Table.Briefing: China

“Friedliche Wiedervereinigung” + Weltbank-Chefin unter Druck + Ende der Zivilgesellschaft Hongkongs

  • Was meint Xi mit “friedlicher Wiedervereinigung”?
  • Pekings unlauterer Einfluss auf internationale Institutionen
  • Hongkongs Widerstand formiert sich im Exil
  • Rettung oder Restrukturierung für Evergrande?
  • Peking überarbeitet Negativliste für Investitionen
  • Studie warnt vor Handelskonflikt
  • Stromengpass lässt Frachtkosten sinken
  • CIA rückt China in den Fokus
  • Huawei forscht in Finnland an Innovationen
  • Standpunkt: Ökonom Roach über Risiken für Chinas Wachstumsmodell
Liebe Leserin, lieber Leser,

Chinas Staatspräsident hat Taiwan zur einer “friedlichen Wiedervereinigung” eingeladen. Aggression und Hegemonie lägen nicht im Blut des chinesischen Volkes, ergänzte Xi zudem. Doch man sollte sich die Rede des Staatspräsidenten vom Wochenende bis zum Ende anhören. Denn sein vermeintlich friedvolles Angebot entpuppt sich schnell als eine Art Wolf im Schafspelz, wie Finn Mayer-Kuckuk analysiert. Die Positionen von Peking und Taipeh lagen noch nie derart weit auseinander. Wie kam es dazu? Und was bedeutet das für die Zukunft? Das erfahren Sie in unserer Analyse.

Wenn diese Woche IWF und Weltbank tagen, wird ein Vorwurf die Diskussionen überschatten: Die Chefin der Weltbank soll ein Länder-Ranking im Sinne Pekings manipuliert haben. Ob sich Kristalina Georgiewa der Manipulation schuldig gemacht hat, ist noch offen. Aber ihr Fall reiht sich ein in einen größeren Trend, wie Felix Lee analysiert: China bedient sich unlauterer Mittel, um seinen Einfluss in internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen geltend zu machen. So werden afrikanischen Ländern schon mal Schulden erlassen oder ein Kredit gewährt, wenn dafür dann das Abstimmungsverhalten im Sinne Pekings ausfällt.

Das Vorgehen Pekings gegen zivilgesellschaftliche Organisationen in Hongkong wird immer entschiedener: Gewerkschafter, Aktivisten und Medienvertreter der Stadt müssen eine Strafverfolgung durch die Behörden fürchten. Der Widerstand verlagert sich deshalb zunehmend ins Ausland, schreibt Marcel Grzanna. Er hat mit Ex-Parlamentarier Ted Hui gesprochen.

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Ihre
Amelie Richter
Bild von Amelie  Richter

Analyse

Was meint Xi mit “friedlicher Wiedervereinigung”?

Der Widerspruch zwischen den beiden Botschaften in der Rede von Chinas Staatspräsident Xi Jinpings am vergangenen Wochenende war offensichtlich:

  • Einerseits bot er Taiwan eine “friedliche Wiedervereinigung” an und betonte sogar: “Aggression und Hegemonie liegen nicht im Blute des chinesischen Volkes”;
  • andererseits nannte er aber die “Unabhängigkeit Taiwans” eine “Gefahr” für die Volksrepublik und drohte, das Ausland solle die Entschlossenheit Chinas nicht unterschätzen, die nationale Einheit herbeizuführen. Es handele sich bei der Taiwan-Frage um eine “innere Angelegenheit”, in die sich andere Länder nicht einmischen dürften.

Aber jedem in der chinesischen Welt, der nicht die vergangenen sieben Jahrzehnte unter einem Stein verbracht hat, ist klar: Taiwan will sich nicht der Volksrepublik anschließen.

Bei Xis Ankündigung kann es sich also nur um eine friedliche Wiedervereinigung mit militärischen Mitteln handeln. Das stellte auch Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen umgehend klar. Sie interpretiert die Äußerungen Xis als Drohung einer “Annexion”, der sich Taiwan mit allen Mitteln widersetzen werde. Solche Antworten an China sind indessen reine Routine und wiederholen sich regelmäßig.

Wer sich die Ankündigungen Xis in Bezug auf Taiwan anschaut, erkennt auch in den markigen Worten von diesem Wochenende keine neue Verschärfung des Tons. Die Phrasen und Worte stellten allesamt bereits im Januar dieses Jahres die Sichtweise der Kommunistischen Partei dar. Damals waren sie sogar mit der Mahnung gepaart: formale Unabhängigkeit bedeute Krieg. Indem Xi jetzt abermals Chinas “Entschlossenheit” kundtut, das Taiwan-Problem ein für alle Mal zu lösen, nimmt er allerdings auch keine der bestehenden Drohungen zurück.

Dazu kommen nonverbale Botschaften. China hat Anfang des Monats derart große Geschwader an Kampfflugzeugen in den taiwanischen Luftraum geschickt, wie es zuvor noch nie der Fall war. Im Gesamtbild ergibt sich deshalb eine Steigerung des Bedrohungsgrades gegenüber Taiwan – und genau das entspricht der Agenda Xi Jinpings, China auf der internationalen Bühne stärker und selbstbewusster zu präsentieren.

Sieben Jahrzehnte politische Formeln zu Taiwan

Am Anfang der KP-Äußerungen gegenüber der Insel stand 1958 unter Mao der “Brief an unsere Landsleute in Taiwan“. Der Vorwurf lautete, Taipeh lasse sich von Amerika gegen das eigene Land instrumentalisieren. Unterzeichner war ein hochdekorierter General der Volksbefreiungsarmee, Peng Dehuai. Mao selbst hatte kurz zuvor die Formel von der “friedlichen Befreiung Taiwans” ausgegeben. Seitdem war der Slogan gebräuchlich: “Wir müssen und werden Taiwan unbedingt befreien!” (一定要解放台湾) Der Satz wurde sogar zu einem Liedtext. Das Narrativ war gesetzt und lautete: Taiwan ist von Amerika annektiert worden und bedarf der Befreiung. In dieser Zeit entwickelte die Volksrepublik auch die Angewohnheit, Taiwans vorgelagerte Inseln zu bombardieren.

Seitdem gab es zwei große Erneuerungen des Briefs an Taiwan: Eine im Jahr 1979 unter dem Reformer Deng Xiaoping und eine im Jahr 2019 durch Xi. Die Botschaft unter Deng war betont emotional abgefasst. Kernthema war die “Sehnsucht” nach gegenseitiger Kommunikation und nationaler Einheit, die beide Seiten verbinde. Damals hieß es aber schon: “Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist eine Aufgabe, der sich niemand entziehen kann.” Die Verfasser lockten jedoch mit einer “strahlenden gemeinsamen Zukunft”. Sowohl die Wirtschaft als auch das internationale Ansehen befanden sich damals im Aufschwung.

Zwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Taiwan-Brief drehte man den Ton unter Deng also ins Positive. Die Botschaft klang respektvoll, das Angebot einer Wiedervereinigung auf Augenhöhe wirkte geradezu aufrichtig. Von “Befreiung” war zu jener Zeit keine Rede, stattdessen ließ Deng das Wort “Wiedervereinigung” verwenden.

Xi verdreht Dengs versöhnlichen Kurs ins Aggressive

Weitere 30 Jahre später änderte Xi den Ton dann jedoch abermals – und nicht zum Freundlicheren. Selbst die wenigen verbliebenen respektvollen Elemente klingen nun wie Drohungen. Die wichtigsten Punkte der heute noch geltenden Xi-Doktrin von 2019 sind:

  • Das einzige verbliebene Hindernis für China, um echte Größe wiederzuerlangen, ist die Weigerung Taiwans, sich der Volksrepublik anzuschließen.
  • Die Spaltung Chinas steht im Kontext ausländischer Eingriffe seit den Opiumkriegen. Die “Konfrontation” entlang der Taiwanstraße ist damit das letzte Überbleibsel der schändlichen Schwächung Chinas durch die Kolonialmächte.
  • Die Wiedervereinigung soll nach dem Prinzip “ein Land, zwei Systeme” erfolgen.
  • China “müsse und werde” wiedervereinigt werden.
  • Im Fall einer formalen Unabhängigkeitserklärung Taiwans gibt es Krieg.

Sowohl friedliche Wiedervereinigung 和平统 als auch ein Land, zwei Systeme 一国两制 gehören hier zu den “Grundprinzipien” des politischen Denkens der Partei. Die Formeln sind jedoch längst erstarrt und werden nur routinemäßig wiederholt. Im Jahr 2019 mag der Idee “ein Land, zwei Systeme” noch ein kleiner Rest von Glaubwürdigkeit angehaftet haben. Die Formel war jedoch ursprünglich für Hongkong erdacht worden. Seit der Durchsetzung des Sicherheitsgesetzes in Hongkong (China.Table berichtete) ist von den besagten zwei Systemen jedoch wenig geblieben: In Hongkong herrschen seither fast ebenso viel Willkür und Unterdrückung der Meinungsfreiheit wie in der übrigen Volksrepublik.

Die Lockrufe gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei

Die schwülstigen Appelle an Chinas Größe und die Botschaften an die “Volksgenossen” oder “Landsleute” auf der Insel gehen derweil völlig am dortigen Lebensgefühl vorbei. Junge Leute dort identifizieren sich als “Taiwaner”, nicht als “Taiwan-Chinesen” und schon gar nicht als “Chinesen”.

Sie sehen sich auch kulturell nicht in einer Kontinuität mit dem Festland. Deshalb haben sie auch Präsidentin Tsai ins Amt gewählt: Sie hat einen selbstbewussteren Kurs gegenüber Peking versprochen.

Tatsächlich sorgt Tsai gegenüber der Xi-Doktrin für eine klare Abgrenzung. Das zeigt auch ihre eindeutige Reaktion auf Xis Rede vom Wochenende. Sie nahm eine Militärparade ab und betonte die Verteidigungsbereitschaft ihres Landes. Doch auf diese Weise ist weiterhin kein Ausweg in Sicht, der beide Haltungen vereinen würde. Fest steht nur: Im Falle Taiwans bleibt die “friedliche Wiedervereinigung” ein Widerspruch in sich.

Unter Tsais Vorgängerregierungen der Guomindang (KMT) war ein Annäherungsszenario zumindest denkbar. Das galt insbesondere als die Führungsgeneration um Hu Jintao in Peking das Sagen hatte. Ihr konnte man eine Verwirklichung von “ein Land, zwei Systeme” noch grundsätzlich abnehmen. In den Amtszeiten von Xi und Tsai gehen die Vorstellungen nun jedoch so weit auseinander, dass es nur einen Weg in die Zukunft gibt: den Erhalt des Status quo. Wer genau hinhörte, fand diesen Ausdruck tatsächlich auch in der Gegenrede Tsais. Taiwan wolle kämpfen, um den Status quo zu erhalten, sagte sie am Sonntag.

