Table.Briefing: China

Gemeinsamer Wohlstand + Medienzensur

  • Soziale Sprengkraft ist eine hausgemachte Bedrohung
  • Mareike Ohlberg über schrumpfenden Spielraum für Diskurse
  • UN-Kommission verurteilt Hongkongs Sicherheitsgesetz
  • 8870 Tote Arbeiter im ersten Halbjahr 2022
  • Tiktok-Betriebsrat gegen den Willen der Geschäftsführung
  • Prozess gegen Anwalt Chang: “Trauriger Tag für die Menschenrechte”
Liebe Leserin, lieber Leser,

ärgerlich, dass es mit den Träumen manchmal so kompliziert sein muss! Xi Jinpings Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” ist ein schönes Ziel, doch leider funkt die wenig rosarote Realität dazwischen: Geprellte Sparer, magere Wachstumszahlen, erzürnte Immobilienkäufer, enttäuschte Absolventen, die von der Uni direkt in eine Rekord-Arbeitslosigkeit schlittern. Die Probleme türmen sich, analysiert unser Autor Fabian Kretschmer aus Peking. Und das nur wenige Monate vor dem Parteitag, der Xis dritte Amtszeit einleiten soll.

Stichwort dritte Amtszeit: Autoritäre Regierungen nutzen die Medien gerne als unkritische Sprachrohre für ihre Botschaften. Journalisten sind also dazu gezwungen, aufzuschreiben, was man ihnen sagt. Alles abseits dieser Linie fällt der Zensur zum Opfer. Die Sinologin und Bestseller-Autorin (“Die lautlose Eroberung”) Mareike Ohlberg sagt im heutigen Interview, dass die Medienzensur für die Partei jedoch auch ein Problem sein könne. Die Zensur sei mühsam und man widerspreche sich ständig selbst. Deshalb sei Pekings langfristiges Ziel, die eigene globale Diskursmacht auszubauen. Wenn das Ausland chinesischen Erzählungen folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee.

Davon ist die Partei aber noch ein sehr, sehr großes Stück weit entfernt. Denn während sie im eigenen Land, ihre Widersprüche unter den Teppich kehren kann, bekommt sie im demokratischen Ausland die Widersprüche stets vorgehalten. Und die Tendenz, dass chinesische Narrative globale Diskurse dominieren, ist seit einigen Jahren stark rückläufig. Xi Jinping dürfte viele Amtszeiten mehr benötigen, um ein mögliches Ende der Medienzensur in China noch erleben zu können.

Ihr
Marcel Grzanna
Bild von Marcel  Grzanna

Analyse

Xis Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” steht auf dem Prüfstand

Abschlussfeier von Studenten in Wuhan. Rund elf Millionen Absolventen werden in diesem Jahr mit dem Studium fertig. Die Job-Aussichten sind mäßig - Xis Vision vom "gemeinsamen Wohlstand" steht auf dem Prüfstand.
Abschlussfeier von Studenten in Wuhan. Rund elf Millionen Absolventen werden in diesem Jahr mit dem Studium fertig. Die Job-Aussichten sind mäßig.

Was mehreren tausend Kleinsparern in der zentralchinesischen Provinz Henan widerfahren ist, dürfte ihre Weltsicht von Grund auf erschüttert haben. Seit Monaten haben sie keinen Zugriff auf ihre Konten, nachdem diese von vier ländlichen Banken nach einem mutmaßlichen Spekulationsskandal eingefroren wurden (China.Table berichtete).

Bei dem Bankenskandal in Henan mag es sich zwar volkswirtschaftlich gesehen nur um eine vergleichsweise geringe Summe handeln. Dennoch weckt er eine Urangst der Bevölkerung. Seit Beginn der wirtschaftlichen Öffnung des Landes wird die Gesellschaft von einer stillen Übereinkunft zusammengehalten: Die Chinesen geben bereitwillig ihren Anspruch auf politische Mitsprache ab, solange die Parteiführung in Peking für eine stete Verbesserung des materiellen Lebensstandards sorgt. Und Jahrzehnte ging der Plan exzellent auf: Zwischen 1978, dem Beginn der Reformpolitik Deng Xiaopings, und dem Amtsantritt Xi Jinpings im Jahr 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt Chinas um mehr als das 64-fache gestiegen.  

Doch spätestens im Zuge der dogmatischen “Null Covid”-Politik hat sich das Blatt vollkommen gewendet. Das Wirtschaftswachstum ist praktisch zum Erliegen gekommen: Zwischen April und Juni wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich nur noch um 0,4 Prozent. Nimmt man das erste Jahresquartal als Vergleichswert, dann ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sogar um 2,6 Prozent geschrumpft. Die unmittelbaren Auswirkungen der drohenden Rezession zeigen sich immer deutlicher. In der überhitzten Immobilienbranche, einer zentralen Säule der heimischen Volkswirtschaft, droht bereits eine Abwärtsspirale: Aktuell drohen zehntausende Chinesinnen und Chinesen, ihre Hypothekenzahlungen auszusetzen, da ihre Apartmentsiedlungen unfertig in der Landschaft herumstehen (China.Table berichtete).

Die Misere ist hausgemacht

Gleichzeitig befindet sich die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten auf einem Rekordhoch: Fast jeder fünfte Chinese zwischen 16 und 24 Jahren hat derzeit kein Einkommen. Allein dieses Jahr strömen mit knapp elf Millionen Universitätsabsolventen so viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt wie noch nie. Viele von ihnen werden sich trotz guter Qualifikation mit prekären Gelegenheitsjobs abfinden müssen. Laut einer Prognose der US-Bank Merrill Lynch könnte die Jugendarbeitslosigkeit noch in diesem Jahr auf bis zu 23 Prozent ansteigen. Die wirtschaftliche Misere ist dabei zu weiten Teilen hausgemacht. Pekings exzessive Regulierungswelle gegen die Tech-Branche, die immerhin die international erfolgreichsten Konzerne des Landes hervorgebracht hat, sorgte im letzten Jahr für bisher nie dagewesene Massenentlassungen.

Ohne Frage steht Xi Jinping – kurz vor Ende seiner zweiten Amtszeit – vor der bisher größten Herausforderung in seiner politischen Laufbahn. Schließlich ist der 69-Jährige vor allem mit der Vision angetreten, die chinesische Gesellschaft fairer und gerechter zu gestalten. “Gemeinsamer Wohlstand” lautet der propagierte Paradigmenwechsel, den Xi in praktisch jeder seiner Reden umreißt. Das Konzept ist auch eine Reaktion auf die Goldgräberstimmung der 2000er-Jahre, in der Chinas Bruttoinlandsprodukt zwar im zweistelligen Prozentbereich wuchs, doch gleichzeitig auch Korruption, exzessiver Reichtum und radikale Ungleichheit wucherten. 

Doch bislang ist Xi Jinpings Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” nichts weiter als eine vage Formulierung. Die Maßnahmen, die Chinas Staatschef bislang angekündigt hat, wirken eher populistisch denn nachhaltig: So wurden Unternehmen dazu verdonnert, mehr überschüssige Gewinne in Form von philanthropischen Spenden an die Allgemeinheit zurückzugeben; und Banken sollen die “exzessiven” Gehälter ihrer Vorstände drosseln (China.Table berichtete).  

Der “gemeinsame Wohlstand” bleibt ein vages Ziel

Wie weit die Volksrepublik vom “gemeinsamen Wohlstand” entfernt ist, haben zuletzt die aktuellen Daten des nationalen Statistikamts ergeben. Demnach müssen von den 1,4 Milliarden Chinesen mehr als 960 Millionen Menschen mit einem monatlichen Einkommen von unter 2.000 Renminbi auskommen, umgerechnet sind das weniger als 290 Euro. Der schwache Einkommensanteil der Bevölkerung am Bruttoinlandsprodukt legt auch die ökonomische Achillesferse der chinesischen Wirtschaft offen: der schwächelnde Binnenkonsum.

