sie das auch dieses Jahr?

Verklausulierung hat sich als ein sicherer Schutz vor späteren, unerwarteten Veränderungen bewährt und erlaubt Peking daher flexibles Handeln in diesen turbulenten Zeiten. So wird es auch in diesem Jahr sein. Allerdings erwarte ich präzisere Formulierungen darüber, wie die Regierung der Gefahr vorbeugen will, in einen Krieg zwischen Russland und dem Westen infolge der russischen Invasion in die Ukraine hineingezogen zu werden. Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben. Im Gegenteil erwarte ich weiterhin einen Balanceakt Chinas, um den eigenen Spielraum so groß wie möglich zu halten.

Auch, wenn nicht alle Seiten mit Pekings Haltung hundertprozentig zufrieden zu sein scheinen, hat es die Regierung irgendwie geschafft, dass alle Seiten China bislang als ihr ‘strategisches Vermögen’ betrachten: Durch seine gleichzeitige Unterstützung des russischen Anliegens zum Stopp der Nato-Osterweiterung, der Enthaltung bei der UN-Resolution zur Verurteilung der russischen Invasion im UN-Sicherheitsrat, seine Befürwortung des europäischen Normandie-Formats zur Lösung der Ukraine-Krise und die Betonung des Respekts der territorialen Integrität der Ukraine.

Einige Beobachter sind ja der Ansicht, dass China zunehmend wirtschaftspolitische Interessen hinter innenpolitischen und geostrategischen Interessen zurückstellt. Sehen Sie das ähnlich? Oder glauben Sie, dass der NVK wie sonst auch eher im Zeichen der Wirtschaftspolitik stehen wird?

In China ist Wirtschaftspolitik die wichtigste Innenpolitik. Es ist kein Geheimnis, dass die Partei wirtschaftliche Erfolge stets als Voraussetzung für innenpolitische Stabilität und damit als Regierungslegitimation betrachtet. Daher verkennt jede künstliche Gegenüberstellung von wirtschaftlichen, innenpolitischen und geostrategischen Interessen meines Erachtens die innere Logik der chinesischen Politik. Wirtschaftspolitik wird auch in diesem Jahr als Hauptthema den NVK bestimmen. Doch wird sie stärker mit innenpolitischen Notwendigkeiten und außenpolitischen Zwängen flankiert beziehungsweise begründet werden.  

Die Provinzen haben angesichts des schwierigen Umfelds mit durchschnittlich sechs Prozent ziemlich ambitionierte Wachstumsziele herausgegeben. Sehen Sie diese als realistisch an, beziehungsweise glauben Sie, dass Ministerpräsident Li Keqiang da mitgehen wird? 

Li Keqiang muss natürlich mitgehen. Eigentlich muss man eher davon ausgehen, dass Li selbst vermutlich die Provinzen veranlasst beziehungsweise ermutigt hat, diese Wachstumsziele herauszugeben. Denn nur mit einem Wachstum um oder über sechs Prozent kann die Partei ihr Ziel erreichen, China bis 2025 zu einem Land ‘mit hohem Einkommen’ zu entwickeln. So steht es im 14. Fünfjahresplan, aber auch in der Agenda 2035. Die Regierenden müssen sich beeilen. So viel Zeit haben sie nicht.  

Eine der jedes Jahr auf dem NVK besonders beachteten Größen ist Steigerung des offiziellen Militäretats. 2021 erhöhte China die Verteidigungsausgaben um 6,8 Prozent. Oft war der Zuwachs zweistellig. Erwarten Sie angesichts des Ukraine-Krieges und der wiederkehrenden chinesischen Sprachregelungen zu einem ‘angespannten geopolitischen Umfeld’ nun ein stärkeres Plus?

Zumindest werden die Rüstungsausgaben bestimmt nicht sinken. Im internationalen Vergleich hat China noch Luft nach oben: Deutschland hat sich bei den Militärausgaben bis jetzt auf 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts beschränkt, wird sie aber nach der Ankündigung von Bundeskanzler Scholz ja bald auf zwei Prozent und mehr erhöhen. Die USA liegen bei 3,7 Prozent und damit viel höher als China, das bis jetzt 1,7 Prozent des BIP für sein Verteidigungswesen ausgegeben hat.

Wären stark steigende Militärausgaben ein Hinweis auf eine Eskalation der Lage an der Taiwanstraße?

Die Zeichen aus Washington, Taiwan dauerhaft zu unterstützen, dürften Peking nicht ermutigen, weniger für das Militär auszugeben. Aber ich erwarte keine echte Eskalation im Sinne einer Invasion über die Taiwan-Straße hinweg in der Art von Putins Angriff auf die Ukraine. Dafür stellt sich das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen für die Strategen in Peking nicht positiv genug dar. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: ‘Sieg ohne Krieg’ (不战而胜). Taiwan ohne Blutvergießen zu besiegen, dürfte die favorisierte Form der Unterwerfung Taiwans sein.

Die ständigen Militärübungen Chinas rund um Taiwan dienen dazu, den regelmäßigen Sticheleien der Amerikaner mit Manövern und Entsendungen von Flugzeugsträger-Verbänden durch die Taiwan-Straße etwas entgegenzusetzen. Sie haben aber auch die Funktion, die Glaubwürdigkeit der Strategie ‘Sieg ohne Krieg’ zu demonstrieren. Dies ist ein Stück weit auch als eine psychologische Kriegführung gegen die als ‘abtrünnig’ eingestufte Regierungselite in Taiwan zu sehen.  

China wurde im vergangenen Sommer von einer großen Stromkrise heimgesucht. Wird die Sorge um die Energiesicherheit des Landes, gepaart mit der unsicheren geopolitischen Lage dazu führen, dass auf dem NVK der Klimaschutz nun eine geringere Aufmerksamkeit genießen wird?

Präsident Xi und seine Provinzgouverneure haben hoch und heilig geschworen, sich dem Klimaschutz zu verschreiben. Sie haben sich verpflichtet, die Emissionswende 2030 und die Klimaneutralität 2060 zu erreichen. Die Arbeit der Beamten wird jetzt tatsächlich danach bewertet, ob und inwiefern die Klimaziele in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen stufenweise erreicht werden. Vor diesem Hintergrund sehe ich kaum Anlass für sie, den Klimaschutz wegen der geopolitischen Turbulenzen zurückzustellen. Zumal wohl künftig auch mehr Öl und Gas von Russland nach China fließen kann. Dadurch würde sich die Energiesicherheit des Landes eher erhöhen, nicht reduzieren.

Chinas Problem im Zusammenhang mit dem Klimaschutz sehe ich woanders. Der Druck für das Land ist enorm, rechtzeitig ausreichende und zuverlässige Kapazitäten erneuerbarer Energien aufzubauen, um die massiven Kohlekraftwerke ersetzen zu können. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Keiner der Verantwortlichen kann es sich leisten, die Klimaziele weiter in die Zukunft zu verschieben.

Welche Rolle wird die Pandemie-Bekämpfung noch spielen?

Das Land sieht sich langsam dazu gezwungen, seine Null-Covid-Politik anzupassen. Denn die Lage in der Außenwelt verändert sich, darauf muss man eingehen. Ich gehe davon aus, dass die Pandemie-Bekämpfung auch ein Thema auf dem NVK sein wird. Eine völlige Aufgabe der Null-Covid-Politik erwarte ich nicht. Aber ein neuer Ansatz zur Vorbereitung der Menschen auf eine mögliche begrenzte Veränderung der Strategie könnte dort angekündigt werden.

Xuewu Gu ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn. Chinesische Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik der Volksrepublik gehören zu den Forschungsschwerpunkten Gus. Er hat die Fragen schriftlich beantwortet.




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“Der Einmarsch in die Ukraine überschattet die Paralympics”

Mark Dreyer zu den Paralympics in China - völlig überschattet von Angriffskrig Russlands gegen die Ukraine.
Sportjournalist Mark Dreyer lebt seit 2007 in China

Der Druck war zu groß. Die Eskalation habe das IPC “in eine einzigartige und unmögliche Lage gebracht”, sagte IPC-Präsident Andrew Parsons am Donnerstag, als er den Ausschluss der russischen und belarussischen Sportler von den Paralympischen Spielen verkündete. Überschattet Russlands Ukraine-Krieg die Eröffnung der Paralympics?

Die Paralympics werden immer von den Olympischen Spielen überschattet, aber diesmal dreht sich alles um Russland und die russischen und weißrussischen Athleten. Die Situation in den Athletendörfern ist eskaliert, die Sicherheit der Athleten konnte nicht mehr gewährleistet werden. Athleten aus Russland und Belarus mussten das Paralympische Dorf verlassen. Zunächst diskutierte das Internationale Paralympische Komitee, ob die Athleten bei den Wettkämpfen antreten dürfen. Erst lautete die Entscheidung ja, aber nur unter neutraler Flagge. Außerdem sollten sie nicht in den Medaillenspiegel aufgenommen werden. Dann hat das IPC diese Entscheidung am Donnerstag revidiert und die Athleten ausgeschlossen. Es ist eine verworrene Situation, die die Paralympics selbst völlig überschattet.

Lässt das die Paralympics für Peking in einem anderen Licht erscheinen?

Es liegt zwar nicht an China, dass ein negatives Licht auf die Paralympics geworfen wird, aber in den Augen der Welt werden sie dennoch überschattet. Die Welt hätte sich darauf konzentriert, wie die anderen Sportler auf die russischen Athleten reagiert hätten und was während der Spiele gesagt worden wäre. All das lenkt den Fokus auf Dinge, von denen Peking vielleicht nicht will, dass die Welt darauf schaut.

Wie liefen die Vorbereitungen auf die Paralympics?

Soweit ich gehört habe, lief alles reibungslos. Viele der Freiwilligen sind in der Olympia-Blase geblieben. Sie sind also gut auf die Paralympics vorbereitet. Das Wetter in Peking ist allerdings ziemlich warm.

Die berüchtigte Olympia-Blase, in der sich während der Olympischen Winterspiele alle Beteiligten bewegen mussten, gibt es auch bei den Paralympics. Welche Auswirkungen wird dies haben?

Ich bin ein großer Fan der Paralympics. Jeder einzelne Athlet, der an den Paralympics teilnimmt, hat eine besondere persönliche Geschichte zu erzählen. Die Tatsache, dass im Grunde kein Publikum erlaubt ist, ist eine große Schande. Für die Olympischen Spiele sind 150.000 Zuschauer versprochen worden, aber es wurden dann nur 90.000 – zumindest ist das die offizielle Zahl der staatlichen Medien. Ja, wir haben gesehen, dass die Blase funktioniert, aber es ist ein starker Kontrast zum Rest der Welt, wo Athleten vor ihren Fans, Familien und Freunden antreten. Ein konkretes Beispiel ist Eishockey – bei den Olympischen Spielen waren die Stadien nur zu vier bis fünf Prozent ausgelastet. Es gab tolle Spiele, aber niemand war da, um sie zu sehen. Bei den Paralympics werden es noch weniger sein. Ich habe bisher von niemandem gehört, der gesagt hat, dass er sie sich vor Ort ansehen wird. Was die Olympischen Spiele betrifft – es fühlte sich aufgrund der Blase nicht einmal so an, als würden sie in Peking stattfinden, sie hätten buchstäblich überall stattfinden können.

Wie sieht es mit dem Imagegewinn aus, den sich Peking von den Paralympics erhofft?