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Manipulation zugunsten Pekings? Streit um IWF-Chefin

Die Vorwürfe häufen sich: Chinas Führung soll systematisch Macht in internationalen Organisationen ausüben, um eigene Interessen durchzusetzen. So hatte beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausbreitungsgefahr von Covid-19 offenbar wochenlang heruntergespielt – im Sinne Pekings. Und auch bei den Vereinten Nationen beklagen sich immer wieder Diplomaten über Chinas zum Teil dreiste Einflussnahme. Nun steht auch IWF-Chefin Kristalina Georgiewa in der Kritik. Die bulgarische Ökonomin soll bei ihrer Arbeit für die Weltbank Studienergebnisse im Sinne Chinas verfälscht haben.

Die heutige Direktorin des Internationalen Währungsfonds hatte 2019 übergangsweise die Weltbank geleitet. Ihr wird vorgeworfen, in dieser Zeit ein wichtiges Länderranking zugunsten Chinas manipuliert zu haben. Hintergrund ist ein Untersuchungsbericht der US-Anwaltskanzlei WilmerHale. Georgiewa und andere führende Vertreter der Weltbank sollen “unangemessenen Druck” auf Mitarbeiter ausgeübt haben, damit China im Ranking des “Doing Business”-Berichts für 2018 besser abschneidet. Die Volksrepublik landete schlussendlich auf Platz 78, nachdem es in einem ersten Entwurf noch auf Rang 85 gelegen hatte. Die Kanzlei WilmerHale legt in ihrem Bericht nahe, dass Georgiewa als damalige Geschäftsführerin der Weltbank unlautere Mittel eingesetzt habe, um dieses Ergebnis herbeizuführen.

Die Weltbank selbst hat inzwischen die Methodik des Reports von einer Kommission überprüfen lassen. Die Experten haben erhebliche Schwächen aufgedeckt. Tatsächlich ist die Art der Auswertung anfällig für Interpretationen und unterschiedliche Gewichtungen. Als Konsequenz hat die Institution die Veröffentlichung des Berichts inzwischen eingestellt. Über die Vorwürfe gegen Georgiewa sagen diese Vorgänge jedoch ausdrücklich noch nichts.

Im Doing-Business-Report hat die Weltbank alljährlich sämtliche Länder nach deren Investitionsklima bewertet. Der Fokus liegt darauf, wie gut die jeweiligen regulatorischen Bedingungen für Unternehmen sind. Der Report diente als wichtiger Kompass sowohl für private Investoren als auch staatliche Geldgeber. Was den Verdacht der Datenmanipulation nährt: Im Jahr 2019 versuchte die Weltbank Unterstützung von der Führung in Peking für eine große Kapitalerhöhung zu erhalten. 

Ökonom Jeffrey Sachs: “Antichinesische Hysterie”

US-Abgeordnete im Kongress haben in der vergangenen Woche deshalb die Eignung der 68-jährigen Ökonomin für den IWF-Posten infrage gestellt. Auch amerikanische Ökonomen, darunter der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Romer, der kurzzeitig auch Chefökonom der Weltbank war, erheben schwere Vorwürfe gegen Georgiewa. Die Zeitschrift “Economist” hat sogar ihren Rücktritt gefordert.

Die IWF-Chefin selbst hat die Anschuldigungen mehrfach zurückgewiesen. Ihre Anwälte bezeichnen die Manipulationsvorwürfe als “fehlerhaft”. Mehrere europäische Regierungen wollen sich nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters wohl hinter Georgiewa stellen und sie trotz der Vorwürfe unterstützen. Insider erklärten, dass neben Frankreich auch Großbritannien, Deutschland und Italien Georgiewa den Rücken stärken wollen. Die EU hatte die ehemalige Brüsseler Kommissarin seinerzeit für die IWF-Posten nominiert. Doch es finden sich noch weitere Unterstützer, beispielsweise der renommierte Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs. Er schrieb in der Financial Times, hinter den Vorwürfen stecke “antichinesische Hysterie”

Nach einem ersten Krisentreffen am vergangenen Freitag hatte der 24-köpfige Vorstand des IWF die Entscheidung über Georgiewa vertagt. Finanzminister, Zentralbanker, Vertreter der Finanzwirtschaft und der Entwicklungszusammenarbeit treffen sich seit diesem Montag zur Jahrestagung der Weltbank und des IWF. Eine Entscheidung über die berufliche Zukunft von Georgiewa soll im Laufe der nächsten Tage fallen.

Peking bedient sich unlauterer Mittel

Versucht Chinas kommunistische Führung, ihren wachsenden Einfluss auf internationale Organisationen für ihre Zwecke auszuspielen? Sollte sich gar die gezielte Manipulation eines renommierten Reports der wichtigsten Entwicklungsbank der Welt bestätigen, würde es sich um einen weiteren Beleg für diese Annahme handeln.

Es gibt indessen noch weitere Beispiele dafür, wie Peking auf der internationalen Bühne immer mehr Einfluss nimmt. Vor allem, wenn es um Taiwan geht oder Kritik etwa des UN-Menschenrechtsrates an Chinas anhaltende Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Hongkong, wird China aktiv. Die Zusammenarbeit vieler UN-Unterorganisationen mit Taiwan hat die kommunistische Führung bereits mehrfach behindert. Einige Kooperationen konnte sie gar komplett stoppen. Peking war es auch gelungen, einen Vertreter der unterdrückten uigurischen Minderheit von einem UN-Treffen auszuschließen.

Vier der insgesamt 15 UN-Sonderorganisationen werden inzwischen von Vertretern aus Peking geleitet. Was die Pflichtbeiträge betrifft, ist die Volksrepublik seit 2019 zwar zweitgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen und trägt zwölf Prozent der UN-Ausgaben. Mit 22 Prozent der gesamten Zahlungen sind die USA aber unangefochten die Nummer eins. Dennoch leitet China überproportional viele der Unterorganisationen. 

Kein Wunder: Peking bedient sich durchaus unlautere Mittel, wenn es um die Besetzung von Positionen geht. Um etwa den Vorsitz der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation zu erlangen, erließ China dem Wall Street Journal zufolge dem afrikanischen Land Kamerun Schulden in Höhe von 78 Millionen US-Dollar. Prompt zog Kamerun seinen Kandidaten für den Vorsitz zurück. Bei der gleichen Wahl versprach Peking zudem Uganda Investitionen in Höhe von 25 Millionen Dollar für seine Stimme. Uganda stimmte daraufhin für den chinesischen Kandidaten. Zudem hatten Chinas Delegierte die eigentlich geheime Wahl auch noch gefilmt und fotografiert. So wollten sie sicherstellen, dass die Länder auch tatsächlich wie von der KP-Führung in Peking gewollt, abstimmten.

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Hongkongs Widerstand wandert ab

Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam lobte am Mittwoch das Nationale Sicherheitsgesetz über den grünen Klee. Das Chaos in der Stadt sei eingedämmt, und es sei sichergestellt, dass künftig ausschließlich “Patrioten” die Metropole verwalten würden, sagte Lam in ihrer Grundsatzrede vor dem Hongkonger Legislativrat. Der chinesischen Zentralregierung sei es gelungen, ihrem Anspruch bei der Umsetzung des Konzeptes “ein Land, zwei Systeme” treu zu bleiben.

Bis vor einigen Jahren hätte ihre Rede wohl heftigen politischen Widerstand in der Stadt erzeugt. Doch all jene, die Lams Darstellung bestenfalls für die halbe Wahrheit halten, hat das Nationale Sicherheitsgesetz zum Schweigen gebracht. Politische Opposition findet in Hongkong nicht mehr öffentlich statt. Der zivile Widerstand gegen Pekings autoritäre Übernahme der Metropole verlagert sich zunehmend ins Ausland.

Während sich örtliche zivile Organisationen und unabhängige Medienunternehmen reihenweise auflösen, weil sie eine strafrechtliche Verfolgung unter dem Sicherheitsgesetz fürchten müssen, stärken Hongkonger im Exil ihre Lobbyarbeit in Nordamerika, Europa und Australien. Wachsenden Einfluss versuchen ehemalige Politiker der Stadt und Aktivisten vor allem in der US-Hauptstadt Washington zu nehmen.

Mitglieder des Hongkong Democratic Council (HKDC) hatten dort schon 2020 vor dem US-Kongress ausgesagt und die Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten angeprangert. Inzwischen hat sich das Council personell neu formiert. Die früheren Hongkonger Politiker Nathan Law, Ted Hui und Sunny Cheung verstärken das HKDC als neue Mitglieder im Beirat. In London bekommt die Menschenrechtsorganisation Hongkong Watch neuen Wind durch das Engagement der Exilanten. In Norwegen, Österreich und der Schweiz haben sich pro-demokratische Interessengruppen gebildet, auch in Australien und Kanada bauen die Aktivisten Kommunikationskanäle in die Politik auf.

Allianzen mit Uiguren und Tibetern

Über den halben Erdball verteilt streben die Aktivisten dennoch ein gemeinsames Ziel an: Ausländische Unterstützung für die Zivilgesellschaft in Hongkong zu formieren und sich gleichzeitig mit tibetischen und uigurischen Organisationen zu verknüpfen, um zusammen mehr Einfluss auf demokratische Regierungen auszuüben. Sie möchten nicht nur aufmerksam machen auf die Situation in Hongkong, sondern auch für die zunehmende “Infiltration von liberalen Gesellschaften durch die Kommunistische Partei Chinas” sensibilisieren, wie der Ex-Parlamentarier Ted Hui im Gespräch mit China.Table betont.

Hui lebt mit Frau und zwei Kindern im australischen Adelaide. Mit seinen Mitstreitern vor Ort hat er ein Bildungsangebot geschaffen, das in seiner Muttersprache Kantonesisch außerschulische Weiterbildung bietet. Das Ziel: Zumindest aus der Entfernung einer weiteren politischen Sinisierung Hongkongs etwas entgegenzusetzen und demokratische Werte zu fördern. Auch in Melbourne gibt es nun solch ein Angebot. “Weltweit verbreitet die KP ihre Propaganda über Bildungseinrichtungen im Ausland. Wir bieten ein ideologisches Gegengewicht, damit Hongkongs Kultur und Sprache nicht exklusiv durch chinesische Regierungskanäle kuratiert wird“, sagt Hui.

Zumal der Strom der Auswanderungswilligen nicht abreiße. Täglich würden 1.000 bis 2.000 Menschen Hongkong mit der Absicht verlassen, nicht mehr zurückzukehren. Die fortschreitend erzwungene Auflösung der Zivilgesellschaft in der Stadt versetzt die Menschen in große Sorge. Zahlreiche Organisationen befinden sich in Auflösung oder sind bereits abgewickelt:

  • die Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China, Ausrichter der inzwischen untersagten Mahnwache zum Jahrestag des Tiananmen-Massakers,
  • die Hong Kong Civil Human Rights Front (CHRF),
  • die Hong Kong Democratic Party,
  • die Hong Kong Professional Teachers Union oder
  • der 612 Humanitarian Relief Fund, ein Spendenfonds zur finanziellen Unterstützung der Protestbewegung von 2019.