Dementsprechend hoch ist die Gefahr, dass China in der sogenannten “middle income trap” gefangen bleiben könnte, aus der es bislang nur wenige ehemalige Entwicklungsländer – allen voran Südkorea, Taiwan und Singapur – heraus geschafft haben. Das rapide Wachstum der Volksrepublik China beruhte nicht zuletzt auf günstigen Arbeitskräften, gepaart mit einem Staat, der seine reichhaltigen Ersparnisse massiv in Infrastruktur, Technologie und Produktionskapazitäten investierte.

Doch jenes Wirtschaftsmodell gerät schon bald an seine Grenzen: Um nachhaltig zu wachsen, müsste das Land seine Einkommensverteilung neu justieren und dadurch den Binnenkonsum ankurbeln. Die notwendigen Reformen würden jedoch einen schmerzhaften Übergangsprozess auslösen, vor dem sich die um soziale Stabilität besorgte Regierung wohl zu Recht sorgt.  

Doch das Zeitfenster für China droht sich langsam zu schließen: Der demografische Wandel schreitet rasant voran, die Geburtenrate befindet sich gleichzeitig auf einem Rekordtief. Das Abflachen der jährlichen Wachstumsraten setzt dementsprechend derzeit viel zu früh ein: Trotz des beachtlichen Aufstiegs der Volksrepublik China hat sie nämlich gemessen am BIP pro Kopf nur ein Drittel des Niveaus von Südkorea und ein Achtel des Niveaus der Schweiz erreicht. Fabian Kretschmer

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“Auch für die Partei ist die Medienzensur ein Problem”

Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums.
Sinologin Mareike Ohlberg

Frau Ohlberg, die pro-russische Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hat wieder mal gezeigt, wie einseitig chinesische Staatsmedien ihr Narrativ verbreiten. Wir im Westen glauben gerne, dass die gebildeten Chinesen wissen, dass sie da Propaganda serviert bekommen.

Es ist eine Sache, zu wissen, dass Nachrichten gefiltert werden und man Propaganda gefüttert bekommt, und eine andere, nicht trotzdem dem Narrativ einen gewissen Glauben zu schenken. Natürlich wissen viele Chinesen, wie die eigenen Medien gemacht werden.  

Fühlen sie sich nicht bevormundet? 

Es gibt die einen, die sagen, “ja, das ist nervig”, aber sie nehmen es hin und werden dann doch auf die eine oder andere Art davon beeinflusst. Andere schenken anderen Quellen mehr Glauben, seien es ausländische Medien oder “alternative” chinesische Medien. Es gibt aber auch Chinesen, die die Medienzensur verteidigen. Das Argument ist mir das eine oder andere Mal an chinesischen Unis begegnet. Dort argumentieren eher regimekonforme Akademiker, Zensur sei notwendig für die soziale Ordnung und das Gemeinwohl. Das elitäre Denken einiger tendiert manchmal sogar in die Richtung, zu behaupten: Ihre Mitbürger in China seien unfähig oder nicht gebildet genug, um verantwortungsvoll mit der Wahrheit oder dem vollen Spektrum an Informationen umzugehen – oder auch eigene Parteien demokratisch zu wählen.  

Was lesen solche gebildete Chinesen denn, um an breit gefächerte Informationen über Politik aus dem Ausland zu kommen? 

Das ist natürlich eine große Gruppe an Menschen und dementsprechend gibt es Unterschiede, wie sich Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen informieren. Einige haben durchaus Zugang zu Nachrichten aus dem Ausland, sei es über einen VPN-Kanal oder weil sie im Ausland leben. Diese werden dann gegebenenfalls parallel zu offiziellen chinesischen Medien sowie häufig auch nicht-offiziellen chinesischen Medien mit Sitz im Ausland gelesen. Ein Phänomen, das chinesische Informationskreise jedoch sehr stark prägt, sind WeChat-Informationsblasen. Über WeChat bleibt man mit Freunden und Bekannten im Kontakt, ähnlich wie über WhatsApp, aber es ist auch eine Nachrichtenquelle beziehungsweise die Hauptnachrichtenquelle für viele Menschen, inklusive Chines:innen im Ausland. Welche Nachrichten man über WeChat konsumieren kann, unterliegt wiederum in der Regel Zensurvorgaben und Filtern der chinesischen Regierung. Die Administratoren müssen heute ganz genau Rechenschaft darüber ablegen, was in ihren Gruppen passiert. Vor ein paar Jahren gab es noch etwas mehr Freiräume.  

Welchen Spielraum haben chinesische Medien, um vom offiziellen Partei-Narrativ abzuweichen? 

Es gibt Medien, die immer mal wieder Freiräume finden, um etwas unabhängiger zu berichten. Man sah das zu Beginn der Pandemie, als Caixin recht frei und engagiert guten, investigativen Journalismus und eine klasse Berichterstattung vor Ort betrieben hat. Es gibt dieses Potenzial weiterhin, es kann jedoch häufig nur begrenzt genutzt werden. Je nach Medienkontrolle tun sich Fenster auf, die sich aber leider immer sehr schnell wieder schließen.  

Warum finanziert der Staat auf der einen Seite diesen riesigen Zensurapparat und geht auf der anderen Seite nicht entschiedener gegen die Verwendung von VPN-Kanälen vor, mit denen man doch recht unkompliziert ausländische Nachrichten lesen kann? 

Das hat sicher mit den Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland zu tun. Viele ausländische Unternehmen nutzen VPNs und wollen auch nicht unbedingt auf einen staatlich zur Verfügung gestellten Kanal zurückgreifen. Wenn man VPN kategorisch verbieten beziehungsweise blockieren würde, hätte das auch Auswirkungen auf die Auslands- und Wirtschaftsbeziehungen.

Gleichzeitig ist es der Partei gut gelungen, die Bevölkerung ohne Pauschalverbot davon abzuhalten, VPNs zu benutzen. Dabei setzt man zum Beispiel auf Abschreckung: Immer wieder werden einzelne Menschen verhaftet und verurteilt, meistens solche, die VPNs zur Verfügung stellen beziehungsweise verkaufen. Viele Chinesen denken, VPNs sind illegal, was so nicht richtig ist. Aber was erlaubt ist und was nicht, wird bewusst vage kommuniziert.

Es ist die alte Geschichte: Man weiß nicht, woran man ist. Und wenn der öffentliche Sicherheitsapparat einem Schwierigkeiten bereiten will, findet er sicher auch irgendwo einen Grund. Deshalb kann ich schon verstehen, wenn manche lieber vorsichtig sind. Vor allem aber glaube ich nicht, dass die Informationsbeschaffung über VPN-Kanäle eine Auswirkung auf die breite Masse hat, solange die Möglichkeiten, diese Informationen auch im öffentlichen Raum in China weiter diskutieren zu können, so stark eingeschränkt sind.  

Darf die Parteielite ganz offiziell VPN-Kanäle benutzen? 

Bestimmte Regierungsabteilungen beziehungsweise Unterabteilungen, denen vertraut wird und die für ihren Job Zugang zum ungefilterten Internets benötigen, haben auch ohne VPN Zugang zum westlichen Internet. Es gibt zum Beispiel Leute im Staatsapparat, deren Aufgabe es ist, die Medien im Ausland gezielt zu beobachten und zusammenzufassen, was dort diskutiert wird. Während des Ausbruchs der sogenannten Jasmin-Proteste 2011 hatte ich selbst ein Youtube-Video ins Netz gestellt. Die Hälfte der Klicks kam aus China. Andere haben ähnliches beobachtet.