Das ist eine schwierige Frage. 90 Prozent der Olympischen und Paralympischen Spiele konzentrieren sich auf das Hauptereignis. Das ist bedauerlich, aber China könnte im Inland wirklich die Möglichkeit haben, Menschen mit Behinderungen zu zeigen. Bei den Winter-Paralympics hatte China bisher noch nie eine gute Bilanz. Ein gutes Abschneiden hier könnte eine Wende bedeuten. Zwischen Sommer- und Winter-Spielen sieht man einen starken Kontrast: Bei den letzten fünf Sommer-Paralympics hat China den Medaillenspiegel angeführt und belegte auch bei den Goldmedaillen den ersten Platz. Bei den letzten fünf Winter-Paralympics gewannen sie dagegen nur eine einzige Goldmedaille: 2018 in Pyeongchang, beim Curling. Ich würde aber erwarten, dass sie dieses Jahr viel besser abschneiden. Allein wenn man die Anzahl der Athleten betrachtet, werden dieses Mal 96 teilnehmen, während es vor fünf Jahren in Pyeongchang nur 26 waren.

Werden Sportler mit Behinderungen in China gefördert?

Im Alltag, also in den Städten und auf den Straßen, sieht man kaum Menschen mit Behinderung. Es gibt kaum Informationen darüber, wie die Regierung Sportler mit Behinderung fördert.

Mark Dreyer ist Autor von Sporting Superpower: An Insider’s View on China’s Quest to Be the Best (Januar 2022). Er moderiert den China Sports Insider Podcast und betreibt die gleichnamige Website. Zudem berichtet er für Sky Sports, Fox Sports, AP Sports und andere Medien über große Sportereignisse auf fünf Kontinenten. Dreyer lebt seit 2007 in China.

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Analyse

War Peking informiert?

Partnerschaft “ohne Grenzen”? Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine steht eine Frage wie ein Elefant im Raum: War Peking über den Plan Moskaus zu einer großflächigen Invasion informiert? Anfang Februar haben China und Russland eine gemeinsame Erklärung über eine “no-limits”-Partnerschaft abgegeben. Wusste Xi Jinping zu diesem Zeitpunkt, worauf er sich einlässt?

Ein Bericht der New York Times legt nahe, dass China Kenntnis von Russlands Plänen hatte. Ranghohe chinesische Beamte sollen demnach russischen Kollegen gegenüber Anfang Februar darauf bestanden haben, erst nach dem Ende der Olympischen Winterspiele in die Ukraine einzufallen.

Die Zeitung beruft sich in dem Bericht auf US-Regierungsvertreter und einen europäischen Beamten, die auf westliche Geheimdiensterkenntnisse verweisen. Diese legten demnach nahe, dass Peking ein “gewisses Maß an Informationen” (“some level of intelligence”) über Russlands Absichten gehabt habe, bevor die Invasion begann. Der Bericht lässt jedoch Fragen offen: Ging China davon aus, dass Russland “lediglich” eine Gebietsnahme im Donbass anstrebte, oder gab es Informationen über einen groß angelegten Angriff auch auf die Hauptstadt Kiew? Und war das russische Vorhaben auch Inhalt der Gespräche auf höchster Ebene zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping?

Das chinesische Außenministerium wies den Bericht über Absprachen zwischen China und Russland vor dem Angriff als falsch zurück. Es handele sich dabei um “Fake News”, sagte Sprecher Wang Wenbin auf einer Pressekonferenz in Peking. Solche Praktiken der Ablenkung und Schuldzuweisung seien “verabscheuungswürdig”, so Wang.

In derselben Pressekonferenz sagte Wang jedoch auch, dass die Gründe der Ukraine-Krise bekannt seien. Die Nato-Erweiterung sei eine falsche Entscheidung gewesen. Auch die chinesische Botschaft in Washington dementierte den Bericht der New York Times mit den Worten: “Die Behauptungen sind Spekulationen ohne jede Grundlage und sollen dazu dienen, China die Schuld zuzuschieben und zu verleumden.”

Handelsdeals, späte Evakuierung – wusste Peking mehr?

Einige Lesarten der Ereignisse zeigen jedoch, dass Peking sich möglicherweise wissend auf eine Krise vorbereitet und versucht hat, Russlands Finanzen im Voraus anzukurbeln. Weniger als eine Woche vor dem russischen Angriff kündigte Moskau einen auf Jahre angelegten Vertrag über 20 Milliarden US-Dollar zum Verkauf von Kohle an China an. Und nur wenige Stunden vor dem russischen Angriff hob China trotz anhaltender Besorgnis über Pflanzenkrankheiten die Exportbeschränkungen für russischen Weizen auf (China.Table berichtete).

Außerdem verlegte Russland im Winter Militäreinheiten von seiner Grenze zu China und anderen Teilen des Ostens in Richtung Ukraine und nach Belarus. Die Bewegungen hätten ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Russland und China gezeigt, da die Zahl der Grenztruppen nun auf einem Tief seit 1922 sei, kommentierten Beobachter. In der gemeinsamen Mitteilung Anfang Februar stellte sich China zudem erstmals explizit auf die Seite Russlands und sprach sich offen gegen eine Nato-Erweiterung aus.

Dass China von einem schnellen Vorstoß Russlands bis nach Kiew ausging, zeige auch die nur langsam begonnene Evakuierungsaktion für die chinesischen Staatsbürger, argumentiert Katsuji Nakazawa, langjähriger China-Korrespondent der japanischen Tageszeitung Nikkei Asia. Die Führung in Peking habe geglaubt, dass die rund 6.000 in der Ukraine lebenden Chinesen das Land mit Charterflügen von Flughäfen unter der vollen Kontrolle der russischen Streitkräfte verlassen könnten. Die Annahme Pekings war Nakazawa zufolge: Nach einer schnellen Invasion würde Russland die Lufthoheit erlangen und der Ausflug der chinesischen Staatsangehörigen könnte bis Ende Februar sicher durchgeführt werden. Der japanische Journalist beruft sich dabei unter anderem auf Gespräche mit chinesischen Beamten.

Festsitzende Staatsbürger und Zurückweisung von US-Warnungen

Dass chinesische Staatsbürger im Vergleich zu EU- und US-Bürgern erst relativ spät aufgefordert wurden, sich in Sicherheit zu begeben und die Ukraine zu verlassen, spricht andererseits jedoch auch dafür, dass Peking davon ausging, dass Kiew und der Westen des Landes nicht im Interesse Russlands liegen – und Peking somit durch das volle Ausmaß des russischen Plans überrascht wurde. Erst nach Beginn der Invasion kündigte China Evakuierungspläne an.

Bis Donnerstag konnten nach Angaben des Außenministeriums in Peking mehr als 3.000 chinesische Staatsangehörige sichere Nachbarländer erreichen. Ein chinesischer Staatsbürger war nach offiziellen Angaben zu Beginn der Woche während einer Evakuierungsaktion bei einem Schusswechsel zwischen russischen und ukrainischen Truppen verletzt worden. Auf Weibo wurde ein Aufruf chinesischer Studenten geteilt, die in der heftig umkämpften Stadt Charkiw festsaßen und Hilfe der chinesischen Botschaft forderten.

Bonny Lin, China-Expertin beim US-Thinktank “Center for Strategic and International Studies”, sagte mit Blick auf die ausgebliebene frühe Evakuierung, es sei unklar, wie viel Xi über Putins Absichten gewusst habe. Dass China zu langsam vorgegangen sei, deute darauf hin, dass es nicht vollständig vorbereitet gewesen sei. “Angesichts der Fakten, die wir bisher haben, denke ich, dass wir keine der beiden Möglichkeiten definitiv ausschließen können – dass Xi es nicht wusste, was schlecht ist, und dass Xi es vielleicht gewusst hat, was auch schlecht ist”, sagte Lin.

Viele der führenden Außenpolitik-Experten der Volksrepublik hatten bis zum 24. Februar öffentlich die Warnungen der USA vor einem Krieg zurückgewiesen. Shen Yi, Professor an der Fudan-Universität in Shanghai, erklärte, Washingtons Warnung vor einer Invasion beruhe auf “minderwertigen” Geheimdienstinformationen. Bis zum Vorabend des Angriffs betitelten chinesische Staatsmedien US-Warnungen als Desinformation. Beamte in Peking stellten Putins militärische Aufrüstung an der Grenze weitgehend als Bluff und Verhandlungstaktik dar.

Auch dem NYT-Artikel zufolge wiesen chinesische Beamte die US-amerikanischen Warnungen zurück und betonten, dass sie nicht an eine anstehende Invasion glaubten. Der US-Geheimdienst enthüllte dem Bericht zufolge sogar, dass Peking diese Informationen auch mit dem Kreml geteilt habe. Yun Sun, ein Senior Fellow an der US-Denkfabrik Stimson Center, argumentierte, Peking habe nicht geglaubt, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde – und fühle sich jetzt möglicherweise vom Kreml ausgespielt.

Wo zieht Peking die rote Linie?

Dass Putin Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bei Treffen an seinem riesigen weißen Tisch über den Angriff auf Ukraine direkt ins Gesicht gelogen hat, ist klar. Aber wie war es bei Xi? Es sei offensichtlich, dass das, was die Chinesen Anfang Februar verstanden haben, sehr anders war als das, was dann herauskam, zitiert NYT eine Quelle. Es sei jedoch falsch, zu sagen, dass Putin Xi belogen oder ausgespielt habe.

Wie viel wer zu welchem Zeitpunkt wusste, wird wahrscheinlich nie vollständig beantwortet werden. Entscheidend ist nun, wo Peking die rote Linie für die Partnerschaft “ohne Grenzen” ziehen wird. China steht vor strategisch wichtigen Schritten.

Eine Lehre habe China aus der Ukraine-Krise aber wahrscheinlich schon gezogen, so Tong Zhao. Man darf sich nicht durch Sanktionen wirtschaftlich niederringen lassen. Der Analyst ist sich sicher: Xis Bestreben nach einer Entkopplung vom Westen und externen Abhängigkeiten wird mit Blick auf Russland jetzt nur noch mehr angefacht.

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Termine

07.03.2022, 18:00-19:30 Uhr Uhr (5 pm London time)
SOAS London, Webinar Rise and fall of technology in Chinese history Mehr

08.03.2022; 8:30-9:30 Uhr (MEZ) / 16:30-17:30 Uhr (CST)
CNBW-Business Talk: AKUT: Zuschauer oder Gestalter? – Chinas Haltung zur russischen Aggression in der Ukraine Mehr

08.03.2022, 10:00-12:00 (Brüssel), 5:00-7:00 pm (Beijing)
EU SME Centre, Webinar: Capacity Building Webinar Series | Session 3: Ways to Enter the Chinese Market Mehr

08.03.2022, 18: 00 Uhr
Arbeitsgemeinschaft Deutsche China-Gesellschaften: Putaojiu – Weinkultur in China Mehr

09.03.2022, 8:30-9:30 Uhr
Chinaforum Bayern e.V., Webinar: Hätte, hätte, Lieferkette – von Sorgfaltspflichten und Whistleblowern Mehr

09.03.2022, 18:00 Uhr
Konfizius-Institut Bonn, Webinar: China im Blickpunkt – Wie veröffentlicht man ein unabhängiges China-Magazin? Mehr

09.03.2022, 12:30-2:00 pm (EST)
Harvard Fairbank Center for Chinese Studies, Webinar: Critical Issues Confronting China series featuring John Haigh Mehr

09.03.2022, 10:00-12:00 (Brüssel), 5:00-7:00 pm (Beijing)
EU SME Centre, Webinar: Capacity Building Webinar Series | Session 4: China Logistics and distribution channels Mehr

10.03.2022, 12:00-2:00 pm (EST)
Harvard Kennedy School, Webinar: The Reform & Global Expansion of Chinese State-Owned Enterprises Mehr

News

Taiwan steigert Produktion von Waffen

Taiwan will seine jährliche Produktion von Raketen auf mehr als 500 verdoppeln. Das berichtet Reuters unter Bezug auf einen Bericht des Verteidigungsministeriums. Hinzu kommen militärische Sonderausgaben. Zusätzlich zum regulären Verteidigungsbudget, das 2022 bei umgerechnet etwa 15 Milliarden Euro liegt, sollen demnach für die kommenden fünf Jahren einmalig weitere 7,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden. 