Führende Köpfe befinden sich teilweise in Haft oder erwarten Strafverfolgung, weil sie von den Behörden unter Regierungschefin Carrie Lam als “feindlich” eingestuft und der Kollaboration mit ausländischen Kräften beschuldigt werden, was seit dem Sicherheitsgesetz mit langen Haftstrafen geahndet werden kann. Die Lehrervereinigung mit ihren 95.000 Mitgliedern, die seit Mitte der 1970er-Jahre das Bildungswesen der Stadt demokratisch geprägt hatte, geriet ins Kreuzfeuer chinesischer Staatsmedien, die sie als “Tumor” bezeichneten (China.Table berichtete). Zahlreiche unliebsame Lehrer an Schulen und Universitäten sind bereits aus dem Staatsdienst entlassen worden.

China ködert mit “guten Jobs”

Die chinesische Zentralregierung sieht zwischen der Wucht der politischen Säuberung und der Flucht Zehntausender Familien aus der Stadt offiziell jedoch keinen Zusammenhang. Im Gegenteil befinde sich die Stadt “auf dem richtigen Weg”, wie der Sonderbeauftragte für Hongkong und Macau, Huang Liuquan, kürzlich bei einem Besuch betonte. Jungen Menschen aus Hongkong empfahl er, in der Volksrepublik nach guten Jobs Ausschau zu halten.

Unabhängige, chinesischsprachige Medien, die Pekings Position kritisch kommentieren könnten, gibt es kaum mehr in Stadt. Nach der Einstellung der pro-demokratischen Tageszeitung Apple Daily Ende Juni, hat sich auch deren Muttergesellschaft Next Digital aufgelöst. Deren Verantwortliche inklusive ihres Gründers und Verlegers Jimmy Lai sitzen in Haft.

Die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt RTHK setzt ihre Arbeit derweil zwar fort, hat aber neue Richtlinien erhalten, die sie beauftragen, zum Erhalt der “konstitutionellen Ordnung” zu sorgen. Im Klartext bedeutet das: Propaganda im Sinne Pekings. Teile des RTHK-Programms wurden deshalb schon gestrichen. Auf dem Sendeplatz des traditionellen City-Forums am Sonntagabend, das jahrzehntelang in Live-Diskussionen diverse Meinungen zu Wort kommen ließ, zeigt RTHK jetzt historische Bürgerkriegsdramen, die von den Erfolgen der Kommunistischen Partei erzählen.

“Weckruf für die Europäische Union”

Auch die Zensur des Internets nimmt zu. Die Polizei genießt inzwischen erweiterte Befugnisse, um digitalen Dissens im Keim zu ersticken. Mit der exterritorialen Reichweite des Sicherheitsgesetzes im Rücken versuchen die Behörden außerdem, auch ausländische Serverbetreiber auf Linie zu bringen und ungewünschte Inhalte nicht zuzulassen.

“Die Niederschlagung der gesamten demokratischen Infrastruktur und der Rechtsstaatlichkeit in Hongkong geht nicht nur in einer Geschwindigkeit vor sich, die jeden überrascht. Sie zeigt auch das wahre Gesicht der Kommunistischen Partei Chinas, die nicht einen Funken politischen Dissens akzeptiert“, sagt der frühere dänische Kulturminister Uffe Elbaek zu China.Table.

Das Sicherheitsbüro in Hongkong hatte zu Jahresbeginn ein Ermittlungsverfahren gegen Elbaek eingleitet – eben auf Basis jener exterritorialen Reichweite des Sicherheitsgesetzes. Der Politiker hatte mit einem Täuschungsmanöver gegenüber der Behörden Hongkongs seinem Amtskollegen Ted Hui zur Flucht aus der Stadt verholfen.

“Das ist ein Weckruf für die Europäische Union. Die Europäer müssen begreifen, mit wem sie es zu tun haben”, sagt Elbaek. Der Grünen-Politiker fürchtet, dass Hongkong nur das Vorspiel sein könnte für eine Eroberung des Inselstaats Taiwan. “Die Parole ‘Heute Hongkong, morgen Taiwan’ sollten wir, die demokratischen Staaten dieser Welt, sehr, sehr ernst nehmen.” Die Volksrepublik betrachtet die Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, als untrennbaren Teil ihres Territoriums.

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Evergrande: Wie viel Risiko akzeptiert Peking am Finanzmarkt?

Keiner kann sagen, dass China in der Krise zu weitreichende Sicherheitsnetze spannt. Allein im ersten Halbjahr sind Dutzende große Firmen in die Insolvenz gegangen, was zusammen 15 Milliarden Euro an Schulden hinterlassen hat. Die Finanzaufsicht und die Zentralbank zeigen also durchaus Mut zur Pleite. In einer Staatswirtschaft könnte die Regierung im Prinzip alles retten, das in Schieflage gerät. Doch sie hält sich mit Eingriffen zurück.

Zugleich lässt der langsame Untergang des Immobilienentwicklers Evergrande Beobachter und Marktteilnehmer jedoch rätseln. Wie viel echtes Risiko traut sich Peking? Einerseits hat die KP Chinas mehrfach angekündigt, im Finanzwesen immer mehr auf Marktkräfte zu setzen. “Wir beschleunigen die Entwicklung eines vielschichtigen Kapitalmarkts”, sagte Premier Li Keqiang 2014. “Wir entwickeln einen gut funktionierenden Anleihemarkt.”

Für einen gut funktionierenden Anleihemarkt sind einerseits auch reale Ausfallrisiken nötig. Doch von dem Schicksal der Evergrande-Gruppe hängt andererseits zu viel ab. Vom einfachen Wohnungskäufer bis zur Großbank hängen ganz unterschiedliche Akteure mit drin. Zudem drohen Systemrisiken in Chinas überschuldeten Immobiliensektor. Schon jetzt tun sich auch andere Firmen der Branche schwer, ihre Anleihen umzuwälzen.

Peking befindet sich also in einem Dilemma zwischen der Wahrung der Stabilität, auf die sie so stolz ist, und der Schaffung eines funktionierenden Anleihemarktes. In einem selbsttragenden Kapitalmarkt müssen die Anleger jedoch auch die Risiken großer Institutionen mittragen. Das weiß die Führung, und daher will sie durchaus auch die Marktkräfte walten und Investoren im Zweifelsfall leer ausgehen lassen, wenn sie die falsche Wette abgeschlossen haben.

Wie viel Risiko verträgt der Sozialismus?

Doch zu groß dürfen diese nun offenbar auch nicht sein, wie zuletzt wieder eine Reihe von Rettungsaktionen gezeigt hat. Huarong Asset Management ist im Frühjahr für sechseinhalb Milliarden Euro gerettet worden. Das Vorgehen war hier ganz konventionell. Staatsbanken haben die Schulden von Huarong übernommen. Das ebenfalls überschuldete HNA-Konglomerat geht derweil durch eine Restrukturierung, die den verbleibenden Wert der Gruppe anerkennt (China.Table berichtete).

Peking versucht hier ganz offensichtlich, einen Mittelweg zu steuern, der immer näher an die Nutzung von Marktkräften heranführt. Dabei ist klar, dass keines der Extreme auf der Bandbreite der Finanzmarktsysteme für China infrage kommt. Diese zwei Extreme wären eine perfekte Marktwirtschaft auf der einen Seite und reiner Sozialismus ohne Kapitalmarkt auf der anderen Seite.

In einer perfekten Marktwirtschaft gibt es keine Rettungen. Wer scheitert, kann eben seine Schulden nicht zurückzahlen. Die Marktteilnehmer müssen dann den Verlust ihrer Investition hinnehmen. Dementsprechend vorsichtig und klug werden sie ihr Kapital einsetzen. Sie werden es nur guten Firmen anvertrauen. Im reinen Sozialismus gibt es dagegen keine geschäftlichen Risiken. Dafür werden die vorhandenen Ressourcen schlecht genutzt. Ineffizienz, Erfolglosigkeit, Faulheit, Fehlentscheidungen – all das ist für einen zünftigen Staatsbetrieb ziemlich gleichgültig. Es geht nach einem Tadel für die Nichterfüllung des Plans immer weiter.

Peking sucht den Mittelweg

China kommt nun vom zweiten Modell her und hat nach Jahrzehnten der Reformen einen Punkt erreicht, an dem sich die positiven Effekten des ersten Modells zeigen. Diese positiven Effekte hängen jedoch davon ab, dass der Staat dann doch nicht immer eingreift, wenn es hart auf hart kommt. Das erfordert viel Disziplin. Auch demokratische Politiker in einer sozialen Marktwirtschaft lassen sich gerne für Rettungen feiern, auch wenn sie wirtschaftlich keinen Sinn ergeben. Wenn die Folgeschäden eines Kreditausfalls katastrophal sind, erhalten die Maßnahmen generell viel Zustimmung. Vor allem wenn ein Dominoeffekt quer durch Finanz- und Realwirtschaft droht.

Im Fall Evergrande ist es nun interessant zu beobachten, wie sich die chinesische Regierung verhält. Sie hat den Immobiliensektor selbst ins Rutschen gebracht, indem sie mit den “drei roten Linien” neue Kapitalanforderungen gestellt hat. Es gilt andererseits als sicher, dass sie keine katastrophale Pleite zulassen wird.

Stattdessen wird sie den Immobilienmarkt und das Finanzsystem von einer möglichen Implosion von Evergrande isolieren. Denn eine unkontrollierte Insolvenz würde gleich drei Politikziele in Gefahr bringen: die Zufriedenheit der chinesischen Immobilienkäufer, den Bau neuer Wohnungen und nicht zuletzt das internationale Image der chinesischen Wirtschaft.

Die Risiken eines Vollkasko-Finanzwesens

Als die US-Bank Lehman Brothers vor 13 Jahren ihren Insolvenzantrag stellte, zeigte sich China fast etwas schadenfroh. Die eigene Finanzbranche brachte solche verdeckten Systemrisiken nicht hervor, weil sie simpler war. Vor allem gelang es Peking mit staatlichen Eingriffen, das Wachstum ausgerechnet im Krisenjahr nach absoluten Werten auf einen Rekord zu hieven. Das sollte die Überlegenheit des eigenen Wirtschaftsmodells zeigen. Eine Evergrande-Pleite mit weitreichenden Systemfolgen wird Staatschef Xi Jinping daher verhindern lassen – egal, was es kostet. Statt einer Rettung des Unternehmens in seiner bestehenden Form wäre beispielsweise eine Übernahme des Immobilienbestands samt Schulden durch staatliche Banken möglich.

Die Kosten wären dabei jedoch höher als der reine Preis für die Lösung. Denn auch wenn zuletzt ab und zu eine Bankeninsolvenz möglich war, verlassen sich die Anleger weiterhin auf die staatliche Rettung. Ein glaubwürdiger Anleihe-Markt braucht jedoch Risiken. Wenn der Staat letztlich für alles haftet, dann erhalten Anleger immer nur Minimalzins, wenn sie Firmen Geld leihen. Denn der Zins ist auch eine Entschädigung für das Risiko. Ohne Risiken gibt es keine sonderlich hohen Zinschancen.

Außerdem geben sich Anleger in einem Vollkasko-Finanzwesen keine Mühe, ihr Geld nur an vertrauenswürdige Unternehmen zu vergeben. Die Mühe zur Erkennung guter und schlechter Geschäftsmodelle lohnt sich für sie nicht. Ohne Ausfallrisiko schwindet also auch die Überwachungsfunktion des Marktes.