Das deutet darauf hin, dass bestimmte Regierungsstellen über direkte Leitungen Zugriff haben. Hätten sie einen VPN benutzt, wäre als Ursprungsland des Clicks nicht China aufgetaucht, sondern der Standort des jeweiligen VPN-Servers, der genutzt wird, um die Zensur zu umgehen. Hinzu kommen Medienagenturen wie Xinhua, die Pressespiegel für die politische Elite erstellen. Je höher die Kader in der Rangordnung sind, umso größer ist meistens die Schrift, weil die dann meistens schon recht alt sind (lacht).   

Medien wie New York Times oder Spiegel übersetzen Enthüllungsgeschichten aus China gerne ins Chinesische. Hat das einen Effekt in China?  

Grundsätzlich kommt alles irgendwo an. Ich glaube aber nicht, dass solche Nachrichten eine kritische Masse erreichen. Diese wird in der Regel erst dann erreicht, wenn Menschen sich organisieren, gegenseitig austauschen, einen gemeinsamen öffentlichen Raum haben. Aber im Moment bewegen wir uns in die Gegenrichtung: Der Zugang wird immer schwieriger und sämtliche Kanäle, über die man sich austauschen kann, werden immer stärker kontrolliert.

In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” schreiben Sie, dass Peking die Medienzensur nicht ewig beibehalten will.

Für die Partei ist die Medienzensur auch ein Problem: Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst. Als langfristiges Ziel will Peking seine globale Diskursmacht ausbauen. Wenn das Ausland Pekings Narrativ folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee. Das ist jedoch ein bisschen wie mit der Auflösung des Staates bei Marx, also ein Ziel in sehr, sehr ferner Zukunft. Derzeit wird die Zensur weiterhin ausgebaut und das wird auch noch lange der Fall bleiben.

Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums. Ihre Schwerpunkte liegen in der chinesischen Außenpolitik, der Medien- und Digitalpolitik sowie den Entwicklungen in Hongkong und Taiwan.

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  • Peking
  • Zivilgesellschaft

News

Scharfe Kritik an Hongkongs Sicherheitsgesetz

Die Expertenkommission CCPR des UN-Menschenrechtsrates hat die Regierung in Hongkong zum Widerruf des Nationalen Sicherheitsgesetzes aufgerufen. Die Kommission drückte in ihrem jüngsten Bericht, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, große Sorge über die willkürliche Anwendung des 2020 eingeführten neuen Rechtsrahmens aus. Das Nationale Sicherheitsgesetz genieße Vorrang vor anderen lokalen Gesetzen und setze sich folglich über die durch internationale Konventionen geschützten Grundrechte und -freiheiten der Bürger hinweg, heißt es in dem Papier.

Während die Kommission der Stadt auch Fortschritte im Bemühen um weniger Diskriminierung von Migranten, Frauen oder der LGBT-Gemeinde bescheinigt, kritisiert sie den Mangel an Rechtssicherheit, den das Sicherheitsgesetz hinterlässt. In zwölf Fällen seien 44 Anklagepunkte vorgekommen, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Insgesamt wurden bislang 200 Personen wegen vermeintlicher Verstöße gegen das Gesetz festgenommen worden, darunter zwölf Minderjährige.

Die Kommission besorgt zudem die Möglichkeit zur Übertragung von Fällen nationaler Sicherheit an die Behörden der Volksrepublik China. Dadurch würde Hongkongs Verpflichtung durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ausgehebelt. ICCPR ist in Hongkongs Basic Law verankert. Die Volksrepublik dagegen hat das Abkommen in den 1990er-Jahren zwar unterschrieben, aber nie ratifiziert.

Auch der Mangel an Rechtswegen für Angeklagte sei bedrohlich, und die Einflussmöglichkeiten durch den Regierungschef der Stadt sowie Polizei und Ermittlungsbehörden auf die Anwendung des Gesetzes nicht rechtmäßig. Zudem sei unklar, inwieweit die extraterritoriale Anwendung des Sicherheitsgesetzes definiert ist.

Die Kommission kritisiert die Schließung einer “übermäßigen Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Gewerkschaften und Studentenvereinigungen” seit Inkrafttreten des NSL. Der Ausschuss forderte die Behörden der Stadt auf, Einschränkung der Vereinigungsfreiheit aufzuheben und zu garantieren, dass niemand, der an der UN-Überprüfung teilgenommen hat, auf Basis des Gesetzes strafrechtlich verfolgt wird.

In seinem Bericht fordert das Gremium Hongkong auch dazu auf, kritische und abweichende Meinungen zuzulassen, statt sich auf entsprechende Klauseln im Sicherheitsgesetz zu beziehen, die die Zersetzung des Staates als Verstoß definieren. Die Stadt solle sicherstellen, dass alle Fälle überprüft werden und niemand strafrechtlich verfolgt werde, wenn er das Recht auf freie Meinungsäußerung “legitim ausübe”. grz

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  • Nationales Sicherheitsgesetz
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Arbeitssicherheit bleibt ernsthaftes Problem

8.870 Menschen sind nach offiziellen Angaben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wegen Sicherheitsmängeln am Arbeitsplatz in China tödlich verunglückt. Insgesamt seien dem Amt für Notfall-Management 11.000 Zwischenfälle gemeldet worden, heißt es in der am Montag veröffentlichten Statistik. Diese Zahl sei zwar geringer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Dennoch sei in manchen Provinzen die Zahl der Unglücke rapide gestiegen.

Die Arbeitssicherheit bleibt ein ernsthaftes Problem“, sagte ein Sprecher der Behörde. Riskant sind häufig Arbeiten in der BergbauIndustrie oder im Baugewerbe. Zeitdruck und Sparmaßnahmen beeinträchtigen dort oftmals die Umsetzung der nötigen Sicherheitsvorkehrungen. Besonders bei illegalen Projekten wird die Sicherheit oft massiv vernachlässigt.

Zugenommen hat die Zahl an “relativ große Unfällen” zwischen drei und neun Todesopfern im Westen und Nordwesten des Landes. Die Provinzen Xinjiang, Tibet, Qinghai, Gansu und Chongqing haben demnach eine deutliche Zunahme an Unfällen dieser Kategorie registriert, aber auch Liaoning im Nordosten. Hintergründe für die steigenden Zahlen in den besagten Provinzen und Regionen gab das Amt aber nicht bekannt.

China hat vor 20 Jahren die Gesetzgebung zur Erhöhung der Arbeitssicherheit geschaffen. Seitdem wurde das Gesetz mehrfach verschärft und die Strafen für die Verantwortlichen deutlich erhöht. grz

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  • Bergbau
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Berlin-Büro von Tiktok darf Betriebsrat wählen

Die Mitarbeiter des Berliner Büros von Tiktok dürfen trotz Gegenwinds aus der Führungsetage einen Betriebsrat gründen. Das berichtet Nikkei Asia unter Berufung auf die Gewerkschaft Ver.di, die das Vorhaben unterstützt. Demnach trafen sich 102 der rund 200 Berliner Beschäftigten Mitte Juli zur Ernennung eines Wahlvorstands in der Ver.di-Bundeszentrale. Die eigentliche Wahl findet voraussichtlich im August statt. Eine zuvor digital durchgeführte Wahlvorstandsgründung war am rechtlichen Widerstand des Arbeitgebers gescheitert und verzögerte sich um ein Jahr.

Die Mitarbeiter erhoffen sich durch die Gründung eines Betriebsrates ein größeres Mitspracherecht, etwa bei Fragen zur Vergütung, Leistungsbewertung und zum Datenschutz. Der Social-Media-Riese, dessen Mutterkonzern Bytedance in Peking sitzt, steht wegen schlechter Bezahlung und stark belastender Arbeitsbedingungen weltweit in der Kritik. So wird dem Unternehmen unter anderem vorgeworfen, das berüchtigte chinesische “996”-Arbeitsmodell – bei dem Angestellte sechs Tage die Woche von 9:00 bis 21:00 Uhr arbeiten (China.Table berichtete) – in seine ausländischen Niederlassungen exportieren zu wollen.