Zu den geplanten Waffen gehören Luft-Boden-Raketen des Typs Wan Chien und Marschflugkörper vom Typ Hsiung Sheng, deren Reichweite ausreichen soll, Ziele in Chinas Landesinneren zu erreichen. Geplant ist zudem der Bau von jährlich bis zu 48 Drohnen. Um Kapazitäten für Herstellung der zusätzlichen Waffen zu schaffen, sollen bis Juni 34 weitere Produktionsanlagen errichtet werden. 

Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen hat die Modernisierung des Militärs zur Chefsache gemacht und treibt zahlreiche Verteidigungsprojekte voran. Aufgrund der militärischen Übermacht Chinas ist Taiwans Strategie die einer asymmetrische Kriegsführung mit mobilen Hightech-Waffen. Diese ermöglichen Präzisions-Attacken und sind von der Gegenseite nur schwer zu zerstören.

Der Inselstaat fühlt sich zunehmend bedroht. Militärflugzeuge der Volksrepublik China sind in den vergangenen Monaten wiederholt in Taiwans Luftraumüberwachungszone eingedrungen, was Taiwan als Einschüchterung wertet. China betont, dass es den Inselstaat notfalls mit Gewalt unter seine Kontrolle bringen werde. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist die Unsicherheit in Taiwan noch einmal gewachsen. jul

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IfW: China kein großer Gewinner der Sanktionen

Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat erste Schätzungen darüber vorgelegt, wie sich der Handel durch die Russland-Sanktionen verschieben könnte. Russland werde den Warenverkehr mit China als Folge des Konflikts zwar ausweiten, prognostizieren die Ökonomen in einem aktuellen Forschungspapier. Doch China wird dadurch nicht zum Gewinner: Das chinesische Wirtschaftswachstum wird den Modellen zufolge sogar minimal negativ beeinflusst. Insgesamt werden weltweit die Lieferketten gestört, Waren werden für alle Beteiligten teurer und der Wohlstand leidet.

Deutschland könnte infolge der Sanktionen um 0,4 Prozent Wirtschaftsleistung verlieren, Russland 9,71 Prozent. Im Jahr 2020 gingen nur knapp zwei Prozent der chinesischen Exporte nach Russland. Selbst wenn China jetzt ein Vielfaches an Waren mehr an Russland liefert, würde sich das in der chinesischen Wirtschaftsstatistik nicht auffällig niederschlagen. fin

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Russen eröffnen Konten bei chinesischen Banken

Russische Unternehmen wollen angesichts der westlichen Sanktionen wegen der Invasion in der Ukraine verstärkt Bankkonten bei chinesischen Geldhäusern eröffnen. “In den vergangenen Tagen sind 200 bis 300 Unternehmen an uns herangetreten, die neue Konten eröffnen wollen”, sagte ein nicht namentlich genannter Mitarbeiter der Moskauer Filiale einer chinesischen Staatsbank am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. Viele der Firmen machen demnach Geschäfte mit China. Es sei zu erwarten, dass deren Transaktionen mit der chinesischen Währung Yuan zunehmen werden.

Eine Verschiebung des Handels und von Finanzgeschäften von Euro und Dollar in Yuan war angesichts der harten Finanzsanktionen zu erwarten (China.Table berichtete). China und Russland haben bereits die Strukturen dafür geschaffen, sich von den etablierten Zahlungssystemen des Westens unabhängig zu machen. Russland verfügt zudem über Devisenreserven in Yuan, die es nun nutzen könnte.

Alle großen chinesischen Staatsbanken sind in Moskau tätig, darunter die Industrial & Commercial Bank of China (ICBC), die Agricultural Bank of China, die Bank of China (BOC) und die China Construction Bank. Einem chinesischen Geschäftsmann zufolge wollen mehrere seiner russischen Geschäftspartner Yuan-Konten eröffnen. “Es ist eine ziemlich einfache Logik”, sagte der Unternehmer, der seinen Namen ebenfalls nicht genannt haben wollte. “Wenn Sie keinen Dollar oder Euro verwenden können und die USA und Europa Ihnen viele Produkte nicht mehr verkaufen, haben Sie keine andere Wahl, als sich an China zu wenden. Der Trend ist unvermeidlich.”

Der große russisches Transport- und Logistikkonzern Fesco erklärte, er werde den Yuan als Zahlungsmittel akzeptieren. “Es ist ganz natürlich, dass russische Unternehmen bereit sind, Yuan zu akzeptieren”, sagte Shen Muhui, Leiter einer Handelsorganisation, die die Beziehungen zwischen Russland und China fördern soll. Aber kleine chinesische Exporteure würden unter dem Absturz des Rubels leiden. Viele stellten aus Sorge vor Verlusten ihre Lieferungen ein.

Die russische Währung war am Mittwoch auf ein Rekordtief abgestürzt. “Die Unternehmen werden auf Yuan-Rubel-Geschäfte umsteigen, aber in jedem Fall werden die Dinge für die Russen zwei-, drei- oder viermal teurer werden, weil sich auch der Wechselkurs zwischen Yuan und Rubel ändert”, sagte Konstantin Popow, ein russischer Unternehmer in Shanghai. Shen erwartet, dass die russische Nachfrage nach chinesischen Waren langfristig dennoch wachsen wird. rtr

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Presseschau

China dementiert Kriegs-Bitte an Russland NTV
Was wusste Xi Jinping? FAZ
Der Ukraine-Krieg birgt für China viele Gefahren NTV
China Declared Its Russia Friendship Had ‘No Limits.’ It’s Having Second Thoughts. WSJ
Schutzschild gegen Sanktionen – Wie China das russische Finanzsystem retten könnte HANDELSBLATT
China, Russia trade continues despite Western sanctions, but Beijing ‘will not ride to the rescue’ SCMP
Russische Unternehmen wollen verstärkt chinesische Bankkonten eröffnen HANDELSBLATT
Chinesen kaufen russische Pralinen NTV
Key Asian nations join global backlash against Russia, with an eye toward China WASHINGTONPOST
Russische und belarussische Sportler von Paralympics in Peking ausgeschlossen SPIEGEL
‘Two sessions’ 2022: calls for China’s family-planning restrictions to be fully abolished gather steam SCMP
Navy Recovers Stealthy Jet From Deep in the South China Sea NYTIMES
Beijing-Based Multilateral Lender Suspends Russia-Related Activities WSJ
In China, Fewer Are Willing to Splurge as Economic Worries Mount WSJ
Washington ist besorgt: Wendet sich Südkorea nach den Wahlen China zu? HANDELSBLATT
Millionen Menschen von Stromausfall in Taiwan betroffen STUTTGARTERNACHRICHTEN
Watching Ukraine, Taiwan worries about its own fate LATIMES
China-watchers are fleeing the country for other Asian hubs ECONOMIST

Kolumne

Pekings versteckte Kathedrale   

Von Johnny Erling
Ein Bild von Johnny Erling

Katastrophen wie der Ukraine-Krieg verdrängen alle anderen Nachrichten, auch die der alltäglichen Repression in China. So traten am 1. März fast unbemerkt Chinas neue “Maßnahmen zur Verwaltung religiöser Informationsdienste im Internet” in Kraft, die das in China verbriefte Verfassungsrecht der Glaubensfreiheit noch weiter aushöhlen. Mit rigoroser Überwachung will Parteichef Xi Jinping alle Online-Freiräume für religiösen Content schließen oder einengen. Nur fünf von der Partei sanktionierte, staatstreue Kirchengemeinschaften der Evangelen, Katholiken, Daoisten, Buddhisten und Muslime dürfen ihrem Glauben nachgehen – in einer von der Partei streng kontrollierten Weise.  

Die Kathedrale in Chongli wurde zu Olympia restauriert - dann aber aufgrund von Corona nicht mehr als Vorzeigeobjekt benötigt und geschlossen. Sie zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zur Religion.
Ostern 2016: Die mächtige Kathedrale erhebt sich höher als die Hochhäuser von Chongli

Das führt zu immer absurderen Vorfällen. Anlässlich der Olympischen Winterspiele 2022 wollte sich Peking nach außen weltoffen und tolerant präsentieren. Es ließ die Kathedrale einer papsttreuen Diözese restaurieren, die mitten im olympischen Skigebiet liegt. Doch das war nur Kalkül. Als die Covid-19-Pandemie den olympischen Teilnehmern einen Besuch der Kathedrale unmöglich machte, ließen Chinas Behörden die unnütz gewordene Kirche schließen und vor der Öffentlichkeit verstecken.

Ähnliches geschah bei den Sommerspielen 2008. Für alle internationalen Teilnehmer ließ Peking Bibeln drucken. Doch auch das war nur Show. Nach dem Ende der Spiele wurden die Bibeln aus dem Verkehr gezogen.

Noch grotesker: In der alten Kaiserstadt Kaifeng wurden in den vergangenen Jahren alle sichtbaren Relikte der einstigen jüdischen Gemeinde vom Erdboden getilgt. Peking wollte verhindern, dass ihr Anblick die jüdische Religion wiederbeleben könnte. Alle drei Fälle, ebenso wie die furchtbare Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren, spiegeln eine groteske Furcht der Partei wider, die Kontrolle über Glauben und Ethnien zu verlieren.

2008 wurden zu Olympia in China Bibeln ausgegeben, danach aber vernichtet; dies zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zu Religion.
Neudruck des Neuen Testaments für die Athleten und Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2008, inklusive Olympialogo. Nach Ende der Spiele wurde die Heilige Schrift wieder eingezogen.

Die Kathetrale von Chongli wurde für die Olympischen Spiele restauriert

Nur 55 Minuten brauchte die Pekinger Korrespondentin der FAZ, Friedrike Böge, um Ende Dezember im Highspeed-Zug die 250 Kilometer entfernte Station Taiji zu erreichen. Von dort dauert es 20 Minuten im Taxi bis zum Wintersportzentrum Chongli. Einheimische nennen das gleichnamige 60.000-Einwohner-Städtchen in den Bergen Nordwestchinas auch Xiwanzi (崇礼西湾子). So heißt auch die dortige katholische Diözese. Für die Olympischen Spiele 2022 aber ist Chongli der Name des weltbekannten Austragungsorts für alle Skidisziplinen.    

Journalistin Böge zog es aber nicht zum Kunstschnee. Sie war unterwegs, um der Geschichte der imposanten Kathedrale von Chongli nachzuspüren. Mit ihren Doppeltürmen wurde sie einst zum Wahrzeichen der vor 200 Jahren gegründeten Diözese. 1923 bis 1926 erbaut, bot der katholische Prachtbau bis zu 2000 Gläubigen Platz. Die Stadtbau-Historiker Luo Wei and Lu Haiping (罗微, 吕海平) bewerteten die Kathedrale 2019  (塞北天主教圣地西湾子教堂建堂始末) als wichtigstes, chinesisches Kirchengebäude der “Kongregation vom Unbefleckten Herzen Mariae”. So nannten sich die Missionare des belgischen Scheut-Ordens, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Evangelisierung von Xiwanzi  begannen und es zum Zentrum des katholischen Glaubens in Nordchina machten. Doch im Dezember 1946 zerbombten Maos Soldaten der “Achte-Route-Armee” 八路军 im Bürgerkrieg mit der Kuomintang die Kathedrale und brannten sie nieder.  