Ein vitaler Anleihemarkt entlastet die Aufseher

Die Vorteile eines funktionierenden Finanzmarktes möchte die kommunistische Regierung jedoch stärken, um nicht weiterhin alles per Hand überwachen zu müssen. Die Zentralbank und die Aufsichtsbehörden überwachen das Finanzwesen immer noch viel zu kleinteilig. In einer zur Hälfte privatisierten Volkswirtschaft mit einem Volumen von zehn Billionen Euro ist dieses Mikromanagement aber eigentlich unmöglich geworden. China hätte also ein Interesse daran, Marktkräfte walten zu lassen. Doch es gelingt der Führung bisher nicht, wirklich loszulassen.

Tatsächlich haben Europa und die USA heute ähnliche Probleme, und Japan schlägt sich schon seit den 1990er-Jahren damit herum. Ökonomen sehen hier generell eine Krise des Kreditwesens. Der unabhängige Ökonom Richard Duncan diagnostiziert hier sogar eine Grundkrise des kapitalistischen Systems. Dieses sollte zumindest eins können: Kapital in die wirtschaftlich aussichtsreichsten Kanäle leiten. Die Zinsen sind jedoch schon seit über einem Jahrzehnt ultraniedrig.

Duncan stellt fest, dass der Kapitalismus, in dem Geld im Regelfall knapp und kostbar sein sollte, durch einen “Kreditismus” ersetzt wurde, indem Wachstum durch immer höhere Kreditvergabe geschaffen wird. Es ist hier zu einem guten Teil egal, wo das Kapital hingeht. Am Anleihemarkt bringt es ohnehin kaum Zinsen. Der Aktienmarkt- und der Immobilienmarkt wiederum wird vom vielen Kapital derweil fast naturnotwendig aufgeschwemmt.

Von letzterem Effekt hat auch  Evergrande profitiert. Der chinesische Kapitalismus ist eben auch eher ein Kreditismus mit chinesischen Charakteristiken. Geld gab es immer reichlich. Üppige Finanzierung ist die Grundlage des Wachstumsmodells. Die Regierung hat zwar versucht, die Mittel in sinnvolle Kanäle zu lenken und Dämme durch die Wirtschaft zu ziehen. Am Ende landet das Kapital in China aber eigentlich immer am Immobilienmarkt. Die Gewinne in diesem Segment waren traumhaft und erschienen sicher. Dementsprechend hat sich auch Evergrande präsentiert. Gespräche mit Anlegern bestätigen heute die ursprüngliche Erwartung, dass Peking so ein Unternehmen keinesfalls untergehen lassen werde (China.Table berichtete).

Das Kartenhaus musste einstürzen

Es war nun wichtig, das finanzielle Kartenhaus Evergrande zunächst einmal einstürzen zu lassen. Sonst hat der chinesische Anleihemarkt keine Chance, jemals glaubwürdig Risiken abzubilden. Zudem passt ein Zusammenbruch von Evergrande zum derzeitigen Kurs, schwerreiche Privatunternehmer in ihre Schranken zu verweisen.

Die chinesischen Wirtschaftsplaner haben sich nun aber eine durchaus sinnvolle Strategie ausgedacht, um die Auswirkungen der Mega-Pleite einzugrenzen. Evergrande selbst darf demnach durchaus kollabieren. Doch um den Kern der Probleme herum will sie Mauern ziehen. Indem sie an den entscheidenden Punkten Kapital zuschießt, verhindert sie ein Übergreifen auf andere Unternehmen. Um einen Pandemie-Vergleich zu bemühen: Sie will den infizierten Evergrande-Konzern isolieren, um weitere Ansteckungen zu verhindern. Eine Reihe von großen Investoren wird Verluste tragen müssen, während die Wohnungskäufer vor den Folgeschäden geschützt sein sollen.

Erste Effekte der Insolvenzen, die China erlaubt und sogar herbeiführt, zeigen sich bereits am Anleihemarkt. Mit der Rückkehr des Risikos steigen sowohl die Rendite und die Verzinsung. Die Rendite steigt, während die Kurse am Markt sinken – diese beiden Kennzahlen verhalten sich bei Anleihen gegenläufig. Die Zinsen steigen, weil sich Anleger die ganz offensichtlich größeren Risiken künftig mit höheren Aufschlägen bezahlen lassen. Das bedeutet aber auch, dass sich Geldanlagen in Anleihen künftig wieder mehr lohnen und sie als Option für Anleger zurückkehren. Auch wenn eine unkontrollierte Pleite von Evergrande katastrophal wäre und verhindert werden wird: Die Zulassung von moderaten Risiken könnte sich für Peking weiter auszahlen.

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Regierung aktualisiert Sperrliste für Investitionen

Die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) überarbeitet ihre Negativliste für Investitionen in China. Das Ministerium bittet derzeit die Öffentlichkeit um Stellungnahmen und Vorschläge für die Überarbeitung des Dokuments. Streichungen von oder Hinzufügungen zu dieser Sperrliste haben weitreichende Folgen. In Branchen und Produktklassen, die auf der Liste genannt sind, dürfen weder ausländische noch chinesische Akteure investieren. Bereiche, die darin nicht aufgeführt werden, sind ohne weitere Prüfung offen für Investitionen.

Auf dem Entwurf der Neuauflage stehen 117 Positionen, sechs weniger als auf der Vorjahresversion. So sind beispielsweise Online-Versicherer weggefallen. Dafür ist ein eigener Abschnitt für Medienunternehmen hinzugekommen. Jede Sorte von Geschäftstätigkeit, die mit Recherche und Aufbereitung von Information zu tun hat, steht jetzt gebündelt auf der Liste. Das Magazin Caixin weist allerdings darauf hin, dass es sich hier eher um eine Neuordnung und Klärung vorhandener Einträge handele als um eine Hinzufügung. Zu den verbotenen Branchen könnte künftig auch alles gehören, was mit Krypto-Währungen wie Bitcoin zu tun hat. fin

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Studie warnt vor Handelskonflikt mit China

Eine Studie des “Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche” (wiiw) warnt die Europäische Union vor einem Handelskonflikt mit China. Im Vergleich zu den wirklich brisanten Szenarien seien die aktuellen Unregelmäßigkeiten noch vergleichsweise harmlos. “Wirklich gefährlich wäre ein Stopp von Exporten aus politischen Gründen im Rahmen eines Handelskonfliktes, wie er derzeit zwischen den USA und China tobt”, meint Robert Stehrer, wissenschaftlicher Leiter des wiiw und Co-Autor der Studie “Learning from tumultous times: An analysis of vulnerable sectors in international trade in the context of the Corona health crisis“.

Aufgrund von US-Sanktionen haben chinesische Technologiefirmen den Zugang zu Chips und Software aus amerikanischer Herstellung verloren (China.Table berichtete). “Ähnliches könnte Europa eines Tages in umgekehrter Richtung drohen. Von den Auswirkungen eines bewaffneten Konflikts um Taiwan, das bei Halbleitern teilweise fast ein globales Produktionsmonopol hat, einmal ganz abgesehen”, sagt Stehrer.

Ein Drittel aller Importe in die Europäische Union seien anfällig für Turbulenzen im Welthandel. Vor allem Deutschlands Industrie sei demnach stark betroffen. “Insbesondere bei Hochtechnologie und Medizinprodukten stellen wir eine große Abhängigkeit von asiatischen Produzenten fest, allen voran aus China”, sagt Stehrer. China ist immerhin der zweitwichtigste Handelspartner der EU. Sein Anteil an den EU-Importen beträgt 48,8 Prozent.

Gemeinsam mit Oliver Reiter hat sich Stehrer angesehen, welche Produkte und Sektoren in der EU am anfälligsten für weltwirtschaftliche Schocks. Das Ergebnis: Von 4.700 untersuchten Gütern weisen knapp 10 Prozent ein erhebliches Verfügbarkeitsrisiko auf, da sie sehr konzentriert und oftmals außerhalb Europas hergestellt werden. Ein großer Teil davon entfällt auf Hightech-Produkte wie Elektronik oder Maschinen. Ihr Wertanteil am Warenhandel ist relativ hoch: In Deutschland sind es 35%, im EU-Schnitt immerhin 30%.

Bei Erzeugnissen wie Medikamenten oder grundlegenden Zulieferteilen zukunftsweisender Technologien wie Computerchips müsse Europa deshalb ernsthaft über ein Zurückholen der Produktion nachdenken, empfiehlt die Studie. “Nur wenn wir Schlüsselindustrien wie Halbleiter wieder selbst in der Hand haben, bleiben wir langfristig wettbewerbsfähig”, erklärt Stehrer. rad

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USA und China nehmen Handelsgespräche auf

Chinas Vizepremier Liu He und die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai haben am Samstag Gespräche aufgenommen, um die Handelsstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern zu schlichten. Beide Seiten haben “ihre Kernanliegen zum Ausdruck gebracht” und “sich bereit erklärt, die berechtigten Bedenken des jeweils anderen durch Konsultationen zu lösen”, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nach der Videoschalte der beiden. Es ist das zweite Mal, dass die Unterhändler miteinander sprachen. Zuletzt hatten sich Liu und Tai im Mai in einem Telefonat über Wirtschafts- und Handelsfragen ausgetauscht.

Zu Beginn der vergangenen Woche hatte die amerikanische Handelsbeauftragte Katherine Tai die neue US-Handelsstrategie zu China vorgestellt (China.Table berichtete). Tai sagte in der Rede, dass die Biden-Regierung eine neue Runde von Handelsgesprächen mit China anstreben werde, schloss jedoch neue Zölle nicht aus. Sie sagte auch, dass die USA “weiterhin ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Staats-zentrierten und nicht marktorientierten Handelspraktiken Chinas” haben. niw

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Frachtkosten zwischen China und USA fallen

Die Frachtkosten für den Containerversand zwischen China und USA sind deutlich gefallen. Als Grund sehen Branchenexperten den Stromengpass in China, der sich auf die Produktion der Unternehmen auswirkt (China.Table berichtete). Auch die anstehende Nebensaison drückt auf die Preise.  

Ein leitender Angestellter einer Shanghaier Spedition sagte Caixin, dass die Kosten für den Versand eines 40-Fuß-Containers von China an die US-Westküste Ende September um die Hälfte gefallen sind – von etwa 15.000 auf knapp 8.000 US-Dollar. Auch Richtung US-Ostküste sind die Preise zuletzt von über 20.000 US-Dollar um mehr als ein Viertel auf unter 15.000 US-Dollar zurückgegangen. Vor der Pandemie lagen die Kosten der Spediteure in der Regel bei etwa 1.500 US-Dollar.

Geringe Kapazitäten, Staus an den Häfen weltweit und fehlende Container (China.Table berichtete) hatten die Frachtkosten erst Anfang September auf ein Rekordhoch steigen lassen. niw

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CIA richtet China-Zentrum ein

Der Auslandsgeheimdienst der USA (CIA) hat die Einrichtung eines neuen China-Zentrums angekündigt. Das China Mission Center “wird unsere gemeinsame Arbeit an der wichtigsten geopolitischen Bedrohung, die uns im 21. Jahrhundert entgegensteht, nämlich eine zunehmend feindlich gesinnte chinesische Regierung, stärken”, erklärte CIA-Direktor William Burns in einer Mitteilung, wie Reuters berichtete.