Der Kurzvideo-Anbieter hat weltweit mehr als 800 Millionen Nutzer, davon 15 Millionen allein in Deutschland. Die Berliner Tiktok-Mitarbeiter sind vor allem mit der Moderation von Inhalten beschäftigt. In einer 8-Stunden-Schicht müssten sie etwa 1.000 Videos sichten und bearbeiten, schreibt Ver.di. Dieses Pensum sei jedoch nur möglich, indem man die Videos in vierfacher Geschwindigkeit abspiele. Dabei seien die Inhalte oft verstörend, von Misshandlungen über Tierquälerei bis hin zu Enthauptungen. Eine psychologische Betreuung sei nur schwer zu bekommen. “Wir müssen mehr Inhalte in kürzerer Zeit unter mehr Vorgaben sichten und bewerten”, erklärt Sean Krusch, einer der drei neu gewählten Wahlvorstände, gegenüber Ver.di. “Die Mitarbeitenden brauchen dringend ein Sprachrohr.” fpe

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Heads

Chang Weiping – Anwalt der Schwachen steht vor Gericht

Kämpfte für Benachteiligte, wurde gefoltert, muss nun wahrscheinlich ins Gefängnis: Rechtsanwalt Chang Weiping.
Kämpfte für Benachteiligte, wurde gefoltert, muss nun wahrscheinlich ins Gefängnis: Rechtsanwalt Chang Weiping.

Chang Weiping 常玮平 hat sich gegen die Diskriminierung von HIV-Infizierten und sexuellen Minderheiten eingesetzt. Die Staatsmacht reagierte mit Arbeitsverbot, Folter – und einem Scheinprozess hinter verschlossenen Türen. In seinem letzten Video kurz vor seiner Verhaftung schien Chang bereits sein Schicksal zu erahnen. “Sollte ich meine Freiheit erneut verlieren, dann möchte ich zuallererst klarstellen, dass ich weder Suizid begehen, noch mir selber körperlichen Schaden antun werde”, sagt der Chinese in nüchternem Tonfall in seine Smartphone-Kamera. Keine Woche später, am 22. Oktober 2020, wird Chang von der Sicherheitspolizei abgeführt.

Am Dienstag hat der Scheinprozess gegen den ehemaligen Anwalt aus der nordwestlichen Stadt Baoji begonnen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Benachteiligten innerhalb der chinesischen Gesellschaft zu verteidigen. Chang hat sich vor allem um diejenigen gekümmert, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesundheitlichen Zustands diskriminiert werden. Dazu gehörten Anhänger der LGBT-Gemeinschaft oder HIV-Infizierte.

Angeklagt ist er nun wegen “Untergrabung der Staatsmacht” 颠覆国家政权. Details sind nicht bekannt, weil der Prozess hinter verschlossenen Türen stattfindet: vollkommen intransparent und ohne unabhängigen Rechtsbeistand oder mediale Beobachter. Eine Verurteilung gilt dennoch als reine Formsache, denn in China enden 99 Prozent der Prozesse mit einem Schuldspruch.

“Es ist ein trauriger Tag für die Menschenrechte in China”, schreibt die Deutsche Botschaft in Peking auf ihrem Weibo-Account: “Chang Weipings Mut und Engagement sollten gepriesen, und nicht bestraft werden. Wir fordern die chinesischen Behörden auf, ihn freizulassen”. Auch wenn der Beitrag von den Zensoren immerhin nicht gelöscht, ja sogar von etwa dreihundert “stillen” Unterstützern mit einem “Like” versehen wurde, wettern die nationalistischen Internetnutzer in der Kommentarspalte mit unfreundlichen Nachrichten. Da werden etwa die Deutschen als “alte Neo-Nazis” diffamiert und die LGBT-Gemeinschaft als “Sekte” bezeichnet.

Das Schicksal von Chang Weiping war bereits seit Jahren absehbar: Wegen seines zivilgesellschaftlichen Engagements geriet er im immer autoritäreren China unter Xi Jinping unweigerlich ins Visier der Behörden. Bereits im Oktober 2018 entzog ihm das lokale Justizbüro erstmals die gesetzliche Zulassung. Aufgrund des politischen Drucks konnte Chang Weiping auch nicht bei anderen Kanzleien anheuern, er wurde quasi in die Arbeitslosigkeit gezwungen.

Auch nach Folter ließ Chang Weiping nicht locker

Vor knapp drei Jahren hatte sich Chang schließlich im südchinesischen Xiamen mit anderen Aktivisten getroffen, um den erodierenden Zustand der Zivilgesellschaft im Land zu debattieren. Wie andere Teilnehmer wurde auch er daraufhin von den Sicherheitspolizisten zehn Tage lang in einem sogenannten “schwarzen Gefängnis” festgehalten. Meist sind das unscheinbare Privatwohnungen, die von den Behörden als Verhörzimmer verwendet werden.

Dabei hätten es die Autoritäten wohl belassen. Doch Chang Weiping lud am 16. Oktober ein achteinhalbminütiges Video auf Youtube hoch, in dem er nicht nur seine Unschuld beteuerte, sondern auch von der erlebten Folter während der illegalen Untersuchungshaft berichtete. “Mein rechter Zeigefinger und Ringfinger sind nach wie vor taub und ohne Gefühl”, sagt der Ex-Menschenrechtsanwalt in seine Smartphone-Kamera: “Sie haben alles untersucht, aber keine Beweise gefunden”.

Viele ehemalige Insassen der “schwarzen Gefängnisse” berichten von Schlafmangel, ermüdenden Verhören und körperlicher Gewalt. Als besonders unangenehm wird die Praxis des sogenannten “Tigerstuhls” beschrieben: Dabei wird das Opfer an sämtlichen Gliedmaßen auf einen Stahlstuhl gefesselt und kann sich über Stunden hinweg nicht rühren. Es ist allerdings eine “rote Linie”, niemals über solche dunklen Machenschaften zu berichten. Chang Weiping musste für sein Video schließlich mit seiner Freiheit bezahlen – die Behörden nahmen ihn wenige Tage später fest.

Chang Weiping: “nur kleine Schritte”

Changs Ehefrau ist ein Tag vor Prozessbeginn mit dem gemeinsamen Sohn Richtung Gerichtsgebäude aufgebrochen, doch wurde noch auf der Autobahn von Polizisten in über einem dutzend Polizeifahrzeugen festgehalten. “Ich möchte doch nur den Prozess meines Mannes beobachten und herausfinden, warum er wegen Untergrabung der Staatsmacht beschuldigt wird. Wo ist das Problem?”, schreibt sie verzweifelt auf Twitter.

Chang Weiping selbst sagte kurz vor seiner Verhaftung, dass er der Bezeichnung “Menschenrechtsanwalt” aus seiner eigenen Sicht nicht gerecht wird: “Alles, was ich tat, waren nur kleine Schritte. Aber ich bin sehr stolz sagen zu können, dass ich dazu beitragen habe, die Gesellschaft zu verbessern und meiner Verpflichtung als Bürger gegenüber meinen Landsleuten und der Gesellschaft nachgekommen bin.” Fabian Kretschmer

  • KP Chinas
  • Menschenrechte
  • Xi Jinping
  • Zivilgesellschaft

Dessert

Der kritische Künstler Badiucao stellt seine Werke derzeit in Prag aus. Es gibt Perfomances, Grafiken, Gemälde, Videos und Multimedia-Installationen. Zu den Themen gehören Menschenrechte und Zensur in China, die Unterdrückung der Proteste in Hongkong und die Situation der Uiguren, aber auch die Lage in Myanmar. Badiucao lebt in Australien.