Die Diözese Xiwanzi aber ist bis heute eine Bastion der papsttreuen Untergrundkirche geblieben. Trotzdem schien das atheistische Peking zur Förderung der Winterspiele 2022 bereit, über seinen Schatten zu springen. Es unterstützte den von der Gemeinde privat begonnenen Wiederaufbau der Kathedrale. Als Peking die Ausschreibung für die Spiele 2015 gewann, wurde das gesamte Bauwerk originalgetreu restauriert, ebenso wie der während der Kulturrevolution verwüstete Missionarsfriedhof. Chinas Olympiaplaner rechneten sich aus, dass sich schließlich alle nach Chongli kommenden Wintersportler für einen Besuch interessieren würden. Peking würde punkten.

China und Religion: 2016 wurde ein Album für die Kathedrale in Chongli, einem Austragungsort von Olympia, gedruckt.
Im Jahr 2016 waren die Plakate schon gedruckt, mit denen anlässlich der Olympischen Winterspiele 2022 für die renovierte Kathedrale von Chongli als Wahrzeichen der integrierten Kultur geworben werden sollte

Doch dann sorgte Covid-19 dafür, dass alles anders kam. Die Winterspiele konnten nur in einer abgesperrten, isolierten Blase ausgetragen werden. Die Kathedrale lag außerhalb davon, und so verlor Peking das Interesse. Journalistin Böge fand die Kathedrale “wegen Corona und Olympia bis auf Weiteres geschlossen.”  Von den Gläubigen erfuhr sie: “Seit Oktober dürfen in der Kirche keine Gottesdienste mehr abgehalten werden“.   

Es ist daher heute sehr still um die Kathedrale. Als Korrespondent hatte ich 2016 erstmals vom Wiederaufbau gehört. Befreundete Katholiken schenkten mir einen zu Ostern 2016 offiziell gedruckten, 74 Seiten starken Farbfoto-Band unter dem chinesisch-englischen Titel “Church Album”. Darin sind Werbeplakate aufgenommen, die das Logo der Pekinger Winterspiele 2022 mit der Kathedrale als neuem Wahrzeichen von Chongli zeigen. Für das Vorwort des Bildbandes schreibt der Priester Paul Zhang (张保禄): “Mit den Spielen 2022 wird Xiwanzi zur Plattform der Wiederbegegnung der östlichen und westlichen Kultur.”  随着2022年冬奥会的到来,西湾子将再度成为中西文化交汇的平台. Sein frommer Wunsch sollte sich nicht erfüllen.

Neues Testament als “Olympia 2008-Ausgabe”

Schon 2008 gab sich Peking bei den erstmalig an China vergebenen Olympischen Sommerspielen den Anschein, die Religionsfreiheit hochzuhalten. Es beauftragte das Nationalkomitee der protestantischen Staatskirche “Drei-Selbst-Patriotische Bewegung”, eine chinesisch-englische Ausgabe des Neuen Testaments speziell als “Olympia 2008-Ausgabe” zu drucken. Jeder Athlet fand sie in der Schrankschublade seines Zimmers im Olympischen Dorf vor, mit den Adressen, Telefonnummern und Sonntagsgottesdiensten von 13 protestantischen Kirchen in der Hauptstadt. Peking hatte sogar im Olympischen Dorf fünf Andachtsräume für Christen, Buddhisten, Muslime, Juden und Hindus einrichten lassen.

Mit einer neuen Haltung zur Religion hatte das nichts zu tun. Sofort nach den Spielen ließen die Behörden die Bibeln wieder einziehen und einstampfen. Ein kirchlicher Mitarbeiter ließ mir heimlich ein Exemplar zukommen. Hoffnungsvoll hatte damals der Bischof und Präsident des China Christian Council K.H. Ting (丁 光 訓) in das Neue Testament gepinselt: “Die Bibel vereinigt uns.”  

2008 wurden zu Olympia in China Bibeln ausgegeben, danach aber vernichtet; dies zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zu Religion.
Widmung für die Olympiabibel 2008 von Bischof K.H. Ting: “Die Bibel vereinigt uns”

Chinas Furcht, die Kontrolle zu verlieren, hat die kommunistische Führung seit 2008 immer kompromissloser gegen alle nicht staatlich anerkannten Glaubensgruppen, Sekten und Hauskirchen vorgehen lassen. Peking machte nicht einmal Halt vor den gerade mal 200 Mitgliedern einer mosaischen Gemeinde, deren Vorfahren vor tausend Jahren über die Seidenstraße von Indien, Irak oder Persien eingewandert waren. Die jüdischen Weber und Händler ließen sich in der einst Song-zeitlichen Kaiserstadt Kaifeng am Gelben Fluss mit kaiserlichem Privileg nieder. Doch die Volksrepublik China erkannte die jüdische Religion nie als eigenständigen Glauben innerhalb Chinas an.

Auch Jüd:innen müssen Repessionen fürchten. Chinas Verhältnis zu Religion ist schwierig - wie sich erneut zu Olympia 2022 zeigte.
Auf dem Dachboden ihrer Wohnung versteckt die Jüdin Guo Yan in Kaifeng Modelle der früheren Synagoge und einer Thorasänfte, die ihr Vater gebaut hat. Guo glaubt, dass ihre Vorfahren vor 1000 Jahren aus Indien nach Kaifeng kamen

Auslöser für die heute absurde Verfolgung der Nachfahren wurde ein Passahfest, das jüdische Familien aus Kaifeng und umgebenden Dörfer im Frühjahr 2015 in einem Hotel feierten. Die New York Times schrieb einen Bericht darüber, dessen Übersetzung Funktionäre in Peking alarmierte. Dabei lasen sie Harmloses über wieder aufgelebte alte jüdische Traditionen und Bräuche. Auch über Pläne, ein jüdisches Kulturzentrum mit Museum und den Wiederaufbau der 1851 zuletzt zerstörten Synagoge zu fördern. Weil jüdische NGOs aus den USA und Israel mit von der Partie waren und sich unter den Gästen des Festes auch sympathisierende lokale chinesische Funktionäre befanden, setzte Peking das Thema sogar auf die Tagesordnung einer Sitzung des Politbüros unter Leitung Xi Jinpings. Es ging um potenzielle Gefahren, die der Partei vom Wildwuchs der Religionen drohten.

Solche Ängste führten dazu, dass Sicherheitsbehörden in Kaifeng alle 70 Teilnehmer:innen des Passahfestes verhörten, berichteten mir damals Betroffene. Alle wurden verwarnt, religiöse Feste nur noch privat und Zuhause zu feiern. Zugleich verlangten die Behörden von Kaifeng, alle sichtbaren Zeugnisse jüdischer Kultur und Religion auf den Straßen und in der Stadt verschwinden zu lassen. Ein historischer Brunnen, der einst zur von den Fluten zerstörten Synagoge gehört hatte, wurde zugeschüttet. Zwei noch erhaltene Gedenksteine mit Inschriften zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde aus den Jahren 1489 bis 1663 wurden weggeschafft. Selbst eine erst 2008 von der Stadt aufgestellte Gedenktafel wurde entfernt. Sie hatte an die erste, im Jahr 1163 errichtete Synagoge von Kaifeng erinnert.

Dass eine vor 1000 Jahren nach China eingewanderte, heute so kleine Gemeinde so starke Reaktionen in Peking auslösen kann, gehört zu den Grotesken kommunistischer Politik, so wie auch Pekings Umgang mit der versteckten Kathedrale in Chongli. 

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Personalien

Melinda Chan wird neue Chefin des Casinobetreibers Macau Legend Development. Sie saß bis Ende 2020 als Abgeordnete in der Legislativversammlung von Macau. Ihr Gatte, David Chow, übernimmt die Position des Verwaltungsratsvorsitzenden. Das Ehepaar ist Anteilseigner an dem Unternehmen.

Beide Ämter bei Macau Legend Development hat zuvor Levo Chan eingenommen, die trotz gleichen Nachnamens nicht mit Melinda Chan verwandt ist. Levo Chan wird beschuldigt, Mitglied einer Triade zu sein, also zur Mafia zu gehören. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie.

Dessert

Photo by Xiao Hao/Xinhua

Ein Gesundheitsmitarbeiter überprüft den Gehörgang einer alten Dame im Dorf Qinglong in der Provinz Guizhou. Der Check-up ist eine von vielen Aktionen anlässlich des nationalen Ohrpflegetags. In Klassenzimmern – oder wie hier an der frischen Luft – soll darüber aufgeklärt werden, wie man sein Gehör schützt. Laut Chinas Behindertenvereinigung haben etwa 20 Millionen Menschen im Land einen Hörschaden.

  • Gesundheit

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Gu Xuewu: Die Regierung sorgt sich vor allem ums Wachstum
    • Sport-Entrepreneur Mark Dreyer zu den Paralympics
    • Invasion: China war wohl vorgewarnt, aber nicht eingeweiht
    • Termine der kommenden Woche
    • Taiwan rüstet kräftig auf
    • IfW: China profitiert nicht von Sanktionen
    • Boom für Yuan-Bankkonten in Moskau
    • Johnny Erling zum Kathedralenbau von Chongli
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    der diesjährige Nationale Volkskongress beginnt Samstag. Gu Xuewu, Professor für internationale Beziehungen in Bonn, ordnet im Dialog mit Christiane Kühl die Bedeutung des politischen Großereignisses ein. Im Vordergrund steht zunächst einmal die Wirtschaftspolitik: Die Regierung muss die Konjunktur ankurbeln, ohne Blasen und Überkapazitäten zu schaffen. Wachstumspolitik ist weiterhin die wichtigste Innenpolitik.

    Doch der Krieg in Ukraine wird den Volkskongress auch dazu zwingen, sich verstärkt mit Sicherheitsfragen zu beschäftigen. Klare Worte seien allerdings nicht zu erwarten, sagt Gu. Indem die chinesische Regierung vage bleibt, hält sie sich alle Möglichkeiten offen. Immerhin: “Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben”, glaubt er.

    Der Frage nach Chinas Haltung zum Krieg geht auch unsere Analyse nach: Hat Xi Jinping seinem Präsidentenkollegen Wladimir Putin grünes Licht für die Invasion gegeben? Vermutlich nicht. Dennoch trendet diese Version der Ereignisse derzeit im Netz. Richtig ist wohl, dass Xi darauf bestanden hat, eventuelle Aktionen erst nach Olympia zu beginnen. Ob Putin aber seinen vermeintlichen Freund in seine Pläne eingeweiht hat, ist höchst fraglich. Denn China war von der Dimension des Angriffs überrumpelt. Amelie Richter fasst zusammen, was wir über die Kontakte zwischen China und Russland im Vorfeld des Krieges an gesicherten Erkenntnissen haben.

    Es gibt nicht nur Krieg und Geostrategie auf der Welt, und doch bleibt kaum ein Bereich des Lebens von den Auswirkungen der aktuellen Ereignisse verschont. In Peking beginnen die Paralympischen Spiele – und die Athleten aus Russland dürfen nicht dabei sein. Über die schwierigen Paralympics in Peking sprach Wang Ning mit Mark Dreyer von China Sports Insider.