Die Einsatzzentren sind eigenständige Einheiten, die Ressourcen aus der gesamten CIA nutzen. Solche Einheiten gibt es bereits für Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung und den Nahen Osten. Burns sagte, das Missionszentrum werde dazu beitragen, die bisherige Arbeit des Geheimdienstes über China zusammenzuführen.

Burns hatte bereits bei Bestätigungsanhörung im US-Senat im Februar China als eine seiner Prioritäten festgelegt. Der erfahrene Diplomat nannte Chinas “feindliche, räuberische Führung” die größte Bedrohung für die USA und sagte, Pekings Ziel sei es, “die Vereinigten Staaten als mächtigste und einflussreichste Nation der Welt abzulösen”. ari

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Huawei eröffnet Innovationszentrum in Helsinki

Der chinesische Telekommunikationsausrüster Huawei hat ein Innovationszentrum in Finnland eröffnet. Im Digital Finance and Security Innovation Lab (Fin²Sec) in Helsinki sollen Medienberichten zufolge Innovationen im Zusammenhang mit Partnern vor Ort entwickelt werden. Der Fokus liegt dabei auf der Digitalisierung von Bank-, Finanz- und Zahlungsdiensten in Europa, wie der Tech-Blog Gizmo China berichtete. Huawei kooperiert dazu demnach unter anderem mit der Aalto-Universität, der Universität Helsinki und weiteren Partnern wie Banken und Fintechs aus ganz Europa. In dem Lab sollen nicht nur neue Konzepte entwickelt, sondern auch Erfahrungen und Herausforderungen ausgetauscht werden, sagte Adam Rybusiewicz von Huawei dem Bericht zufolge.

Für Huawei ist die Einrichtung des Zentrums ein seltener Erfolg im Baltikum. Die Länder dort sind dem chinesischen Konzern gegenüber eher skeptisch eingestellt. Das finnische Parlament hatte im Dezember ein Gesetz verabschiedet, das es Behörden ermöglichen würde, die Verwendung von Telekommunikationsnetzgeräten zu verbieten, wenn sie “schwerwiegende Gründe für den Verdacht haben, dass die Verwendung des Geräts die nationale Sicherheit oder Landesverteidigung gefährdet”.
Im Gegensatz zu seinem Nachbarn Schweden hat Finnland bisher keinen Anbieter aufgrund seines Herkunftslandes verboten und nannte auch Huawei oder ZTE nicht namentlich. Finnland ist allerdings die Heimat von Nokia, einem der wichtigsten Mitwettbewerber. ari

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Standpunkt

Risiko für Chinas Wirtschaftswunder

Von Stephen S. Roach
Stephen S. Roach, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Senior Fellow am Jackson Institute for Global Affairs der Yale University sowie Dozent an der Yale School of Management
Stephen S. Roach ist Fakultätsmitglied der Yale Universität

Alle Augen richten sich derzeit auf Chinas dunkle Seite. Das hatten wir schon mehrmals. Von der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre über die Dotcom-Rezession Anfang der 2000er Jahre bis hin zur globalen Finanzkrise der Jahre 2008/2009 wurde China stets als das nächste Land vor dem Fall dargestellt. Doch Chinas Wirtschaft trotzte den düsteren Prognosen immer wieder mit einer Widerstandskraft, die die meisten Beobachter überraschte.

Ich gehöre zu den wenigen, die nicht überrascht waren, dass sich die Warnungen vergangener Tage als Fehlalarme herausstellten. Sehr wohl beschleicht mich jetzt allerdings das Gefühl, dass es dieses Mal anders ist.

Im Gegensatz zu den meisten anderen bin ich jedoch nicht der Meinung, dass die Evergrande-Gruppe das Problem ist oder gar den entscheidenden Wendepunkt darstellt. Ja, Chinas zweitgrößter Immobilienentwickler steckt in potenziell fatalen Schwierigkeiten. Und ja, der Schuldenüberhang von etwa 300 Milliarden Dollar stellt durchaus ein Risiko für das chinesische Finanzsystem dar und könnte möglicherweise Auswirkungen auf die weltweiten Märkten haben. Doch das Ausmaß dieses Welleneffekts wird wohl weit geringer sein, als die Warnungen derjenigen, die lauthals verkünden, Evergrande sei das chinesische Lehman Brothers, womit sie auch andeuten, ein weiterer “Minsky-Moment” könnte bevorstehen.

Peking war vorbereitet auf Evergrande

Drei Überlegungen sprechen dagegen. Erstens verfügt die chinesische Regierung über ausreichende Mittel, um den Ausfall von Evergrande-Krediten aufzufangen und potenzielle Auswirkungen auf andere Vermögenswerte und Märkte abzuwehren. Mit etwa 7,5 Billionen Dollar an Ersparnissen im Inland und weiteren drei Billionen Dollar an Devisenreserven sind in China mehr als genug finanzielle Kapazitäten vorhanden, um eine Implosion Evergrandes im schlimmsten Fall aufzufangen. Untermauert wird dieser Punkt durch enorme Liquiditätsspritzen der People’s Bank of China in letzter Zeit.

Zweitens handelt es sich bei Evergrande nicht um eine klassische “Black-Swan-Krise”, sondern vielmehr um eine bewusst herbeigeführte und gewollte Folge chinesischer Politik, die darauf abzielt, Schulden abzubauen, Risiken zu verringern und die Finanzstabilität zu erhalten. Gute Fortschritte machte China in den letzten Jahren insbesondere bei der Eindämmung von Aktivitäten im Schattenbankwesen, wodurch mögliche Ansteckungen anderer Segmente seiner Finanzmärkte begrenzt wurden. Anders als im Falle Lehman und der damit verbundenen verheerenden Kollateralschäden wurde die chinesische Politik vom Problem Evergrande nicht unvorbereitet getroffen.    

Drittens sind die Risiken für die Realwirtschaft, die in eine vorübergehende Schwächephase eingetreten ist, begrenzt. Die Nachfrageseite des chinesischen Immobilienmarktes wird durch die anhaltende Abwanderung von Landarbeitern in die Städte durchaus gut unterstützt. Dies unterscheidet sich deutlich vom Zusammenbruch spekulativer Immobilienblasen in anderen Ländern wie Japan und den Vereinigten Staaten, wo einem Überangebot mangelnde Nachfrage gegenüberstand.

Der Anteil der Stadtbewohner in der chinesischen Bevölkerung ist zwar mittlerweile auf 60 Prozent angestiegen, aber es ist noch viel Luft nach oben, bis die für fortgeschrittenere Volkswirtschaften typische Schwelle von 80 bis 85 Prozent erreicht ist. Ungeachtet der in jüngster Zeit erschienenen Berichte über schrumpfende Städte – die an die Fehlalarme über unzählige Geisterstädte erinnern – bleibt die grundlegende Nachfrage nach Immobilien in den Städten stabil. Das begrenzt auch im Falle einer Evergrande-Pleite die Abwärtsrisiken für die Gesamtwirtschaft.

Umdenken beim Wachstumsmodell

Chinas größte Probleme haben weniger mit Evergrande zu tun als vielmehr mit einem grundlegenden Umdenken hinsichtlich seines Wachstumsmodells. Zunächst befürchtete ich ein hartes Durchgreifen der Regulierungsbehörden als ich Ende Juli schrieb, dass man mit neuen Maßnahmen Chinas Internetplattformen zielgenau ins Visier nehmen wolle und so in einigen der dynamischsten Wirtschaftssektoren die “Animal Spirits” abzuwürgen drohe – wie etwa in den Bereichen Finanztechnologie, Videospiele, Online-Musik, Fahrdienste, private Nachhilfe sowie Abhol- und Zustelldienste in der Gastronomie und Lifestyle-Dienste.

So war es im Juli. Mittlerweile hat die chinesische Regierung nachgelegt, wobei sich Präsident Xi Jinping mit voller Kraft für eine Kampagne unter dem Titel “gemeinsamer Wohlstand” einsetzt, die darauf abzielt, die Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen zu beseitigen. Darüber hinaus wurde auch der Umfang der Regulierungen erweitert und zwar nicht nur, um Kryptowährungen zu verbieten, sondern auch um diese Regulierungen zu einem Instrument des Social Engineerings zu machen. So fügte die Regierung nun etwa E-Zigaretten, Alkoholkonsum in Unternehmen und die Fankultur rund um Prominente zu ihrer stetig länger werdenden Liste schlechter sozialer Angewohnheiten hinzu.

Finanzmarktreformen werden von den Behörden bekräftigt

All das verstärkt meine bereits vor zwei Monaten geäußerten Bedenken. Die neue Doppelausrichtung der chinesischen Politik – nämlich Umverteilung und Neuregulierung – trifft genau das Zentrum der marktwirtschaftlichen “Reform und Öffnung”-Strategie, die das Fundament des chinesischen Wachstumswunders seit den Tagen Deng Xiaopings in den 1980er Jahren bildete. Die neue Politik wird die für die Dynamik des chinesischen Privatsektors so wichtigen unternehmerischen Aktivitäten dämpfen und das wiederum wird nachhaltige Folgen für die nächste, innovationsgetriebene Phase der chinesischen Wirtschaftsentwicklung haben. Ohne Animal Spirits ist das Thema einheimische Innovation erledigt.

Da Evergrande nach dieser Zeitenwende in der chinesischen Politik in Schwierigkeiten geriet, haben die Finanzmärkte verständlicherweise heftig reagiert. Die Regierung hat sich beeilt, dem entgegenzutreten. Vizepremier Liu He, führender Architekt der chinesischen Wirtschaftsstrategie und ein wahrhaft herausragender makroökonomischer Denker, bekräftigte umgehend die unerschütterliche Unterstützung der Privatwirtschaft durch die Regierung. Auch die Kapitalmarktaufsichtsbehörden haben eine weitere “Öffnung” durch neue Konnektivitätsinitiativen zwischen Onshore- und Offshore-Märkten betont. Andere Regulierungsbehörden bekräftigten wiederum Chinas felsenfeste Entschlossenheit, auf Kurs zu bleiben. Vielleicht gelobt man doch etwas zu viel?

Doch wer könnte schon etwas gegen gemeinsamen Wohlstand haben? Die 3,5 Billionen Dollar schwere Wiederaufbau-Agenda “Build Back Better” von US-Präsident Joe Biden verfolgt viele der gleichen Ziele. Ungleichheit zu bekämpfen und gleichzeitig eine soziale Agenda zu konzipieren, ist für jedes Land eine riesige Herausforderung. Das ist nicht nur in Washington Gegenstand intensiver Debatten, sondern hat auch entscheidenden Einfluss auf die Aussichten Chinas.

Risiko einer Rückwärtsentwicklung des Wirtschaftswunders

Das Problem in China besteht darin, dass sein neuer Ansatz den stärksten wirtschaftlichen Trends der letzten vier Jahrzehnte zuwiderläuft: nämlich der unternehmerischen Aktivität, der blühenden Start-up-Kultur, der Dynamik des Privatsektors und der Innovation. Derzeit vernehme ich aus China Verweigerung – isolierte Argumente, in denen jedes Thema separat behandelt wird. Über Umverteilung wird getrennt von den Auswirkungen der neuen Regulierungen diskutiert.