China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Soziale Sprengkraft ist eine hausgemachte Bedrohung
    • Mareike Ohlberg über schrumpfenden Spielraum für Diskurse
    • UN-Kommission verurteilt Hongkongs Sicherheitsgesetz
    • 8870 Tote Arbeiter im ersten Halbjahr 2022
    • Tiktok-Betriebsrat gegen den Willen der Geschäftsführung
    • Prozess gegen Anwalt Chang: “Trauriger Tag für die Menschenrechte”
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    ärgerlich, dass es mit den Träumen manchmal so kompliziert sein muss! Xi Jinpings Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” ist ein schönes Ziel, doch leider funkt die wenig rosarote Realität dazwischen: Geprellte Sparer, magere Wachstumszahlen, erzürnte Immobilienkäufer, enttäuschte Absolventen, die von der Uni direkt in eine Rekord-Arbeitslosigkeit schlittern. Die Probleme türmen sich, analysiert unser Autor Fabian Kretschmer aus Peking. Und das nur wenige Monate vor dem Parteitag, der Xis dritte Amtszeit einleiten soll.

    Stichwort dritte Amtszeit: Autoritäre Regierungen nutzen die Medien gerne als unkritische Sprachrohre für ihre Botschaften. Journalisten sind also dazu gezwungen, aufzuschreiben, was man ihnen sagt. Alles abseits dieser Linie fällt der Zensur zum Opfer. Die Sinologin und Bestseller-Autorin (“Die lautlose Eroberung”) Mareike Ohlberg sagt im heutigen Interview, dass die Medienzensur für die Partei jedoch auch ein Problem sein könne. Die Zensur sei mühsam und man widerspreche sich ständig selbst. Deshalb sei Pekings langfristiges Ziel, die eigene globale Diskursmacht auszubauen. Wenn das Ausland chinesischen Erzählungen folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee.

    Davon ist die Partei aber noch ein sehr, sehr großes Stück weit entfernt. Denn während sie im eigenen Land, ihre Widersprüche unter den Teppich kehren kann, bekommt sie im demokratischen Ausland die Widersprüche stets vorgehalten. Und die Tendenz, dass chinesische Narrative globale Diskurse dominieren, ist seit einigen Jahren stark rückläufig. Xi Jinping dürfte viele Amtszeiten mehr benötigen, um ein mögliches Ende der Medienzensur in China noch erleben zu können.

    Ihr
    Marcel Grzanna
    Bild von Marcel  Grzanna

    Analyse

    Xis Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” steht auf dem Prüfstand

    Abschlussfeier von Studenten in Wuhan. Rund elf Millionen Absolventen werden in diesem Jahr mit dem Studium fertig. Die Job-Aussichten sind mäßig - Xis Vision vom "gemeinsamen Wohlstand" steht auf dem Prüfstand.
    Abschlussfeier von Studenten in Wuhan. Rund elf Millionen Absolventen werden in diesem Jahr mit dem Studium fertig. Die Job-Aussichten sind mäßig.

    Was mehreren tausend Kleinsparern in der zentralchinesischen Provinz Henan widerfahren ist, dürfte ihre Weltsicht von Grund auf erschüttert haben. Seit Monaten haben sie keinen Zugriff auf ihre Konten, nachdem diese von vier ländlichen Banken nach einem mutmaßlichen Spekulationsskandal eingefroren wurden (China.Table berichtete).

    Bei dem Bankenskandal in Henan mag es sich zwar volkswirtschaftlich gesehen nur um eine vergleichsweise geringe Summe handeln. Dennoch weckt er eine Urangst der Bevölkerung. Seit Beginn der wirtschaftlichen Öffnung des Landes wird die Gesellschaft von einer stillen Übereinkunft zusammengehalten: Die Chinesen geben bereitwillig ihren Anspruch auf politische Mitsprache ab, solange die Parteiführung in Peking für eine stete Verbesserung des materiellen Lebensstandards sorgt. Und Jahrzehnte ging der Plan exzellent auf: Zwischen 1978, dem Beginn der Reformpolitik Deng Xiaopings, und dem Amtsantritt Xi Jinpings im Jahr 2013 ist das Bruttoinlandsprodukt Chinas um mehr als das 64-fache gestiegen.  

    Doch spätestens im Zuge der dogmatischen “Null Covid”-Politik hat sich das Blatt vollkommen gewendet. Das Wirtschaftswachstum ist praktisch zum Erliegen gekommen: Zwischen April und Juni wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Jahresvergleich nur noch um 0,4 Prozent. Nimmt man das erste Jahresquartal als Vergleichswert, dann ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt sogar um 2,6 Prozent geschrumpft. Die unmittelbaren Auswirkungen der drohenden Rezession zeigen sich immer deutlicher. In der überhitzten Immobilienbranche, einer zentralen Säule der heimischen Volkswirtschaft, droht bereits eine Abwärtsspirale: Aktuell drohen zehntausende Chinesinnen und Chinesen, ihre Hypothekenzahlungen auszusetzen, da ihre Apartmentsiedlungen unfertig in der Landschaft herumstehen (China.Table berichtete).

    Die Misere ist hausgemacht

    Gleichzeitig befindet sich die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten auf einem Rekordhoch: Fast jeder fünfte Chinese zwischen 16 und 24 Jahren hat derzeit kein Einkommen. Allein dieses Jahr strömen mit knapp elf Millionen Universitätsabsolventen so viele junge Menschen auf den Arbeitsmarkt wie noch nie. Viele von ihnen werden sich trotz guter Qualifikation mit prekären Gelegenheitsjobs abfinden müssen. Laut einer Prognose der US-Bank Merrill Lynch könnte die Jugendarbeitslosigkeit noch in diesem Jahr auf bis zu 23 Prozent ansteigen. Die wirtschaftliche Misere ist dabei zu weiten Teilen hausgemacht. Pekings exzessive Regulierungswelle gegen die Tech-Branche, die immerhin die international erfolgreichsten Konzerne des Landes hervorgebracht hat, sorgte im letzten Jahr für bisher nie dagewesene Massenentlassungen.

    Ohne Frage steht Xi Jinping – kurz vor Ende seiner zweiten Amtszeit – vor der bisher größten Herausforderung in seiner politischen Laufbahn. Schließlich ist der 69-Jährige vor allem mit der Vision angetreten, die chinesische Gesellschaft fairer und gerechter zu gestalten. “Gemeinsamer Wohlstand” lautet der propagierte Paradigmenwechsel, den Xi in praktisch jeder seiner Reden umreißt. Das Konzept ist auch eine Reaktion auf die Goldgräberstimmung der 2000er-Jahre, in der Chinas Bruttoinlandsprodukt zwar im zweistelligen Prozentbereich wuchs, doch gleichzeitig auch Korruption, exzessiver Reichtum und radikale Ungleichheit wucherten. 

    Doch bislang ist Xi Jinpings Vision vom “gemeinsamen Wohlstand” nichts weiter als eine vage Formulierung. Die Maßnahmen, die Chinas Staatschef bislang angekündigt hat, wirken eher populistisch denn nachhaltig: So wurden Unternehmen dazu verdonnert, mehr überschüssige Gewinne in Form von philanthropischen Spenden an die Allgemeinheit zurückzugeben; und Banken sollen die “exzessiven” Gehälter ihrer Vorstände drosseln (China.Table berichtete).  

    Der “gemeinsame Wohlstand” bleibt ein vages Ziel

    Wie weit die Volksrepublik vom “gemeinsamen Wohlstand” entfernt ist, haben zuletzt die aktuellen Daten des nationalen Statistikamts ergeben. Demnach müssen von den 1,4 Milliarden Chinesen mehr als 960 Millionen Menschen mit einem monatlichen Einkommen von unter 2.000 Renminbi auskommen, umgerechnet sind das weniger als 290 Euro. Der schwache Einkommensanteil der Bevölkerung am Bruttoinlandsprodukt legt auch die ökonomische Achillesferse der chinesischen Wirtschaft offen: der schwächelnde Binnenkonsum.