    Ihr
    Finn Mayer-Kuckuk
    Bild von Finn  Mayer-Kuckuk

    Interview

    “Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben.”

    Gu Xuewu - im Interview über den Nationalen Volkskongress und des Hauptthemen, unter anderem Wirtschaftswachstum.
    Xuewu Gu ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn.

    Professor Gu, auf welche Aspekte und Themen sollten wir beim diesjährigen Nationalen Volkskongress besonders achten?

    Die Regierung ist extrem besorgt über die Stabilität des Wirtschaftswachstums. Dieses auf einem stabilen Niveau von mindestens sechs Prozent zu halten, dürfte der Fokus des diesjährigen Nationalen Volkskongresses sein. Daher ist mit großer Spannung zu erwarten, welche konkreten Maßnahmen angekündigt werden, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn ich mich nicht irre, müssten in diesem Jahr neue Investitionspläne, Programme zum Abbau der Kluft zwischen Stadt und Land sowie eine Agenda zur Erschließung der landwirtschaftlichen Sektoren im Vordergrund stehen – ebenso wie Konzepte zur weiteren Förderung Künstlicher Intelligenz, Informationstechnologie und Halbleiterindustrie.

    Welche Rolle werden geostrategische Fragen spielen – der Ukraine-Krieg, eine sichere Rohstoff- und Energieversorgung, der Handelskonflikt mit den USA?

    Das Land sieht sich in der Tat durch wachsende geopolitische Probleme herausgefordert. Aber zentral werden das Management der Beziehungen zu den USA, die Minimierung der Risiken infolge des Ukraine-Konflikts und die Wiederbelebung der Beziehungen zur EU bleiben.

    China äußert sich ja in diesen Dingen meist eher verklausuliert, vor allem beim NVK. Erwarten Sie das auch dieses Jahr?

    Verklausulierung hat sich als ein sicherer Schutz vor späteren, unerwarteten Veränderungen bewährt und erlaubt Peking daher flexibles Handeln in diesen turbulenten Zeiten. So wird es auch in diesem Jahr sein. Allerdings erwarte ich präzisere Formulierungen darüber, wie die Regierung der Gefahr vorbeugen will, in einen Krieg zwischen Russland und dem Westen infolge der russischen Invasion in die Ukraine hineingezogen zu werden. Eine unmissverständliche Unterstützung für ‘Putins Krieg’ wird es nicht geben. Im Gegenteil erwarte ich weiterhin einen Balanceakt Chinas, um den eigenen Spielraum so groß wie möglich zu halten.

    Auch, wenn nicht alle Seiten mit Pekings Haltung hundertprozentig zufrieden zu sein scheinen, hat es die Regierung irgendwie geschafft, dass alle Seiten China bislang als ihr ‘strategisches Vermögen’ betrachten: Durch seine gleichzeitige Unterstützung des russischen Anliegens zum Stopp der Nato-Osterweiterung, der Enthaltung bei der UN-Resolution zur Verurteilung der russischen Invasion im UN-Sicherheitsrat, seine Befürwortung des europäischen Normandie-Formats zur Lösung der Ukraine-Krise und die Betonung des Respekts der territorialen Integrität der Ukraine.

    Einige Beobachter sind ja der Ansicht, dass China zunehmend wirtschaftspolitische Interessen hinter innenpolitischen und geostrategischen Interessen zurückstellt. Sehen Sie das ähnlich? Oder glauben Sie, dass der NVK wie sonst auch eher im Zeichen der Wirtschaftspolitik stehen wird?

    In China ist Wirtschaftspolitik die wichtigste Innenpolitik. Es ist kein Geheimnis, dass die Partei wirtschaftliche Erfolge stets als Voraussetzung für innenpolitische Stabilität und damit als Regierungslegitimation betrachtet. Daher verkennt jede künstliche Gegenüberstellung von wirtschaftlichen, innenpolitischen und geostrategischen Interessen meines Erachtens die innere Logik der chinesischen Politik. Wirtschaftspolitik wird auch in diesem Jahr als Hauptthema den NVK bestimmen. Doch wird sie stärker mit innenpolitischen Notwendigkeiten und außenpolitischen Zwängen flankiert beziehungsweise begründet werden.  

    Die Provinzen haben angesichts des schwierigen Umfelds mit durchschnittlich sechs Prozent ziemlich ambitionierte Wachstumsziele herausgegeben. Sehen Sie diese als realistisch an, beziehungsweise glauben Sie, dass Ministerpräsident Li Keqiang da mitgehen wird? 

    Li Keqiang muss natürlich mitgehen. Eigentlich muss man eher davon ausgehen, dass Li selbst vermutlich die Provinzen veranlasst beziehungsweise ermutigt hat, diese Wachstumsziele herauszugeben. Denn nur mit einem Wachstum um oder über sechs Prozent kann die Partei ihr Ziel erreichen, China bis 2025 zu einem Land ‘mit hohem Einkommen’ zu entwickeln. So steht es im 14. Fünfjahresplan, aber auch in der Agenda 2035. Die Regierenden müssen sich beeilen. So viel Zeit haben sie nicht.  

    Eine der jedes Jahr auf dem NVK besonders beachteten Größen ist Steigerung des offiziellen Militäretats. 2021 erhöhte China die Verteidigungsausgaben um 6,8 Prozent. Oft war der Zuwachs zweistellig. Erwarten Sie angesichts des Ukraine-Krieges und der wiederkehrenden chinesischen Sprachregelungen zu einem ‘angespannten geopolitischen Umfeld’ nun ein stärkeres Plus?

    Zumindest werden die Rüstungsausgaben bestimmt nicht sinken. Im internationalen Vergleich hat China noch Luft nach oben: Deutschland hat sich bei den Militärausgaben bis jetzt auf 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts beschränkt, wird sie aber nach der Ankündigung von Bundeskanzler Scholz ja bald auf zwei Prozent und mehr erhöhen. Die USA liegen bei 3,7 Prozent und damit viel höher als China, das bis jetzt 1,7 Prozent des BIP für sein Verteidigungswesen ausgegeben hat.

    Wären stark steigende Militärausgaben ein Hinweis auf eine Eskalation der Lage an der Taiwanstraße?

    Die Zeichen aus Washington, Taiwan dauerhaft zu unterstützen, dürften Peking nicht ermutigen, weniger für das Militär auszugeben. Aber ich erwarte keine echte Eskalation im Sinne einer Invasion über die Taiwan-Straße hinweg in der Art von Putins Angriff auf die Ukraine. Dafür stellt sich das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen für die Strategen in Peking nicht positiv genug dar. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: ‘Sieg ohne Krieg’ (不战而胜). Taiwan ohne Blutvergießen zu besiegen, dürfte die favorisierte Form der Unterwerfung Taiwans sein.

    Die ständigen Militärübungen Chinas rund um Taiwan dienen dazu, den regelmäßigen Sticheleien der Amerikaner mit Manövern und Entsendungen von Flugzeugsträger-Verbänden durch die Taiwan-Straße etwas entgegenzusetzen. Sie haben aber auch die Funktion, die Glaubwürdigkeit der Strategie ‘Sieg ohne Krieg’ zu demonstrieren. Dies ist ein Stück weit auch als eine psychologische Kriegführung gegen die als ‘abtrünnig’ eingestufte Regierungselite in Taiwan zu sehen.  

    China wurde im vergangenen Sommer von einer großen Stromkrise heimgesucht. Wird die Sorge um die Energiesicherheit des Landes, gepaart mit der unsicheren geopolitischen Lage dazu führen, dass auf dem NVK der Klimaschutz nun eine geringere Aufmerksamkeit genießen wird?

    Präsident Xi und seine Provinzgouverneure haben hoch und heilig geschworen, sich dem Klimaschutz zu verschreiben. Sie haben sich verpflichtet, die Emissionswende 2030 und die Klimaneutralität 2060 zu erreichen. Die Arbeit der Beamten wird jetzt tatsächlich danach bewertet, ob und inwiefern die Klimaziele in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen stufenweise erreicht werden. Vor diesem Hintergrund sehe ich kaum Anlass für sie, den Klimaschutz wegen der geopolitischen Turbulenzen zurückzustellen. Zumal wohl künftig auch mehr Öl und Gas von Russland nach China fließen kann. Dadurch würde sich die Energiesicherheit des Landes eher erhöhen, nicht reduzieren.

    Chinas Problem im Zusammenhang mit dem Klimaschutz sehe ich woanders. Der Druck für das Land ist enorm, rechtzeitig ausreichende und zuverlässige Kapazitäten erneuerbarer Energien aufzubauen, um die massiven Kohlekraftwerke ersetzen zu können. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Keiner der Verantwortlichen kann es sich leisten, die Klimaziele weiter in die Zukunft zu verschieben.

    Welche Rolle wird die Pandemie-Bekämpfung noch spielen?

    Das Land sieht sich langsam dazu gezwungen, seine Null-Covid-Politik anzupassen. Denn die Lage in der Außenwelt verändert sich, darauf muss man eingehen. Ich gehe davon aus, dass die Pandemie-Bekämpfung auch ein Thema auf dem NVK sein wird. Eine völlige Aufgabe der Null-Covid-Politik erwarte ich nicht. Aber ein neuer Ansatz zur Vorbereitung der Menschen auf eine mögliche begrenzte Veränderung der Strategie könnte dort angekündigt werden.

    Xuewu Gu ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Direktor des Center for Global Studies an der Universität Bonn. Chinesische Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik der Volksrepublik gehören zu den Forschungsschwerpunkten Gus. Er hat die Fragen schriftlich beantwortet.




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    “Der Einmarsch in die Ukraine überschattet die Paralympics”

    Mark Dreyer zu den Paralympics in China - völlig überschattet von Angriffskrig Russlands gegen die Ukraine.
    Sportjournalist Mark Dreyer lebt seit 2007 in China

    Der Druck war zu groß. Die Eskalation habe das IPC “in eine einzigartige und unmögliche Lage gebracht”, sagte IPC-Präsident Andrew Parsons am Donnerstag, als er den Ausschluss der russischen und belarussischen Sportler von den Paralympischen Spielen verkündete. Überschattet Russlands Ukraine-Krieg die Eröffnung der Paralympics?

    Die Paralympics werden immer von den Olympischen Spielen überschattet, aber diesmal dreht sich alles um Russland und die russischen und weißrussischen Athleten. Die Situation in den Athletendörfern ist eskaliert, die Sicherheit der Athleten konnte nicht mehr gewährleistet werden. Athleten aus Russland und Belarus mussten das Paralympische Dorf verlassen. Zunächst diskutierte das Internationale Paralympische Komitee, ob die Athleten bei den Wettkämpfen antreten dürfen. Erst lautete die Entscheidung ja, aber nur unter neutraler Flagge. Außerdem sollten sie nicht in den Medaillenspiegel aufgenommen werden. Dann hat das IPC diese Entscheidung am Donnerstag revidiert und die Athleten ausgeschlossen. Es ist eine verworrene Situation, die die Paralympics selbst völlig überschattet.

    Lässt das die Paralympics für Peking in einem anderen Licht erscheinen?

    Es liegt zwar nicht an China, dass ein negatives Licht auf die Paralympics geworfen wird, aber in den Augen der Welt werden sie dennoch überschattet. Die Welt hätte sich darauf konzentriert, wie die anderen Sportler auf die russischen Athleten reagiert hätten und was während der Spiele gesagt worden wäre. All das lenkt den Fokus auf Dinge, von denen Peking vielleicht nicht will, dass die Welt darauf schaut.