Und auch bei der Verteidigung der Regulierungsmaßnahmen selbst verfolgt man einen isolierten Ansatz – fallspezifisch werden Argumente für eine stärkere Aufsicht der Internetplattformen, den Abbau sozialer Ängste unter gestressten jungen Menschen und die Gewährleistung der Datensicherheit angeführt.

Als Makroökonom wurde mir beigebracht, stets die kombinierten Auswirkungen wichtiger Entwicklungen zu berücksichtigen. Evergrande wird vorübergehen. Der gemeinsame Wohlstand bleibt. Rigorose Regulierungen in Verbindung mit einem Vorstoß zur Umverteilung von Einkommen und Wohlstand führen zu einer Rückwärtsentwicklung des chinesischen Wirtschaftswunders. Gelingt es der chinesischen Führung nicht, einen großen Zusammenhang herzustellen, riskiert man eine gefährliche Fehlkalkulation.  

Stephen S. Roach ist Fakultätsmitglied der Yale University, ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia und Verfasser von Unbalanced: The Codependency of America and China. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

Copyright: Project Syndicate, 2021.
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China.Table Redaktion

CHINA.TABLE REDAKTION

Licenses:
    • Was meint Xi mit “friedlicher Wiedervereinigung”?
    • Pekings unlauterer Einfluss auf internationale Institutionen
    • Hongkongs Widerstand formiert sich im Exil
    • Rettung oder Restrukturierung für Evergrande?
    • Peking überarbeitet Negativliste für Investitionen
    • Studie warnt vor Handelskonflikt
    • Stromengpass lässt Frachtkosten sinken
    • CIA rückt China in den Fokus
    • Huawei forscht in Finnland an Innovationen
    • Standpunkt: Ökonom Roach über Risiken für Chinas Wachstumsmodell
    Liebe Leserin, lieber Leser,

    Chinas Staatspräsident hat Taiwan zur einer “friedlichen Wiedervereinigung” eingeladen. Aggression und Hegemonie lägen nicht im Blut des chinesischen Volkes, ergänzte Xi zudem. Doch man sollte sich die Rede des Staatspräsidenten vom Wochenende bis zum Ende anhören. Denn sein vermeintlich friedvolles Angebot entpuppt sich schnell als eine Art Wolf im Schafspelz, wie Finn Mayer-Kuckuk analysiert. Die Positionen von Peking und Taipeh lagen noch nie derart weit auseinander. Wie kam es dazu? Und was bedeutet das für die Zukunft? Das erfahren Sie in unserer Analyse.

    Wenn diese Woche IWF und Weltbank tagen, wird ein Vorwurf die Diskussionen überschatten: Die Chefin der Weltbank soll ein Länder-Ranking im Sinne Pekings manipuliert haben. Ob sich Kristalina Georgiewa der Manipulation schuldig gemacht hat, ist noch offen. Aber ihr Fall reiht sich ein in einen größeren Trend, wie Felix Lee analysiert: China bedient sich unlauterer Mittel, um seinen Einfluss in internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen geltend zu machen. So werden afrikanischen Ländern schon mal Schulden erlassen oder ein Kredit gewährt, wenn dafür dann das Abstimmungsverhalten im Sinne Pekings ausfällt.

    Das Vorgehen Pekings gegen zivilgesellschaftliche Organisationen in Hongkong wird immer entschiedener: Gewerkschafter, Aktivisten und Medienvertreter der Stadt müssen eine Strafverfolgung durch die Behörden fürchten. Der Widerstand verlagert sich deshalb zunehmend ins Ausland, schreibt Marcel Grzanna. Er hat mit Ex-Parlamentarier Ted Hui gesprochen.

    Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!

    Ihre
    Amelie Richter
    Bild von Amelie  Richter

    Analyse

    Was meint Xi mit “friedlicher Wiedervereinigung”?

    Der Widerspruch zwischen den beiden Botschaften in der Rede von Chinas Staatspräsident Xi Jinpings am vergangenen Wochenende war offensichtlich:

    • Einerseits bot er Taiwan eine “friedliche Wiedervereinigung” an und betonte sogar: “Aggression und Hegemonie liegen nicht im Blute des chinesischen Volkes”;
    • andererseits nannte er aber die “Unabhängigkeit Taiwans” eine “Gefahr” für die Volksrepublik und drohte, das Ausland solle die Entschlossenheit Chinas nicht unterschätzen, die nationale Einheit herbeizuführen. Es handele sich bei der Taiwan-Frage um eine “innere Angelegenheit”, in die sich andere Länder nicht einmischen dürften.

    Aber jedem in der chinesischen Welt, der nicht die vergangenen sieben Jahrzehnte unter einem Stein verbracht hat, ist klar: Taiwan will sich nicht der Volksrepublik anschließen.

    Bei Xis Ankündigung kann es sich also nur um eine friedliche Wiedervereinigung mit militärischen Mitteln handeln. Das stellte auch Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen umgehend klar. Sie interpretiert die Äußerungen Xis als Drohung einer “Annexion”, der sich Taiwan mit allen Mitteln widersetzen werde. Solche Antworten an China sind indessen reine Routine und wiederholen sich regelmäßig.

    Wer sich die Ankündigungen Xis in Bezug auf Taiwan anschaut, erkennt auch in den markigen Worten von diesem Wochenende keine neue Verschärfung des Tons. Die Phrasen und Worte stellten allesamt bereits im Januar dieses Jahres die Sichtweise der Kommunistischen Partei dar. Damals waren sie sogar mit der Mahnung gepaart: formale Unabhängigkeit bedeute Krieg. Indem Xi jetzt abermals Chinas “Entschlossenheit” kundtut, das Taiwan-Problem ein für alle Mal zu lösen, nimmt er allerdings auch keine der bestehenden Drohungen zurück.

    Dazu kommen nonverbale Botschaften. China hat Anfang des Monats derart große Geschwader an Kampfflugzeugen in den taiwanischen Luftraum geschickt, wie es zuvor noch nie der Fall war. Im Gesamtbild ergibt sich deshalb eine Steigerung des Bedrohungsgrades gegenüber Taiwan – und genau das entspricht der Agenda Xi Jinpings, China auf der internationalen Bühne stärker und selbstbewusster zu präsentieren.

    Sieben Jahrzehnte politische Formeln zu Taiwan

    Am Anfang der KP-Äußerungen gegenüber der Insel stand 1958 unter Mao der “Brief an unsere Landsleute in Taiwan“. Der Vorwurf lautete, Taipeh lasse sich von Amerika gegen das eigene Land instrumentalisieren. Unterzeichner war ein hochdekorierter General der Volksbefreiungsarmee, Peng Dehuai. Mao selbst hatte kurz zuvor die Formel von der “friedlichen Befreiung Taiwans” ausgegeben. Seitdem war der Slogan gebräuchlich: “Wir müssen und werden Taiwan unbedingt befreien!” (一定要解放台湾) Der Satz wurde sogar zu einem Liedtext. Das Narrativ war gesetzt und lautete: Taiwan ist von Amerika annektiert worden und bedarf der Befreiung. In dieser Zeit entwickelte die Volksrepublik auch die Angewohnheit, Taiwans vorgelagerte Inseln zu bombardieren.

    Seitdem gab es zwei große Erneuerungen des Briefs an Taiwan: Eine im Jahr 1979 unter dem Reformer Deng Xiaoping und eine im Jahr 2019 durch Xi. Die Botschaft unter Deng war betont emotional abgefasst. Kernthema war die “Sehnsucht” nach gegenseitiger Kommunikation und nationaler Einheit, die beide Seiten verbinde. Damals hieß es aber schon: “Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes ist eine Aufgabe, der sich niemand entziehen kann.” Die Verfasser lockten jedoch mit einer “strahlenden gemeinsamen Zukunft”. Sowohl die Wirtschaft als auch das internationale Ansehen befanden sich damals im Aufschwung.

    Zwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Taiwan-Brief drehte man den Ton unter Deng also ins Positive. Die Botschaft klang respektvoll, das Angebot einer Wiedervereinigung auf Augenhöhe wirkte geradezu aufrichtig. Von “Befreiung” war zu jener Zeit keine Rede, stattdessen ließ Deng das Wort “Wiedervereinigung” verwenden.

    Xi verdreht Dengs versöhnlichen Kurs ins Aggressive

    Weitere 30 Jahre später änderte Xi den Ton dann jedoch abermals – und nicht zum Freundlicheren. Selbst die wenigen verbliebenen respektvollen Elemente klingen nun wie Drohungen. Die wichtigsten Punkte der heute noch geltenden Xi-Doktrin von 2019 sind:

    • Das einzige verbliebene Hindernis für China, um echte Größe wiederzuerlangen, ist die Weigerung Taiwans, sich der Volksrepublik anzuschließen.
    • Die Spaltung Chinas steht im Kontext ausländischer Eingriffe seit den Opiumkriegen. Die “Konfrontation” entlang der Taiwanstraße ist damit das letzte Überbleibsel der schändlichen Schwächung Chinas durch die Kolonialmächte.
    • Die Wiedervereinigung soll nach dem Prinzip “ein Land, zwei Systeme” erfolgen.
    • China “müsse und werde” wiedervereinigt werden.
    • Im Fall einer formalen Unabhängigkeitserklärung Taiwans gibt es Krieg.

    Sowohl friedliche Wiedervereinigung 和平统 als auch ein Land, zwei Systeme 一国两制 gehören hier zu den “Grundprinzipien” des politischen Denkens der Partei. Die Formeln sind jedoch längst erstarrt und werden nur routinemäßig wiederholt. Im Jahr 2019 mag der Idee “ein Land, zwei Systeme” noch ein kleiner Rest von Glaubwürdigkeit angehaftet haben. Die Formel war jedoch ursprünglich für Hongkong erdacht worden. Seit der Durchsetzung des Sicherheitsgesetzes in Hongkong (China.Table berichtete) ist von den besagten zwei Systemen jedoch wenig geblieben: In Hongkong herrschen seither fast ebenso viel Willkür und Unterdrückung der Meinungsfreiheit wie in der übrigen Volksrepublik.

    Die Lockrufe gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei

    Die schwülstigen Appelle an Chinas Größe und die Botschaften an die “Volksgenossen” oder “Landsleute” auf der Insel gehen derweil völlig am dortigen Lebensgefühl vorbei. Junge Leute dort identifizieren sich als “Taiwaner”, nicht als “Taiwan-Chinesen” und schon gar nicht als “Chinesen”.

    Sie sehen sich auch kulturell nicht in einer Kontinuität mit dem Festland. Deshalb haben sie auch Präsidentin Tsai ins Amt gewählt: Sie hat einen selbstbewussteren Kurs gegenüber Peking versprochen.