    Dementsprechend hoch ist die Gefahr, dass China in der sogenannten “middle income trap” gefangen bleiben könnte, aus der es bislang nur wenige ehemalige Entwicklungsländer – allen voran Südkorea, Taiwan und Singapur – heraus geschafft haben. Das rapide Wachstum der Volksrepublik China beruhte nicht zuletzt auf günstigen Arbeitskräften, gepaart mit einem Staat, der seine reichhaltigen Ersparnisse massiv in Infrastruktur, Technologie und Produktionskapazitäten investierte.

    Doch jenes Wirtschaftsmodell gerät schon bald an seine Grenzen: Um nachhaltig zu wachsen, müsste das Land seine Einkommensverteilung neu justieren und dadurch den Binnenkonsum ankurbeln. Die notwendigen Reformen würden jedoch einen schmerzhaften Übergangsprozess auslösen, vor dem sich die um soziale Stabilität besorgte Regierung wohl zu Recht sorgt.  

    Doch das Zeitfenster für China droht sich langsam zu schließen: Der demografische Wandel schreitet rasant voran, die Geburtenrate befindet sich gleichzeitig auf einem Rekordtief. Das Abflachen der jährlichen Wachstumsraten setzt dementsprechend derzeit viel zu früh ein: Trotz des beachtlichen Aufstiegs der Volksrepublik China hat sie nämlich gemessen am BIP pro Kopf nur ein Drittel des Niveaus von Südkorea und ein Achtel des Niveaus der Schweiz erreicht. Fabian Kretschmer

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    “Auch für die Partei ist die Medienzensur ein Problem”

    Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums.
    Sinologin Mareike Ohlberg

    Frau Ohlberg, die pro-russische Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hat wieder mal gezeigt, wie einseitig chinesische Staatsmedien ihr Narrativ verbreiten. Wir im Westen glauben gerne, dass die gebildeten Chinesen wissen, dass sie da Propaganda serviert bekommen.

    Es ist eine Sache, zu wissen, dass Nachrichten gefiltert werden und man Propaganda gefüttert bekommt, und eine andere, nicht trotzdem dem Narrativ einen gewissen Glauben zu schenken. Natürlich wissen viele Chinesen, wie die eigenen Medien gemacht werden.  

    Fühlen sie sich nicht bevormundet? 

    Es gibt die einen, die sagen, “ja, das ist nervig”, aber sie nehmen es hin und werden dann doch auf die eine oder andere Art davon beeinflusst. Andere schenken anderen Quellen mehr Glauben, seien es ausländische Medien oder “alternative” chinesische Medien. Es gibt aber auch Chinesen, die die Medienzensur verteidigen. Das Argument ist mir das eine oder andere Mal an chinesischen Unis begegnet. Dort argumentieren eher regimekonforme Akademiker, Zensur sei notwendig für die soziale Ordnung und das Gemeinwohl. Das elitäre Denken einiger tendiert manchmal sogar in die Richtung, zu behaupten: Ihre Mitbürger in China seien unfähig oder nicht gebildet genug, um verantwortungsvoll mit der Wahrheit oder dem vollen Spektrum an Informationen umzugehen – oder auch eigene Parteien demokratisch zu wählen.  

    Was lesen solche gebildete Chinesen denn, um an breit gefächerte Informationen über Politik aus dem Ausland zu kommen? 

    Das ist natürlich eine große Gruppe an Menschen und dementsprechend gibt es Unterschiede, wie sich Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen informieren. Einige haben durchaus Zugang zu Nachrichten aus dem Ausland, sei es über einen VPN-Kanal oder weil sie im Ausland leben. Diese werden dann gegebenenfalls parallel zu offiziellen chinesischen Medien sowie häufig auch nicht-offiziellen chinesischen Medien mit Sitz im Ausland gelesen. Ein Phänomen, das chinesische Informationskreise jedoch sehr stark prägt, sind WeChat-Informationsblasen. Über WeChat bleibt man mit Freunden und Bekannten im Kontakt, ähnlich wie über WhatsApp, aber es ist auch eine Nachrichtenquelle beziehungsweise die Hauptnachrichtenquelle für viele Menschen, inklusive Chines:innen im Ausland. Welche Nachrichten man über WeChat konsumieren kann, unterliegt wiederum in der Regel Zensurvorgaben und Filtern der chinesischen Regierung. Die Administratoren müssen heute ganz genau Rechenschaft darüber ablegen, was in ihren Gruppen passiert. Vor ein paar Jahren gab es noch etwas mehr Freiräume.  

    Welchen Spielraum haben chinesische Medien, um vom offiziellen Partei-Narrativ abzuweichen? 

    Es gibt Medien, die immer mal wieder Freiräume finden, um etwas unabhängiger zu berichten. Man sah das zu Beginn der Pandemie, als Caixin recht frei und engagiert guten, investigativen Journalismus und eine klasse Berichterstattung vor Ort betrieben hat. Es gibt dieses Potenzial weiterhin, es kann jedoch häufig nur begrenzt genutzt werden. Je nach Medienkontrolle tun sich Fenster auf, die sich aber leider immer sehr schnell wieder schließen.  

    Warum finanziert der Staat auf der einen Seite diesen riesigen Zensurapparat und geht auf der anderen Seite nicht entschiedener gegen die Verwendung von VPN-Kanälen vor, mit denen man doch recht unkompliziert ausländische Nachrichten lesen kann? 

    Das hat sicher mit den Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland zu tun. Viele ausländische Unternehmen nutzen VPNs und wollen auch nicht unbedingt auf einen staatlich zur Verfügung gestellten Kanal zurückgreifen. Wenn man VPN kategorisch verbieten beziehungsweise blockieren würde, hätte das auch Auswirkungen auf die Auslands- und Wirtschaftsbeziehungen.

    Gleichzeitig ist es der Partei gut gelungen, die Bevölkerung ohne Pauschalverbot davon abzuhalten, VPNs zu benutzen. Dabei setzt man zum Beispiel auf Abschreckung: Immer wieder werden einzelne Menschen verhaftet und verurteilt, meistens solche, die VPNs zur Verfügung stellen beziehungsweise verkaufen. Viele Chinesen denken, VPNs sind illegal, was so nicht richtig ist. Aber was erlaubt ist und was nicht, wird bewusst vage kommuniziert.

    Es ist die alte Geschichte: Man weiß nicht, woran man ist. Und wenn der öffentliche Sicherheitsapparat einem Schwierigkeiten bereiten will, findet er sicher auch irgendwo einen Grund. Deshalb kann ich schon verstehen, wenn manche lieber vorsichtig sind. Vor allem aber glaube ich nicht, dass die Informationsbeschaffung über VPN-Kanäle eine Auswirkung auf die breite Masse hat, solange die Möglichkeiten, diese Informationen auch im öffentlichen Raum in China weiter diskutieren zu können, so stark eingeschränkt sind.  

    Darf die Parteielite ganz offiziell VPN-Kanäle benutzen? 

    Bestimmte Regierungsabteilungen beziehungsweise Unterabteilungen, denen vertraut wird und die für ihren Job Zugang zum ungefilterten Internets benötigen, haben auch ohne VPN Zugang zum westlichen Internet. Es gibt zum Beispiel Leute im Staatsapparat, deren Aufgabe es ist, die Medien im Ausland gezielt zu beobachten und zusammenzufassen, was dort diskutiert wird. Während des Ausbruchs der sogenannten Jasmin-Proteste 2011 hatte ich selbst ein Youtube-Video ins Netz gestellt. Die Hälfte der Klicks kam aus China. Andere haben ähnliches beobachtet.