    Wie liefen die Vorbereitungen auf die Paralympics?

    Soweit ich gehört habe, lief alles reibungslos. Viele der Freiwilligen sind in der Olympia-Blase geblieben. Sie sind also gut auf die Paralympics vorbereitet. Das Wetter in Peking ist allerdings ziemlich warm.

    Die berüchtigte Olympia-Blase, in der sich während der Olympischen Winterspiele alle Beteiligten bewegen mussten, gibt es auch bei den Paralympics. Welche Auswirkungen wird dies haben?

    Ich bin ein großer Fan der Paralympics. Jeder einzelne Athlet, der an den Paralympics teilnimmt, hat eine besondere persönliche Geschichte zu erzählen. Die Tatsache, dass im Grunde kein Publikum erlaubt ist, ist eine große Schande. Für die Olympischen Spiele sind 150.000 Zuschauer versprochen worden, aber es wurden dann nur 90.000 – zumindest ist das die offizielle Zahl der staatlichen Medien. Ja, wir haben gesehen, dass die Blase funktioniert, aber es ist ein starker Kontrast zum Rest der Welt, wo Athleten vor ihren Fans, Familien und Freunden antreten. Ein konkretes Beispiel ist Eishockey – bei den Olympischen Spielen waren die Stadien nur zu vier bis fünf Prozent ausgelastet. Es gab tolle Spiele, aber niemand war da, um sie zu sehen. Bei den Paralympics werden es noch weniger sein. Ich habe bisher von niemandem gehört, der gesagt hat, dass er sie sich vor Ort ansehen wird. Was die Olympischen Spiele betrifft – es fühlte sich aufgrund der Blase nicht einmal so an, als würden sie in Peking stattfinden, sie hätten buchstäblich überall stattfinden können.

    Wie sieht es mit dem Imagegewinn aus, den sich Peking von den Paralympics erhofft?

    Das ist eine schwierige Frage. 90 Prozent der Olympischen und Paralympischen Spiele konzentrieren sich auf das Hauptereignis. Das ist bedauerlich, aber China könnte im Inland wirklich die Möglichkeit haben, Menschen mit Behinderungen zu zeigen. Bei den Winter-Paralympics hatte China bisher noch nie eine gute Bilanz. Ein gutes Abschneiden hier könnte eine Wende bedeuten. Zwischen Sommer- und Winter-Spielen sieht man einen starken Kontrast: Bei den letzten fünf Sommer-Paralympics hat China den Medaillenspiegel angeführt und belegte auch bei den Goldmedaillen den ersten Platz. Bei den letzten fünf Winter-Paralympics gewannen sie dagegen nur eine einzige Goldmedaille: 2018 in Pyeongchang, beim Curling. Ich würde aber erwarten, dass sie dieses Jahr viel besser abschneiden. Allein wenn man die Anzahl der Athleten betrachtet, werden dieses Mal 96 teilnehmen, während es vor fünf Jahren in Pyeongchang nur 26 waren.

    Werden Sportler mit Behinderungen in China gefördert?

    Im Alltag, also in den Städten und auf den Straßen, sieht man kaum Menschen mit Behinderung. Es gibt kaum Informationen darüber, wie die Regierung Sportler mit Behinderung fördert.

    Mark Dreyer ist Autor von Sporting Superpower: An Insider’s View on China’s Quest to Be the Best (Januar 2022). Er moderiert den China Sports Insider Podcast und betreibt die gleichnamige Website. Zudem berichtet er für Sky Sports, Fox Sports, AP Sports und andere Medien über große Sportereignisse auf fünf Kontinenten. Dreyer lebt seit 2007 in China.

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    Analyse

    War Peking informiert?

    Partnerschaft “ohne Grenzen”? Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine steht eine Frage wie ein Elefant im Raum: War Peking über den Plan Moskaus zu einer großflächigen Invasion informiert? Anfang Februar haben China und Russland eine gemeinsame Erklärung über eine “no-limits”-Partnerschaft abgegeben. Wusste Xi Jinping zu diesem Zeitpunkt, worauf er sich einlässt?

    Ein Bericht der New York Times legt nahe, dass China Kenntnis von Russlands Plänen hatte. Ranghohe chinesische Beamte sollen demnach russischen Kollegen gegenüber Anfang Februar darauf bestanden haben, erst nach dem Ende der Olympischen Winterspiele in die Ukraine einzufallen.

    Die Zeitung beruft sich in dem Bericht auf US-Regierungsvertreter und einen europäischen Beamten, die auf westliche Geheimdiensterkenntnisse verweisen. Diese legten demnach nahe, dass Peking ein “gewisses Maß an Informationen” (“some level of intelligence”) über Russlands Absichten gehabt habe, bevor die Invasion begann. Der Bericht lässt jedoch Fragen offen: Ging China davon aus, dass Russland “lediglich” eine Gebietsnahme im Donbass anstrebte, oder gab es Informationen über einen groß angelegten Angriff auch auf die Hauptstadt Kiew? Und war das russische Vorhaben auch Inhalt der Gespräche auf höchster Ebene zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Chinas Staatschef Xi Jinping?

    Das chinesische Außenministerium wies den Bericht über Absprachen zwischen China und Russland vor dem Angriff als falsch zurück. Es handele sich dabei um “Fake News”, sagte Sprecher Wang Wenbin auf einer Pressekonferenz in Peking. Solche Praktiken der Ablenkung und Schuldzuweisung seien “verabscheuungswürdig”, so Wang.

    In derselben Pressekonferenz sagte Wang jedoch auch, dass die Gründe der Ukraine-Krise bekannt seien. Die Nato-Erweiterung sei eine falsche Entscheidung gewesen. Auch die chinesische Botschaft in Washington dementierte den Bericht der New York Times mit den Worten: “Die Behauptungen sind Spekulationen ohne jede Grundlage und sollen dazu dienen, China die Schuld zuzuschieben und zu verleumden.”

    Handelsdeals, späte Evakuierung – wusste Peking mehr?

    Einige Lesarten der Ereignisse zeigen jedoch, dass Peking sich möglicherweise wissend auf eine Krise vorbereitet und versucht hat, Russlands Finanzen im Voraus anzukurbeln. Weniger als eine Woche vor dem russischen Angriff kündigte Moskau einen auf Jahre angelegten Vertrag über 20 Milliarden US-Dollar zum Verkauf von Kohle an China an. Und nur wenige Stunden vor dem russischen Angriff hob China trotz anhaltender Besorgnis über Pflanzenkrankheiten die Exportbeschränkungen für russischen Weizen auf (China.Table berichtete).

    Außerdem verlegte Russland im Winter Militäreinheiten von seiner Grenze zu China und anderen Teilen des Ostens in Richtung Ukraine und nach Belarus. Die Bewegungen hätten ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Russland und China gezeigt, da die Zahl der Grenztruppen nun auf einem Tief seit 1922 sei, kommentierten Beobachter. In der gemeinsamen Mitteilung Anfang Februar stellte sich China zudem erstmals explizit auf die Seite Russlands und sprach sich offen gegen eine Nato-Erweiterung aus.

    Dass China von einem schnellen Vorstoß Russlands bis nach Kiew ausging, zeige auch die nur langsam begonnene Evakuierungsaktion für die chinesischen Staatsbürger, argumentiert Katsuji Nakazawa, langjähriger China-Korrespondent der japanischen Tageszeitung Nikkei Asia. Die Führung in Peking habe geglaubt, dass die rund 6.000 in der Ukraine lebenden Chinesen das Land mit Charterflügen von Flughäfen unter der vollen Kontrolle der russischen Streitkräfte verlassen könnten. Die Annahme Pekings war Nakazawa zufolge: Nach einer schnellen Invasion würde Russland die Lufthoheit erlangen und der Ausflug der chinesischen Staatsangehörigen könnte bis Ende Februar sicher durchgeführt werden. Der japanische Journalist beruft sich dabei unter anderem auf Gespräche mit chinesischen Beamten.

    Festsitzende Staatsbürger und Zurückweisung von US-Warnungen

    Dass chinesische Staatsbürger im Vergleich zu EU- und US-Bürgern erst relativ spät aufgefordert wurden, sich in Sicherheit zu begeben und die Ukraine zu verlassen, spricht andererseits jedoch auch dafür, dass Peking davon ausging, dass Kiew und der Westen des Landes nicht im Interesse Russlands liegen – und Peking somit durch das volle Ausmaß des russischen Plans überrascht wurde. Erst nach Beginn der Invasion kündigte China Evakuierungspläne an.

    Bis Donnerstag konnten nach Angaben des Außenministeriums in Peking mehr als 3.000 chinesische Staatsangehörige sichere Nachbarländer erreichen. Ein chinesischer Staatsbürger war nach offiziellen Angaben zu Beginn der Woche während einer Evakuierungsaktion bei einem Schusswechsel zwischen russischen und ukrainischen Truppen verletzt worden. Auf Weibo wurde ein Aufruf chinesischer Studenten geteilt, die in der heftig umkämpften Stadt Charkiw festsaßen und Hilfe der chinesischen Botschaft forderten.

    Bonny Lin, China-Expertin beim US-Thinktank “Center for Strategic and International Studies”, sagte mit Blick auf die ausgebliebene frühe Evakuierung, es sei unklar, wie viel Xi über Putins Absichten gewusst habe. Dass China zu langsam vorgegangen sei, deute darauf hin, dass es nicht vollständig vorbereitet gewesen sei. “Angesichts der Fakten, die wir bisher haben, denke ich, dass wir keine der beiden Möglichkeiten definitiv ausschließen können – dass Xi es nicht wusste, was schlecht ist, und dass Xi es vielleicht gewusst hat, was auch schlecht ist”, sagte Lin.

    Viele der führenden Außenpolitik-Experten der Volksrepublik hatten bis zum 24. Februar öffentlich die Warnungen der USA vor einem Krieg zurückgewiesen. Shen Yi, Professor an der Fudan-Universität in Shanghai, erklärte, Washingtons Warnung vor einer Invasion beruhe auf “minderwertigen” Geheimdienstinformationen. Bis zum Vorabend des Angriffs betitelten chinesische Staatsmedien US-Warnungen als Desinformation. Beamte in Peking stellten Putins militärische Aufrüstung an der Grenze weitgehend als Bluff und Verhandlungstaktik dar.

    Auch dem NYT-Artikel zufolge wiesen chinesische Beamte die US-amerikanischen Warnungen zurück und betonten, dass sie nicht an eine anstehende Invasion glaubten. Der US-Geheimdienst enthüllte dem Bericht zufolge sogar, dass Peking diese Informationen auch mit dem Kreml geteilt habe. Yun Sun, ein Senior Fellow an der US-Denkfabrik Stimson Center, argumentierte, Peking habe nicht geglaubt, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde – und fühle sich jetzt möglicherweise vom Kreml ausgespielt.

    Wo zieht Peking die rote Linie?

    Dass Putin Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bei Treffen an seinem riesigen weißen Tisch über den Angriff auf Ukraine direkt ins Gesicht gelogen hat, ist klar. Aber wie war es bei Xi? Es sei offensichtlich, dass das, was die Chinesen Anfang Februar verstanden haben, sehr anders war als das, was dann herauskam, zitiert NYT eine Quelle. Es sei jedoch falsch, zu sagen, dass Putin Xi belogen oder ausgespielt habe.

    Wie viel wer zu welchem Zeitpunkt wusste, wird wahrscheinlich nie vollständig beantwortet werden. Entscheidend ist nun, wo Peking die rote Linie für die Partnerschaft “ohne Grenzen” ziehen wird. China steht vor strategisch wichtigen Schritten.