    Tatsächlich sorgt Tsai gegenüber der Xi-Doktrin für eine klare Abgrenzung. Das zeigt auch ihre eindeutige Reaktion auf Xis Rede vom Wochenende. Sie nahm eine Militärparade ab und betonte die Verteidigungsbereitschaft ihres Landes. Doch auf diese Weise ist weiterhin kein Ausweg in Sicht, der beide Haltungen vereinen würde. Fest steht nur: Im Falle Taiwans bleibt die “friedliche Wiedervereinigung” ein Widerspruch in sich.

    Unter Tsais Vorgängerregierungen der Guomindang (KMT) war ein Annäherungsszenario zumindest denkbar. Das galt insbesondere als die Führungsgeneration um Hu Jintao in Peking das Sagen hatte. Ihr konnte man eine Verwirklichung von “ein Land, zwei Systeme” noch grundsätzlich abnehmen. In den Amtszeiten von Xi und Tsai gehen die Vorstellungen nun jedoch so weit auseinander, dass es nur einen Weg in die Zukunft gibt: den Erhalt des Status quo. Wer genau hinhörte, fand diesen Ausdruck tatsächlich auch in der Gegenrede Tsais. Taiwan wolle kämpfen, um den Status quo zu erhalten, sagte sie am Sonntag.

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    Manipulation zugunsten Pekings? Streit um IWF-Chefin

    Die Vorwürfe häufen sich: Chinas Führung soll systematisch Macht in internationalen Organisationen ausüben, um eigene Interessen durchzusetzen. So hatte beispielsweise die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausbreitungsgefahr von Covid-19 offenbar wochenlang heruntergespielt – im Sinne Pekings. Und auch bei den Vereinten Nationen beklagen sich immer wieder Diplomaten über Chinas zum Teil dreiste Einflussnahme. Nun steht auch IWF-Chefin Kristalina Georgiewa in der Kritik. Die bulgarische Ökonomin soll bei ihrer Arbeit für die Weltbank Studienergebnisse im Sinne Chinas verfälscht haben.

    Die heutige Direktorin des Internationalen Währungsfonds hatte 2019 übergangsweise die Weltbank geleitet. Ihr wird vorgeworfen, in dieser Zeit ein wichtiges Länderranking zugunsten Chinas manipuliert zu haben. Hintergrund ist ein Untersuchungsbericht der US-Anwaltskanzlei WilmerHale. Georgiewa und andere führende Vertreter der Weltbank sollen “unangemessenen Druck” auf Mitarbeiter ausgeübt haben, damit China im Ranking des “Doing Business”-Berichts für 2018 besser abschneidet. Die Volksrepublik landete schlussendlich auf Platz 78, nachdem es in einem ersten Entwurf noch auf Rang 85 gelegen hatte. Die Kanzlei WilmerHale legt in ihrem Bericht nahe, dass Georgiewa als damalige Geschäftsführerin der Weltbank unlautere Mittel eingesetzt habe, um dieses Ergebnis herbeizuführen.

    Die Weltbank selbst hat inzwischen die Methodik des Reports von einer Kommission überprüfen lassen. Die Experten haben erhebliche Schwächen aufgedeckt. Tatsächlich ist die Art der Auswertung anfällig für Interpretationen und unterschiedliche Gewichtungen. Als Konsequenz hat die Institution die Veröffentlichung des Berichts inzwischen eingestellt. Über die Vorwürfe gegen Georgiewa sagen diese Vorgänge jedoch ausdrücklich noch nichts.

    Im Doing-Business-Report hat die Weltbank alljährlich sämtliche Länder nach deren Investitionsklima bewertet. Der Fokus liegt darauf, wie gut die jeweiligen regulatorischen Bedingungen für Unternehmen sind. Der Report diente als wichtiger Kompass sowohl für private Investoren als auch staatliche Geldgeber. Was den Verdacht der Datenmanipulation nährt: Im Jahr 2019 versuchte die Weltbank Unterstützung von der Führung in Peking für eine große Kapitalerhöhung zu erhalten. 

    Ökonom Jeffrey Sachs: “Antichinesische Hysterie”

    US-Abgeordnete im Kongress haben in der vergangenen Woche deshalb die Eignung der 68-jährigen Ökonomin für den IWF-Posten infrage gestellt. Auch amerikanische Ökonomen, darunter der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Romer, der kurzzeitig auch Chefökonom der Weltbank war, erheben schwere Vorwürfe gegen Georgiewa. Die Zeitschrift “Economist” hat sogar ihren Rücktritt gefordert.

    Die IWF-Chefin selbst hat die Anschuldigungen mehrfach zurückgewiesen. Ihre Anwälte bezeichnen die Manipulationsvorwürfe als “fehlerhaft”. Mehrere europäische Regierungen wollen sich nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters wohl hinter Georgiewa stellen und sie trotz der Vorwürfe unterstützen. Insider erklärten, dass neben Frankreich auch Großbritannien, Deutschland und Italien Georgiewa den Rücken stärken wollen. Die EU hatte die ehemalige Brüsseler Kommissarin seinerzeit für die IWF-Posten nominiert. Doch es finden sich noch weitere Unterstützer, beispielsweise der renommierte Entwicklungsökonom Jeffrey Sachs. Er schrieb in der Financial Times, hinter den Vorwürfen stecke “antichinesische Hysterie”

    Nach einem ersten Krisentreffen am vergangenen Freitag hatte der 24-köpfige Vorstand des IWF die Entscheidung über Georgiewa vertagt. Finanzminister, Zentralbanker, Vertreter der Finanzwirtschaft und der Entwicklungszusammenarbeit treffen sich seit diesem Montag zur Jahrestagung der Weltbank und des IWF. Eine Entscheidung über die berufliche Zukunft von Georgiewa soll im Laufe der nächsten Tage fallen.

    Peking bedient sich unlauterer Mittel

    Versucht Chinas kommunistische Führung, ihren wachsenden Einfluss auf internationale Organisationen für ihre Zwecke auszuspielen? Sollte sich gar die gezielte Manipulation eines renommierten Reports der wichtigsten Entwicklungsbank der Welt bestätigen, würde es sich um einen weiteren Beleg für diese Annahme handeln.

    Es gibt indessen noch weitere Beispiele dafür, wie Peking auf der internationalen Bühne immer mehr Einfluss nimmt. Vor allem, wenn es um Taiwan geht oder Kritik etwa des UN-Menschenrechtsrates an Chinas anhaltende Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und Hongkong, wird China aktiv. Die Zusammenarbeit vieler UN-Unterorganisationen mit Taiwan hat die kommunistische Führung bereits mehrfach behindert. Einige Kooperationen konnte sie gar komplett stoppen. Peking war es auch gelungen, einen Vertreter der unterdrückten uigurischen Minderheit von einem UN-Treffen auszuschließen.

    Vier der insgesamt 15 UN-Sonderorganisationen werden inzwischen von Vertretern aus Peking geleitet. Was die Pflichtbeiträge betrifft, ist die Volksrepublik seit 2019 zwar zweitgrößter Beitragszahler der Vereinten Nationen und trägt zwölf Prozent der UN-Ausgaben. Mit 22 Prozent der gesamten Zahlungen sind die USA aber unangefochten die Nummer eins. Dennoch leitet China überproportional viele der Unterorganisationen. 

    Kein Wunder: Peking bedient sich durchaus unlautere Mittel, wenn es um die Besetzung von Positionen geht. Um etwa den Vorsitz der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation zu erlangen, erließ China dem Wall Street Journal zufolge dem afrikanischen Land Kamerun Schulden in Höhe von 78 Millionen US-Dollar. Prompt zog Kamerun seinen Kandidaten für den Vorsitz zurück. Bei der gleichen Wahl versprach Peking zudem Uganda Investitionen in Höhe von 25 Millionen Dollar für seine Stimme. Uganda stimmte daraufhin für den chinesischen Kandidaten. Zudem hatten Chinas Delegierte die eigentlich geheime Wahl auch noch gefilmt und fotografiert. So wollten sie sicherstellen, dass die Länder auch tatsächlich wie von der KP-Führung in Peking gewollt, abstimmten.

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    Hongkongs Widerstand wandert ab

    Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam lobte am Mittwoch das Nationale Sicherheitsgesetz über den grünen Klee. Das Chaos in der Stadt sei eingedämmt, und es sei sichergestellt, dass künftig ausschließlich “Patrioten” die Metropole verwalten würden, sagte Lam in ihrer Grundsatzrede vor dem Hongkonger Legislativrat. Der chinesischen Zentralregierung sei es gelungen, ihrem Anspruch bei der Umsetzung des Konzeptes “ein Land, zwei Systeme” treu zu bleiben.

    Bis vor einigen Jahren hätte ihre Rede wohl heftigen politischen Widerstand in der Stadt erzeugt. Doch all jene, die Lams Darstellung bestenfalls für die halbe Wahrheit halten, hat das Nationale Sicherheitsgesetz zum Schweigen gebracht. Politische Opposition findet in Hongkong nicht mehr öffentlich statt. Der zivile Widerstand gegen Pekings autoritäre Übernahme der Metropole verlagert sich zunehmend ins Ausland.

    Während sich örtliche zivile Organisationen und unabhängige Medienunternehmen reihenweise auflösen, weil sie eine strafrechtliche Verfolgung unter dem Sicherheitsgesetz fürchten müssen, stärken Hongkonger im Exil ihre Lobbyarbeit in Nordamerika, Europa und Australien. Wachsenden Einfluss versuchen ehemalige Politiker der Stadt und Aktivisten vor allem in der US-Hauptstadt Washington zu nehmen.

    Mitglieder des Hongkong Democratic Council (HKDC) hatten dort schon 2020 vor dem US-Kongress ausgesagt und die Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten angeprangert. Inzwischen hat sich das Council personell neu formiert. Die früheren Hongkonger Politiker Nathan Law, Ted Hui und Sunny Cheung verstärken das HKDC als neue Mitglieder im Beirat. In London bekommt die Menschenrechtsorganisation Hongkong Watch neuen Wind durch das Engagement der Exilanten. In Norwegen, Österreich und der Schweiz haben sich pro-demokratische Interessengruppen gebildet, auch in Australien und Kanada bauen die Aktivisten Kommunikationskanäle in die Politik auf.

    Allianzen mit Uiguren und Tibetern

    Über den halben Erdball verteilt streben die Aktivisten dennoch ein gemeinsames Ziel an: Ausländische Unterstützung für die Zivilgesellschaft in Hongkong zu formieren und sich gleichzeitig mit tibetischen und uigurischen Organisationen zu verknüpfen, um zusammen mehr Einfluss auf demokratische Regierungen auszuüben. Sie möchten nicht nur aufmerksam machen auf die Situation in Hongkong, sondern auch für die zunehmende “Infiltration von liberalen Gesellschaften durch die Kommunistische Partei Chinas” sensibilisieren, wie der Ex-Parlamentarier Ted Hui im Gespräch mit China.Table betont.

    Hui lebt mit Frau und zwei Kindern im australischen Adelaide. Mit seinen Mitstreitern vor Ort hat er ein Bildungsangebot geschaffen, das in seiner Muttersprache Kantonesisch außerschulische Weiterbildung bietet. Das Ziel: Zumindest aus der Entfernung einer weiteren politischen Sinisierung Hongkongs etwas entgegenzusetzen und demokratische Werte zu fördern. Auch in Melbourne gibt es nun solch ein Angebot. “Weltweit verbreitet die KP ihre Propaganda über Bildungseinrichtungen im Ausland. Wir bieten ein ideologisches Gegengewicht, damit Hongkongs Kultur und Sprache nicht exklusiv durch chinesische Regierungskanäle kuratiert wird“, sagt Hui.