    Das deutet darauf hin, dass bestimmte Regierungsstellen über direkte Leitungen Zugriff haben. Hätten sie einen VPN benutzt, wäre als Ursprungsland des Clicks nicht China aufgetaucht, sondern der Standort des jeweiligen VPN-Servers, der genutzt wird, um die Zensur zu umgehen. Hinzu kommen Medienagenturen wie Xinhua, die Pressespiegel für die politische Elite erstellen. Je höher die Kader in der Rangordnung sind, umso größer ist meistens die Schrift, weil die dann meistens schon recht alt sind (lacht).   

    Medien wie New York Times oder Spiegel übersetzen Enthüllungsgeschichten aus China gerne ins Chinesische. Hat das einen Effekt in China?  

    Grundsätzlich kommt alles irgendwo an. Ich glaube aber nicht, dass solche Nachrichten eine kritische Masse erreichen. Diese wird in der Regel erst dann erreicht, wenn Menschen sich organisieren, gegenseitig austauschen, einen gemeinsamen öffentlichen Raum haben. Aber im Moment bewegen wir uns in die Gegenrichtung: Der Zugang wird immer schwieriger und sämtliche Kanäle, über die man sich austauschen kann, werden immer stärker kontrolliert.

    In ihrem Buch “Die lautlose Eroberung” schreiben Sie, dass Peking die Medienzensur nicht ewig beibehalten will.

    Für die Partei ist die Medienzensur auch ein Problem: Sie ist mühsam und man widerspricht sich selbst. Als langfristiges Ziel will Peking seine globale Diskursmacht ausbauen. Wenn das Ausland Pekings Narrativ folgt, kann die Zensur in China Schritt für Schritt fallen, so die Idee. Das ist jedoch ein bisschen wie mit der Auflösung des Staates bei Marx, also ein Ziel in sehr, sehr ferner Zukunft. Derzeit wird die Zensur weiterhin ausgebaut und das wird auch noch lange der Fall bleiben.

    Dr. Mareike Ohlberg ist Senior Fellow im Asienprogramm des Global Marshall Fund und Co-Leiterin des Stockholm China Forums. Ihre Schwerpunkte liegen in der chinesischen Außenpolitik, der Medien- und Digitalpolitik sowie den Entwicklungen in Hongkong und Taiwan.

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    Scharfe Kritik an Hongkongs Sicherheitsgesetz

    Die Expertenkommission CCPR des UN-Menschenrechtsrates hat die Regierung in Hongkong zum Widerruf des Nationalen Sicherheitsgesetzes aufgerufen. Die Kommission drückte in ihrem jüngsten Bericht, der am Mittwoch veröffentlicht wurde, große Sorge über die willkürliche Anwendung des 2020 eingeführten neuen Rechtsrahmens aus. Das Nationale Sicherheitsgesetz genieße Vorrang vor anderen lokalen Gesetzen und setze sich folglich über die durch internationale Konventionen geschützten Grundrechte und -freiheiten der Bürger hinweg, heißt es in dem Papier.

    Während die Kommission der Stadt auch Fortschritte im Bemühen um weniger Diskriminierung von Migranten, Frauen oder der LGBT-Gemeinde bescheinigt, kritisiert sie den Mangel an Rechtssicherheit, den das Sicherheitsgesetz hinterlässt. In zwölf Fällen seien 44 Anklagepunkte vorgekommen, die nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Insgesamt wurden bislang 200 Personen wegen vermeintlicher Verstöße gegen das Gesetz festgenommen worden, darunter zwölf Minderjährige.

    Die Kommission besorgt zudem die Möglichkeit zur Übertragung von Fällen nationaler Sicherheit an die Behörden der Volksrepublik China. Dadurch würde Hongkongs Verpflichtung durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ausgehebelt. ICCPR ist in Hongkongs Basic Law verankert. Die Volksrepublik dagegen hat das Abkommen in den 1990er-Jahren zwar unterschrieben, aber nie ratifiziert.

    Auch der Mangel an Rechtswegen für Angeklagte sei bedrohlich, und die Einflussmöglichkeiten durch den Regierungschef der Stadt sowie Polizei und Ermittlungsbehörden auf die Anwendung des Gesetzes nicht rechtmäßig. Zudem sei unklar, inwieweit die extraterritoriale Anwendung des Sicherheitsgesetzes definiert ist.

    Die Kommission kritisiert die Schließung einer “übermäßigen Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Gewerkschaften und Studentenvereinigungen” seit Inkrafttreten des NSL. Der Ausschuss forderte die Behörden der Stadt auf, Einschränkung der Vereinigungsfreiheit aufzuheben und zu garantieren, dass niemand, der an der UN-Überprüfung teilgenommen hat, auf Basis des Gesetzes strafrechtlich verfolgt wird.

    In seinem Bericht fordert das Gremium Hongkong auch dazu auf, kritische und abweichende Meinungen zuzulassen, statt sich auf entsprechende Klauseln im Sicherheitsgesetz zu beziehen, die die Zersetzung des Staates als Verstoß definieren. Die Stadt solle sicherstellen, dass alle Fälle überprüft werden und niemand strafrechtlich verfolgt werde, wenn er das Recht auf freie Meinungsäußerung “legitim ausübe”. grz

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    Arbeitssicherheit bleibt ernsthaftes Problem

    8.870 Menschen sind nach offiziellen Angaben in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wegen Sicherheitsmängeln am Arbeitsplatz in China tödlich verunglückt. Insgesamt seien dem Amt für Notfall-Management 11.000 Zwischenfälle gemeldet worden, heißt es in der am Montag veröffentlichten Statistik. Diese Zahl sei zwar geringer im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Dennoch sei in manchen Provinzen die Zahl der Unglücke rapide gestiegen.

    Die Arbeitssicherheit bleibt ein ernsthaftes Problem“, sagte ein Sprecher der Behörde. Riskant sind häufig Arbeiten in der BergbauIndustrie oder im Baugewerbe. Zeitdruck und Sparmaßnahmen beeinträchtigen dort oftmals die Umsetzung der nötigen Sicherheitsvorkehrungen. Besonders bei illegalen Projekten wird die Sicherheit oft massiv vernachlässigt.

    Zugenommen hat die Zahl an “relativ große Unfällen” zwischen drei und neun Todesopfern im Westen und Nordwesten des Landes. Die Provinzen Xinjiang, Tibet, Qinghai, Gansu und Chongqing haben demnach eine deutliche Zunahme an Unfällen dieser Kategorie registriert, aber auch Liaoning im Nordosten. Hintergründe für die steigenden Zahlen in den besagten Provinzen und Regionen gab das Amt aber nicht bekannt.

    China hat vor 20 Jahren die Gesetzgebung zur Erhöhung der Arbeitssicherheit geschaffen. Seitdem wurde das Gesetz mehrfach verschärft und die Strafen für die Verantwortlichen deutlich erhöht. grz

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    Berlin-Büro von Tiktok darf Betriebsrat wählen

    Die Mitarbeiter des Berliner Büros von Tiktok dürfen trotz Gegenwinds aus der Führungsetage einen Betriebsrat gründen. Das berichtet Nikkei Asia unter Berufung auf die Gewerkschaft Ver.di, die das Vorhaben unterstützt. Demnach trafen sich 102 der rund 200 Berliner Beschäftigten Mitte Juli zur Ernennung eines Wahlvorstands in der Ver.di-Bundeszentrale. Die eigentliche Wahl findet voraussichtlich im August statt. Eine zuvor digital durchgeführte Wahlvorstandsgründung war am rechtlichen Widerstand des Arbeitgebers gescheitert und verzögerte sich um ein Jahr.

    Die Mitarbeiter erhoffen sich durch die Gründung eines Betriebsrates ein größeres Mitspracherecht, etwa bei Fragen zur Vergütung, Leistungsbewertung und zum Datenschutz. Der Social-Media-Riese, dessen Mutterkonzern Bytedance in Peking sitzt, steht wegen schlechter Bezahlung und stark belastender Arbeitsbedingungen weltweit in der Kritik. So wird dem Unternehmen unter anderem vorgeworfen, das berüchtigte chinesische “996”-Arbeitsmodell – bei dem Angestellte sechs Tage die Woche von 9:00 bis 21:00 Uhr arbeiten (China.Table berichtete) – in seine ausländischen Niederlassungen exportieren zu wollen.