    Eine Lehre habe China aus der Ukraine-Krise aber wahrscheinlich schon gezogen, so Tong Zhao. Man darf sich nicht durch Sanktionen wirtschaftlich niederringen lassen. Der Analyst ist sich sicher: Xis Bestreben nach einer Entkopplung vom Westen und externen Abhängigkeiten wird mit Blick auf Russland jetzt nur noch mehr angefacht.

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    Termine

    07.03.2022, 18:00-19:30 Uhr Uhr (5 pm London time)
    SOAS London, Webinar Rise and fall of technology in Chinese history Mehr

    08.03.2022; 8:30-9:30 Uhr (MEZ) / 16:30-17:30 Uhr (CST)
    CNBW-Business Talk: AKUT: Zuschauer oder Gestalter? – Chinas Haltung zur russischen Aggression in der Ukraine Mehr

    08.03.2022, 10:00-12:00 (Brüssel), 5:00-7:00 pm (Beijing)
    EU SME Centre, Webinar: Capacity Building Webinar Series | Session 3: Ways to Enter the Chinese Market Mehr

    08.03.2022, 18: 00 Uhr
    Arbeitsgemeinschaft Deutsche China-Gesellschaften: Putaojiu – Weinkultur in China Mehr

    09.03.2022, 8:30-9:30 Uhr
    Chinaforum Bayern e.V., Webinar: Hätte, hätte, Lieferkette – von Sorgfaltspflichten und Whistleblowern Mehr

    09.03.2022, 18:00 Uhr
    Konfizius-Institut Bonn, Webinar: China im Blickpunkt – Wie veröffentlicht man ein unabhängiges China-Magazin? Mehr

    09.03.2022, 12:30-2:00 pm (EST)
    Harvard Fairbank Center for Chinese Studies, Webinar: Critical Issues Confronting China series featuring John Haigh Mehr

    09.03.2022, 10:00-12:00 (Brüssel), 5:00-7:00 pm (Beijing)
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    10.03.2022, 12:00-2:00 pm (EST)
    Harvard Kennedy School, Webinar: The Reform & Global Expansion of Chinese State-Owned Enterprises Mehr

    News

    Taiwan steigert Produktion von Waffen

    Taiwan will seine jährliche Produktion von Raketen auf mehr als 500 verdoppeln. Das berichtet Reuters unter Bezug auf einen Bericht des Verteidigungsministeriums. Hinzu kommen militärische Sonderausgaben. Zusätzlich zum regulären Verteidigungsbudget, das 2022 bei umgerechnet etwa 15 Milliarden Euro liegt, sollen demnach für die kommenden fünf Jahren einmalig weitere 7,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden. 

    Zu den geplanten Waffen gehören Luft-Boden-Raketen des Typs Wan Chien und Marschflugkörper vom Typ Hsiung Sheng, deren Reichweite ausreichen soll, Ziele in Chinas Landesinneren zu erreichen. Geplant ist zudem der Bau von jährlich bis zu 48 Drohnen. Um Kapazitäten für Herstellung der zusätzlichen Waffen zu schaffen, sollen bis Juni 34 weitere Produktionsanlagen errichtet werden. 

    Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen hat die Modernisierung des Militärs zur Chefsache gemacht und treibt zahlreiche Verteidigungsprojekte voran. Aufgrund der militärischen Übermacht Chinas ist Taiwans Strategie die einer asymmetrische Kriegsführung mit mobilen Hightech-Waffen. Diese ermöglichen Präzisions-Attacken und sind von der Gegenseite nur schwer zu zerstören.

    Der Inselstaat fühlt sich zunehmend bedroht. Militärflugzeuge der Volksrepublik China sind in den vergangenen Monaten wiederholt in Taiwans Luftraumüberwachungszone eingedrungen, was Taiwan als Einschüchterung wertet. China betont, dass es den Inselstaat notfalls mit Gewalt unter seine Kontrolle bringen werde. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs ist die Unsicherheit in Taiwan noch einmal gewachsen. jul

    • Taiwan
    • Ukraine

    IfW: China kein großer Gewinner der Sanktionen

    Das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat erste Schätzungen darüber vorgelegt, wie sich der Handel durch die Russland-Sanktionen verschieben könnte. Russland werde den Warenverkehr mit China als Folge des Konflikts zwar ausweiten, prognostizieren die Ökonomen in einem aktuellen Forschungspapier. Doch China wird dadurch nicht zum Gewinner: Das chinesische Wirtschaftswachstum wird den Modellen zufolge sogar minimal negativ beeinflusst. Insgesamt werden weltweit die Lieferketten gestört, Waren werden für alle Beteiligten teurer und der Wohlstand leidet.

    Deutschland könnte infolge der Sanktionen um 0,4 Prozent Wirtschaftsleistung verlieren, Russland 9,71 Prozent. Im Jahr 2020 gingen nur knapp zwei Prozent der chinesischen Exporte nach Russland. Selbst wenn China jetzt ein Vielfaches an Waren mehr an Russland liefert, würde sich das in der chinesischen Wirtschaftsstatistik nicht auffällig niederschlagen. fin

    • Russland
    • Ukraine

    Russen eröffnen Konten bei chinesischen Banken

    Russische Unternehmen wollen angesichts der westlichen Sanktionen wegen der Invasion in der Ukraine verstärkt Bankkonten bei chinesischen Geldhäusern eröffnen. “In den vergangenen Tagen sind 200 bis 300 Unternehmen an uns herangetreten, die neue Konten eröffnen wollen”, sagte ein nicht namentlich genannter Mitarbeiter der Moskauer Filiale einer chinesischen Staatsbank am Donnerstag der Nachrichtenagentur Reuters. Viele der Firmen machen demnach Geschäfte mit China. Es sei zu erwarten, dass deren Transaktionen mit der chinesischen Währung Yuan zunehmen werden.

    Eine Verschiebung des Handels und von Finanzgeschäften von Euro und Dollar in Yuan war angesichts der harten Finanzsanktionen zu erwarten (China.Table berichtete). China und Russland haben bereits die Strukturen dafür geschaffen, sich von den etablierten Zahlungssystemen des Westens unabhängig zu machen. Russland verfügt zudem über Devisenreserven in Yuan, die es nun nutzen könnte.

    Alle großen chinesischen Staatsbanken sind in Moskau tätig, darunter die Industrial & Commercial Bank of China (ICBC), die Agricultural Bank of China, die Bank of China (BOC) und die China Construction Bank. Einem chinesischen Geschäftsmann zufolge wollen mehrere seiner russischen Geschäftspartner Yuan-Konten eröffnen. “Es ist eine ziemlich einfache Logik”, sagte der Unternehmer, der seinen Namen ebenfalls nicht genannt haben wollte. “Wenn Sie keinen Dollar oder Euro verwenden können und die USA und Europa Ihnen viele Produkte nicht mehr verkaufen, haben Sie keine andere Wahl, als sich an China zu wenden. Der Trend ist unvermeidlich.”

    Der große russisches Transport- und Logistikkonzern Fesco erklärte, er werde den Yuan als Zahlungsmittel akzeptieren. “Es ist ganz natürlich, dass russische Unternehmen bereit sind, Yuan zu akzeptieren”, sagte Shen Muhui, Leiter einer Handelsorganisation, die die Beziehungen zwischen Russland und China fördern soll. Aber kleine chinesische Exporteure würden unter dem Absturz des Rubels leiden. Viele stellten aus Sorge vor Verlusten ihre Lieferungen ein.

    Die russische Währung war am Mittwoch auf ein Rekordtief abgestürzt. “Die Unternehmen werden auf Yuan-Rubel-Geschäfte umsteigen, aber in jedem Fall werden die Dinge für die Russen zwei-, drei- oder viermal teurer werden, weil sich auch der Wechselkurs zwischen Yuan und Rubel ändert”, sagte Konstantin Popow, ein russischer Unternehmer in Shanghai. Shen erwartet, dass die russische Nachfrage nach chinesischen Waren langfristig dennoch wachsen wird. rtr

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    Presseschau

    China dementiert Kriegs-Bitte an Russland NTV
    Was wusste Xi Jinping? FAZ
    Der Ukraine-Krieg birgt für China viele Gefahren NTV
    China Declared Its Russia Friendship Had ‘No Limits.’ It’s Having Second Thoughts. WSJ
    Schutzschild gegen Sanktionen – Wie China das russische Finanzsystem retten könnte HANDELSBLATT
    China, Russia trade continues despite Western sanctions, but Beijing ‘will not ride to the rescue’ SCMP
    Russische Unternehmen wollen verstärkt chinesische Bankkonten eröffnen HANDELSBLATT
    Chinesen kaufen russische Pralinen NTV
    Key Asian nations join global backlash against Russia, with an eye toward China WASHINGTONPOST
    Russische und belarussische Sportler von Paralympics in Peking ausgeschlossen SPIEGEL
    ‘Two sessions’ 2022: calls for China’s family-planning restrictions to be fully abolished gather steam SCMP
    Navy Recovers Stealthy Jet From Deep in the South China Sea NYTIMES
    Beijing-Based Multilateral Lender Suspends Russia-Related Activities WSJ
    In China, Fewer Are Willing to Splurge as Economic Worries Mount WSJ
    Washington ist besorgt: Wendet sich Südkorea nach den Wahlen China zu? HANDELSBLATT
    Millionen Menschen von Stromausfall in Taiwan betroffen STUTTGARTERNACHRICHTEN
    Watching Ukraine, Taiwan worries about its own fate LATIMES
    China-watchers are fleeing the country for other Asian hubs ECONOMIST

    Kolumne

    Pekings versteckte Kathedrale   

    Von Johnny Erling
    Ein Bild von Johnny Erling

    Katastrophen wie der Ukraine-Krieg verdrängen alle anderen Nachrichten, auch die der alltäglichen Repression in China. So traten am 1. März fast unbemerkt Chinas neue “Maßnahmen zur Verwaltung religiöser Informationsdienste im Internet” in Kraft, die das in China verbriefte Verfassungsrecht der Glaubensfreiheit noch weiter aushöhlen. Mit rigoroser Überwachung will Parteichef Xi Jinping alle Online-Freiräume für religiösen Content schließen oder einengen. Nur fünf von der Partei sanktionierte, staatstreue Kirchengemeinschaften der Evangelen, Katholiken, Daoisten, Buddhisten und Muslime dürfen ihrem Glauben nachgehen – in einer von der Partei streng kontrollierten Weise.  

    Die Kathedrale in Chongli wurde zu Olympia restauriert - dann aber aufgrund von Corona nicht mehr als Vorzeigeobjekt benötigt und geschlossen. Sie zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zur Religion.
    Ostern 2016: Die mächtige Kathedrale erhebt sich höher als die Hochhäuser von Chongli

    Das führt zu immer absurderen Vorfällen. Anlässlich der Olympischen Winterspiele 2022 wollte sich Peking nach außen weltoffen und tolerant präsentieren. Es ließ die Kathedrale einer papsttreuen Diözese restaurieren, die mitten im olympischen Skigebiet liegt. Doch das war nur Kalkül. Als die Covid-19-Pandemie den olympischen Teilnehmern einen Besuch der Kathedrale unmöglich machte, ließen Chinas Behörden die unnütz gewordene Kirche schließen und vor der Öffentlichkeit verstecken.

    Ähnliches geschah bei den Sommerspielen 2008. Für alle internationalen Teilnehmer ließ Peking Bibeln drucken. Doch auch das war nur Show. Nach dem Ende der Spiele wurden die Bibeln aus dem Verkehr gezogen.