    Der Kurzvideo-Anbieter hat weltweit mehr als 800 Millionen Nutzer, davon 15 Millionen allein in Deutschland. Die Berliner Tiktok-Mitarbeiter sind vor allem mit der Moderation von Inhalten beschäftigt. In einer 8-Stunden-Schicht müssten sie etwa 1.000 Videos sichten und bearbeiten, schreibt Ver.di. Dieses Pensum sei jedoch nur möglich, indem man die Videos in vierfacher Geschwindigkeit abspiele. Dabei seien die Inhalte oft verstörend, von Misshandlungen über Tierquälerei bis hin zu Enthauptungen. Eine psychologische Betreuung sei nur schwer zu bekommen. “Wir müssen mehr Inhalte in kürzerer Zeit unter mehr Vorgaben sichten und bewerten”, erklärt Sean Krusch, einer der drei neu gewählten Wahlvorstände, gegenüber Ver.di. “Die Mitarbeitenden brauchen dringend ein Sprachrohr.” fpe

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    Chang Weiping – Anwalt der Schwachen steht vor Gericht

    Kämpfte für Benachteiligte, wurde gefoltert, muss nun wahrscheinlich ins Gefängnis: Rechtsanwalt Chang Weiping.
    Kämpfte für Benachteiligte, wurde gefoltert, muss nun wahrscheinlich ins Gefängnis: Rechtsanwalt Chang Weiping.

    Chang Weiping 常玮平 hat sich gegen die Diskriminierung von HIV-Infizierten und sexuellen Minderheiten eingesetzt. Die Staatsmacht reagierte mit Arbeitsverbot, Folter – und einem Scheinprozess hinter verschlossenen Türen. In seinem letzten Video kurz vor seiner Verhaftung schien Chang bereits sein Schicksal zu erahnen. “Sollte ich meine Freiheit erneut verlieren, dann möchte ich zuallererst klarstellen, dass ich weder Suizid begehen, noch mir selber körperlichen Schaden antun werde”, sagt der Chinese in nüchternem Tonfall in seine Smartphone-Kamera. Keine Woche später, am 22. Oktober 2020, wird Chang von der Sicherheitspolizei abgeführt.

    Am Dienstag hat der Scheinprozess gegen den ehemaligen Anwalt aus der nordwestlichen Stadt Baoji begonnen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Benachteiligten innerhalb der chinesischen Gesellschaft zu verteidigen. Chang hat sich vor allem um diejenigen gekümmert, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesundheitlichen Zustands diskriminiert werden. Dazu gehörten Anhänger der LGBT-Gemeinschaft oder HIV-Infizierte.

    Angeklagt ist er nun wegen “Untergrabung der Staatsmacht” 颠覆国家政权. Details sind nicht bekannt, weil der Prozess hinter verschlossenen Türen stattfindet: vollkommen intransparent und ohne unabhängigen Rechtsbeistand oder mediale Beobachter. Eine Verurteilung gilt dennoch als reine Formsache, denn in China enden 99 Prozent der Prozesse mit einem Schuldspruch.

    “Es ist ein trauriger Tag für die Menschenrechte in China”, schreibt die Deutsche Botschaft in Peking auf ihrem Weibo-Account: “Chang Weipings Mut und Engagement sollten gepriesen, und nicht bestraft werden. Wir fordern die chinesischen Behörden auf, ihn freizulassen”. Auch wenn der Beitrag von den Zensoren immerhin nicht gelöscht, ja sogar von etwa dreihundert “stillen” Unterstützern mit einem “Like” versehen wurde, wettern die nationalistischen Internetnutzer in der Kommentarspalte mit unfreundlichen Nachrichten. Da werden etwa die Deutschen als “alte Neo-Nazis” diffamiert und die LGBT-Gemeinschaft als “Sekte” bezeichnet.

    Das Schicksal von Chang Weiping war bereits seit Jahren absehbar: Wegen seines zivilgesellschaftlichen Engagements geriet er im immer autoritäreren China unter Xi Jinping unweigerlich ins Visier der Behörden. Bereits im Oktober 2018 entzog ihm das lokale Justizbüro erstmals die gesetzliche Zulassung. Aufgrund des politischen Drucks konnte Chang Weiping auch nicht bei anderen Kanzleien anheuern, er wurde quasi in die Arbeitslosigkeit gezwungen.

    Auch nach Folter ließ Chang Weiping nicht locker

    Vor knapp drei Jahren hatte sich Chang schließlich im südchinesischen Xiamen mit anderen Aktivisten getroffen, um den erodierenden Zustand der Zivilgesellschaft im Land zu debattieren. Wie andere Teilnehmer wurde auch er daraufhin von den Sicherheitspolizisten zehn Tage lang in einem sogenannten “schwarzen Gefängnis” festgehalten. Meist sind das unscheinbare Privatwohnungen, die von den Behörden als Verhörzimmer verwendet werden.

    Dabei hätten es die Autoritäten wohl belassen. Doch Chang Weiping lud am 16. Oktober ein achteinhalbminütiges Video auf Youtube hoch, in dem er nicht nur seine Unschuld beteuerte, sondern auch von der erlebten Folter während der illegalen Untersuchungshaft berichtete. “Mein rechter Zeigefinger und Ringfinger sind nach wie vor taub und ohne Gefühl”, sagt der Ex-Menschenrechtsanwalt in seine Smartphone-Kamera: “Sie haben alles untersucht, aber keine Beweise gefunden”.

    Viele ehemalige Insassen der “schwarzen Gefängnisse” berichten von Schlafmangel, ermüdenden Verhören und körperlicher Gewalt. Als besonders unangenehm wird die Praxis des sogenannten “Tigerstuhls” beschrieben: Dabei wird das Opfer an sämtlichen Gliedmaßen auf einen Stahlstuhl gefesselt und kann sich über Stunden hinweg nicht rühren. Es ist allerdings eine “rote Linie”, niemals über solche dunklen Machenschaften zu berichten. Chang Weiping musste für sein Video schließlich mit seiner Freiheit bezahlen – die Behörden nahmen ihn wenige Tage später fest.

    Chang Weiping: “nur kleine Schritte”

    Changs Ehefrau ist ein Tag vor Prozessbeginn mit dem gemeinsamen Sohn Richtung Gerichtsgebäude aufgebrochen, doch wurde noch auf der Autobahn von Polizisten in über einem dutzend Polizeifahrzeugen festgehalten. “Ich möchte doch nur den Prozess meines Mannes beobachten und herausfinden, warum er wegen Untergrabung der Staatsmacht beschuldigt wird. Wo ist das Problem?”, schreibt sie verzweifelt auf Twitter.

    Chang Weiping selbst sagte kurz vor seiner Verhaftung, dass er der Bezeichnung “Menschenrechtsanwalt” aus seiner eigenen Sicht nicht gerecht wird: “Alles, was ich tat, waren nur kleine Schritte. Aber ich bin sehr stolz sagen zu können, dass ich dazu beitragen habe, die Gesellschaft zu verbessern und meiner Verpflichtung als Bürger gegenüber meinen Landsleuten und der Gesellschaft nachgekommen bin.” Fabian Kretschmer

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    Dessert

    Der kritische Künstler Badiucao stellt seine Werke derzeit in Prag aus. Es gibt Perfomances, Grafiken, Gemälde, Videos und Multimedia-Installationen. Zu den Themen gehören Menschenrechte und Zensur in China, die Unterdrückung der Proteste in Hongkong und die Situation der Uiguren, aber auch die Lage in Myanmar. Badiucao lebt in Australien.

    China.Table Redaktion

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