    Noch grotesker: In der alten Kaiserstadt Kaifeng wurden in den vergangenen Jahren alle sichtbaren Relikte der einstigen jüdischen Gemeinde vom Erdboden getilgt. Peking wollte verhindern, dass ihr Anblick die jüdische Religion wiederbeleben könnte. Alle drei Fälle, ebenso wie die furchtbare Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren, spiegeln eine groteske Furcht der Partei wider, die Kontrolle über Glauben und Ethnien zu verlieren.

    2008 wurden zu Olympia in China Bibeln ausgegeben, danach aber vernichtet; dies zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zu Religion.
    Neudruck des Neuen Testaments für die Athleten und Teilnehmer der Olympischen Sommerspiele 2008, inklusive Olympialogo. Nach Ende der Spiele wurde die Heilige Schrift wieder eingezogen.

    Die Kathetrale von Chongli wurde für die Olympischen Spiele restauriert

    Nur 55 Minuten brauchte die Pekinger Korrespondentin der FAZ, Friedrike Böge, um Ende Dezember im Highspeed-Zug die 250 Kilometer entfernte Station Taiji zu erreichen. Von dort dauert es 20 Minuten im Taxi bis zum Wintersportzentrum Chongli. Einheimische nennen das gleichnamige 60.000-Einwohner-Städtchen in den Bergen Nordwestchinas auch Xiwanzi (崇礼西湾子). So heißt auch die dortige katholische Diözese. Für die Olympischen Spiele 2022 aber ist Chongli der Name des weltbekannten Austragungsorts für alle Skidisziplinen.    

    Journalistin Böge zog es aber nicht zum Kunstschnee. Sie war unterwegs, um der Geschichte der imposanten Kathedrale von Chongli nachzuspüren. Mit ihren Doppeltürmen wurde sie einst zum Wahrzeichen der vor 200 Jahren gegründeten Diözese. 1923 bis 1926 erbaut, bot der katholische Prachtbau bis zu 2000 Gläubigen Platz. Die Stadtbau-Historiker Luo Wei and Lu Haiping (罗微, 吕海平) bewerteten die Kathedrale 2019  (塞北天主教圣地西湾子教堂建堂始末) als wichtigstes, chinesisches Kirchengebäude der “Kongregation vom Unbefleckten Herzen Mariae”. So nannten sich die Missionare des belgischen Scheut-Ordens, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Evangelisierung von Xiwanzi  begannen und es zum Zentrum des katholischen Glaubens in Nordchina machten. Doch im Dezember 1946 zerbombten Maos Soldaten der “Achte-Route-Armee” 八路军 im Bürgerkrieg mit der Kuomintang die Kathedrale und brannten sie nieder.  

    Die Diözese Xiwanzi aber ist bis heute eine Bastion der papsttreuen Untergrundkirche geblieben. Trotzdem schien das atheistische Peking zur Förderung der Winterspiele 2022 bereit, über seinen Schatten zu springen. Es unterstützte den von der Gemeinde privat begonnenen Wiederaufbau der Kathedrale. Als Peking die Ausschreibung für die Spiele 2015 gewann, wurde das gesamte Bauwerk originalgetreu restauriert, ebenso wie der während der Kulturrevolution verwüstete Missionarsfriedhof. Chinas Olympiaplaner rechneten sich aus, dass sich schließlich alle nach Chongli kommenden Wintersportler für einen Besuch interessieren würden. Peking würde punkten.

    China und Religion: 2016 wurde ein Album für die Kathedrale in Chongli, einem Austragungsort von Olympia, gedruckt.
    Im Jahr 2016 waren die Plakate schon gedruckt, mit denen anlässlich der Olympischen Winterspiele 2022 für die renovierte Kathedrale von Chongli als Wahrzeichen der integrierten Kultur geworben werden sollte

    Doch dann sorgte Covid-19 dafür, dass alles anders kam. Die Winterspiele konnten nur in einer abgesperrten, isolierten Blase ausgetragen werden. Die Kathedrale lag außerhalb davon, und so verlor Peking das Interesse. Journalistin Böge fand die Kathedrale “wegen Corona und Olympia bis auf Weiteres geschlossen.”  Von den Gläubigen erfuhr sie: “Seit Oktober dürfen in der Kirche keine Gottesdienste mehr abgehalten werden“.   

    Es ist daher heute sehr still um die Kathedrale. Als Korrespondent hatte ich 2016 erstmals vom Wiederaufbau gehört. Befreundete Katholiken schenkten mir einen zu Ostern 2016 offiziell gedruckten, 74 Seiten starken Farbfoto-Band unter dem chinesisch-englischen Titel “Church Album”. Darin sind Werbeplakate aufgenommen, die das Logo der Pekinger Winterspiele 2022 mit der Kathedrale als neuem Wahrzeichen von Chongli zeigen. Für das Vorwort des Bildbandes schreibt der Priester Paul Zhang (张保禄): “Mit den Spielen 2022 wird Xiwanzi zur Plattform der Wiederbegegnung der östlichen und westlichen Kultur.”  随着2022年冬奥会的到来,西湾子将再度成为中西文化交汇的平台. Sein frommer Wunsch sollte sich nicht erfüllen.

    Neues Testament als “Olympia 2008-Ausgabe”

    Schon 2008 gab sich Peking bei den erstmalig an China vergebenen Olympischen Sommerspielen den Anschein, die Religionsfreiheit hochzuhalten. Es beauftragte das Nationalkomitee der protestantischen Staatskirche “Drei-Selbst-Patriotische Bewegung”, eine chinesisch-englische Ausgabe des Neuen Testaments speziell als “Olympia 2008-Ausgabe” zu drucken. Jeder Athlet fand sie in der Schrankschublade seines Zimmers im Olympischen Dorf vor, mit den Adressen, Telefonnummern und Sonntagsgottesdiensten von 13 protestantischen Kirchen in der Hauptstadt. Peking hatte sogar im Olympischen Dorf fünf Andachtsräume für Christen, Buddhisten, Muslime, Juden und Hindus einrichten lassen.

    Mit einer neuen Haltung zur Religion hatte das nichts zu tun. Sofort nach den Spielen ließen die Behörden die Bibeln wieder einziehen und einstampfen. Ein kirchlicher Mitarbeiter ließ mir heimlich ein Exemplar zukommen. Hoffnungsvoll hatte damals der Bischof und Präsident des China Christian Council K.H. Ting (丁 光 訓) in das Neue Testament gepinselt: “Die Bibel vereinigt uns.”  

    2008 wurden zu Olympia in China Bibeln ausgegeben, danach aber vernichtet; dies zeigt das schwierige Verhältnis Chinas zu Religion.
    Widmung für die Olympiabibel 2008 von Bischof K.H. Ting: “Die Bibel vereinigt uns”

    Chinas Furcht, die Kontrolle zu verlieren, hat die kommunistische Führung seit 2008 immer kompromissloser gegen alle nicht staatlich anerkannten Glaubensgruppen, Sekten und Hauskirchen vorgehen lassen. Peking machte nicht einmal Halt vor den gerade mal 200 Mitgliedern einer mosaischen Gemeinde, deren Vorfahren vor tausend Jahren über die Seidenstraße von Indien, Irak oder Persien eingewandert waren. Die jüdischen Weber und Händler ließen sich in der einst Song-zeitlichen Kaiserstadt Kaifeng am Gelben Fluss mit kaiserlichem Privileg nieder. Doch die Volksrepublik China erkannte die jüdische Religion nie als eigenständigen Glauben innerhalb Chinas an.

    Auch Jüd:innen müssen Repessionen fürchten. Chinas Verhältnis zu Religion ist schwierig - wie sich erneut zu Olympia 2022 zeigte.
    Auf dem Dachboden ihrer Wohnung versteckt die Jüdin Guo Yan in Kaifeng Modelle der früheren Synagoge und einer Thorasänfte, die ihr Vater gebaut hat. Guo glaubt, dass ihre Vorfahren vor 1000 Jahren aus Indien nach Kaifeng kamen

    Auslöser für die heute absurde Verfolgung der Nachfahren wurde ein Passahfest, das jüdische Familien aus Kaifeng und umgebenden Dörfer im Frühjahr 2015 in einem Hotel feierten. Die New York Times schrieb einen Bericht darüber, dessen Übersetzung Funktionäre in Peking alarmierte. Dabei lasen sie Harmloses über wieder aufgelebte alte jüdische Traditionen und Bräuche. Auch über Pläne, ein jüdisches Kulturzentrum mit Museum und den Wiederaufbau der 1851 zuletzt zerstörten Synagoge zu fördern. Weil jüdische NGOs aus den USA und Israel mit von der Partie waren und sich unter den Gästen des Festes auch sympathisierende lokale chinesische Funktionäre befanden, setzte Peking das Thema sogar auf die Tagesordnung einer Sitzung des Politbüros unter Leitung Xi Jinpings. Es ging um potenzielle Gefahren, die der Partei vom Wildwuchs der Religionen drohten.

    Solche Ängste führten dazu, dass Sicherheitsbehörden in Kaifeng alle 70 Teilnehmer:innen des Passahfestes verhörten, berichteten mir damals Betroffene. Alle wurden verwarnt, religiöse Feste nur noch privat und Zuhause zu feiern. Zugleich verlangten die Behörden von Kaifeng, alle sichtbaren Zeugnisse jüdischer Kultur und Religion auf den Straßen und in der Stadt verschwinden zu lassen. Ein historischer Brunnen, der einst zur von den Fluten zerstörten Synagoge gehört hatte, wurde zugeschüttet. Zwei noch erhaltene Gedenksteine mit Inschriften zur Entwicklung der jüdischen Gemeinde aus den Jahren 1489 bis 1663 wurden weggeschafft. Selbst eine erst 2008 von der Stadt aufgestellte Gedenktafel wurde entfernt. Sie hatte an die erste, im Jahr 1163 errichtete Synagoge von Kaifeng erinnert.

    Dass eine vor 1000 Jahren nach China eingewanderte, heute so kleine Gemeinde so starke Reaktionen in Peking auslösen kann, gehört zu den Grotesken kommunistischer Politik, so wie auch Pekings Umgang mit der versteckten Kathedrale in Chongli. 

    • Gesellschaft
    • Olympia

    Personalien

    Melinda Chan wird neue Chefin des Casinobetreibers Macau Legend Development. Sie saß bis Ende 2020 als Abgeordnete in der Legislativversammlung von Macau. Ihr Gatte, David Chow, übernimmt die Position des Verwaltungsratsvorsitzenden. Das Ehepaar ist Anteilseigner an dem Unternehmen.

    Beide Ämter bei Macau Legend Development hat zuvor Levo Chan eingenommen, die trotz gleichen Nachnamens nicht mit Melinda Chan verwandt ist. Levo Chan wird beschuldigt, Mitglied einer Triade zu sein, also zur Mafia zu gehören. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie.

    Dessert

    Photo by Xiao Hao/Xinhua

    Ein Gesundheitsmitarbeiter überprüft den Gehörgang einer alten Dame im Dorf Qinglong in der Provinz Guizhou. Der Check-up ist eine von vielen Aktionen anlässlich des nationalen Ohrpflegetags. In Klassenzimmern – oder wie hier an der frischen Luft – soll darüber aufgeklärt werden, wie man sein Gehör schützt. Laut Chinas Behindertenvereinigung haben etwa 20 Millionen Menschen im Land einen Hörschaden.

    • Gesundheit

    China.Table Redaktion

    CHINA.TABLE REDAKTION

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