    Zumal der Strom der Auswanderungswilligen nicht abreiße. Täglich würden 1.000 bis 2.000 Menschen Hongkong mit der Absicht verlassen, nicht mehr zurückzukehren. Die fortschreitend erzwungene Auflösung der Zivilgesellschaft in der Stadt versetzt die Menschen in große Sorge. Zahlreiche Organisationen befinden sich in Auflösung oder sind bereits abgewickelt:

    • die Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China, Ausrichter der inzwischen untersagten Mahnwache zum Jahrestag des Tiananmen-Massakers,
    • die Hong Kong Civil Human Rights Front (CHRF),
    • die Hong Kong Democratic Party,
    • die Hong Kong Professional Teachers Union oder
    • der 612 Humanitarian Relief Fund, ein Spendenfonds zur finanziellen Unterstützung der Protestbewegung von 2019.

    Führende Köpfe befinden sich teilweise in Haft oder erwarten Strafverfolgung, weil sie von den Behörden unter Regierungschefin Carrie Lam als “feindlich” eingestuft und der Kollaboration mit ausländischen Kräften beschuldigt werden, was seit dem Sicherheitsgesetz mit langen Haftstrafen geahndet werden kann. Die Lehrervereinigung mit ihren 95.000 Mitgliedern, die seit Mitte der 1970er-Jahre das Bildungswesen der Stadt demokratisch geprägt hatte, geriet ins Kreuzfeuer chinesischer Staatsmedien, die sie als “Tumor” bezeichneten (China.Table berichtete). Zahlreiche unliebsame Lehrer an Schulen und Universitäten sind bereits aus dem Staatsdienst entlassen worden.

    China ködert mit “guten Jobs”

    Die chinesische Zentralregierung sieht zwischen der Wucht der politischen Säuberung und der Flucht Zehntausender Familien aus der Stadt offiziell jedoch keinen Zusammenhang. Im Gegenteil befinde sich die Stadt “auf dem richtigen Weg”, wie der Sonderbeauftragte für Hongkong und Macau, Huang Liuquan, kürzlich bei einem Besuch betonte. Jungen Menschen aus Hongkong empfahl er, in der Volksrepublik nach guten Jobs Ausschau zu halten.

    Unabhängige, chinesischsprachige Medien, die Pekings Position kritisch kommentieren könnten, gibt es kaum mehr in Stadt. Nach der Einstellung der pro-demokratischen Tageszeitung Apple Daily Ende Juni, hat sich auch deren Muttergesellschaft Next Digital aufgelöst. Deren Verantwortliche inklusive ihres Gründers und Verlegers Jimmy Lai sitzen in Haft.

    Die öffentlich-rechtliche Sendeanstalt RTHK setzt ihre Arbeit derweil zwar fort, hat aber neue Richtlinien erhalten, die sie beauftragen, zum Erhalt der “konstitutionellen Ordnung” zu sorgen. Im Klartext bedeutet das: Propaganda im Sinne Pekings. Teile des RTHK-Programms wurden deshalb schon gestrichen. Auf dem Sendeplatz des traditionellen City-Forums am Sonntagabend, das jahrzehntelang in Live-Diskussionen diverse Meinungen zu Wort kommen ließ, zeigt RTHK jetzt historische Bürgerkriegsdramen, die von den Erfolgen der Kommunistischen Partei erzählen.

    “Weckruf für die Europäische Union”

    Auch die Zensur des Internets nimmt zu. Die Polizei genießt inzwischen erweiterte Befugnisse, um digitalen Dissens im Keim zu ersticken. Mit der exterritorialen Reichweite des Sicherheitsgesetzes im Rücken versuchen die Behörden außerdem, auch ausländische Serverbetreiber auf Linie zu bringen und ungewünschte Inhalte nicht zuzulassen.

    “Die Niederschlagung der gesamten demokratischen Infrastruktur und der Rechtsstaatlichkeit in Hongkong geht nicht nur in einer Geschwindigkeit vor sich, die jeden überrascht. Sie zeigt auch das wahre Gesicht der Kommunistischen Partei Chinas, die nicht einen Funken politischen Dissens akzeptiert“, sagt der frühere dänische Kulturminister Uffe Elbaek zu China.Table.

    Das Sicherheitsbüro in Hongkong hatte zu Jahresbeginn ein Ermittlungsverfahren gegen Elbaek eingleitet – eben auf Basis jener exterritorialen Reichweite des Sicherheitsgesetzes. Der Politiker hatte mit einem Täuschungsmanöver gegenüber der Behörden Hongkongs seinem Amtskollegen Ted Hui zur Flucht aus der Stadt verholfen.

    “Das ist ein Weckruf für die Europäische Union. Die Europäer müssen begreifen, mit wem sie es zu tun haben”, sagt Elbaek. Der Grünen-Politiker fürchtet, dass Hongkong nur das Vorspiel sein könnte für eine Eroberung des Inselstaats Taiwan. “Die Parole ‘Heute Hongkong, morgen Taiwan’ sollten wir, die demokratischen Staaten dieser Welt, sehr, sehr ernst nehmen.” Die Volksrepublik betrachtet die Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, als untrennbaren Teil ihres Territoriums.

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    Evergrande: Wie viel Risiko akzeptiert Peking am Finanzmarkt?

    Keiner kann sagen, dass China in der Krise zu weitreichende Sicherheitsnetze spannt. Allein im ersten Halbjahr sind Dutzende große Firmen in die Insolvenz gegangen, was zusammen 15 Milliarden Euro an Schulden hinterlassen hat. Die Finanzaufsicht und die Zentralbank zeigen also durchaus Mut zur Pleite. In einer Staatswirtschaft könnte die Regierung im Prinzip alles retten, das in Schieflage gerät. Doch sie hält sich mit Eingriffen zurück.

    Zugleich lässt der langsame Untergang des Immobilienentwicklers Evergrande Beobachter und Marktteilnehmer jedoch rätseln. Wie viel echtes Risiko traut sich Peking? Einerseits hat die KP Chinas mehrfach angekündigt, im Finanzwesen immer mehr auf Marktkräfte zu setzen. “Wir beschleunigen die Entwicklung eines vielschichtigen Kapitalmarkts”, sagte Premier Li Keqiang 2014. “Wir entwickeln einen gut funktionierenden Anleihemarkt.”

    Für einen gut funktionierenden Anleihemarkt sind einerseits auch reale Ausfallrisiken nötig. Doch von dem Schicksal der Evergrande-Gruppe hängt andererseits zu viel ab. Vom einfachen Wohnungskäufer bis zur Großbank hängen ganz unterschiedliche Akteure mit drin. Zudem drohen Systemrisiken in Chinas überschuldeten Immobiliensektor. Schon jetzt tun sich auch andere Firmen der Branche schwer, ihre Anleihen umzuwälzen.

    Peking befindet sich also in einem Dilemma zwischen der Wahrung der Stabilität, auf die sie so stolz ist, und der Schaffung eines funktionierenden Anleihemarktes. In einem selbsttragenden Kapitalmarkt müssen die Anleger jedoch auch die Risiken großer Institutionen mittragen. Das weiß die Führung, und daher will sie durchaus auch die Marktkräfte walten und Investoren im Zweifelsfall leer ausgehen lassen, wenn sie die falsche Wette abgeschlossen haben.

    Wie viel Risiko verträgt der Sozialismus?

    Doch zu groß dürfen diese nun offenbar auch nicht sein, wie zuletzt wieder eine Reihe von Rettungsaktionen gezeigt hat. Huarong Asset Management ist im Frühjahr für sechseinhalb Milliarden Euro gerettet worden. Das Vorgehen war hier ganz konventionell. Staatsbanken haben die Schulden von Huarong übernommen. Das ebenfalls überschuldete HNA-Konglomerat geht derweil durch eine Restrukturierung, die den verbleibenden Wert der Gruppe anerkennt (China.Table berichtete).

    Peking versucht hier ganz offensichtlich, einen Mittelweg zu steuern, der immer näher an die Nutzung von Marktkräften heranführt. Dabei ist klar, dass keines der Extreme auf der Bandbreite der Finanzmarktsysteme für China infrage kommt. Diese zwei Extreme wären eine perfekte Marktwirtschaft auf der einen Seite und reiner Sozialismus ohne Kapitalmarkt auf der anderen Seite.

    In einer perfekten Marktwirtschaft gibt es keine Rettungen. Wer scheitert, kann eben seine Schulden nicht zurückzahlen. Die Marktteilnehmer müssen dann den Verlust ihrer Investition hinnehmen. Dementsprechend vorsichtig und klug werden sie ihr Kapital einsetzen. Sie werden es nur guten Firmen anvertrauen. Im reinen Sozialismus gibt es dagegen keine geschäftlichen Risiken. Dafür werden die vorhandenen Ressourcen schlecht genutzt. Ineffizienz, Erfolglosigkeit, Faulheit, Fehlentscheidungen – all das ist für einen zünftigen Staatsbetrieb ziemlich gleichgültig. Es geht nach einem Tadel für die Nichterfüllung des Plans immer weiter.

    Peking sucht den Mittelweg

    China kommt nun vom zweiten Modell her und hat nach Jahrzehnten der Reformen einen Punkt erreicht, an dem sich die positiven Effekten des ersten Modells zeigen. Diese positiven Effekte hängen jedoch davon ab, dass der Staat dann doch nicht immer eingreift, wenn es hart auf hart kommt. Das erfordert viel Disziplin. Auch demokratische Politiker in einer sozialen Marktwirtschaft lassen sich gerne für Rettungen feiern, auch wenn sie wirtschaftlich keinen Sinn ergeben. Wenn die Folgeschäden eines Kreditausfalls katastrophal sind, erhalten die Maßnahmen generell viel Zustimmung. Vor allem wenn ein Dominoeffekt quer durch Finanz- und Realwirtschaft droht.

    Im Fall Evergrande ist es nun interessant zu beobachten, wie sich die chinesische Regierung verhält. Sie hat den Immobiliensektor selbst ins Rutschen gebracht, indem sie mit den “drei roten Linien” neue Kapitalanforderungen gestellt hat. Es gilt andererseits als sicher, dass sie keine katastrophale Pleite zulassen wird.

    Stattdessen wird sie den Immobilienmarkt und das Finanzsystem von einer möglichen Implosion von Evergrande isolieren. Denn eine unkontrollierte Insolvenz würde gleich drei Politikziele in Gefahr bringen: die Zufriedenheit der chinesischen Immobilienkäufer, den Bau neuer Wohnungen und nicht zuletzt das internationale Image der chinesischen Wirtschaft.

    Die Risiken eines Vollkasko-Finanzwesens

    Als die US-Bank Lehman Brothers vor 13 Jahren ihren Insolvenzantrag stellte, zeigte sich China fast etwas schadenfroh. Die eigene Finanzbranche brachte solche verdeckten Systemrisiken nicht hervor, weil sie simpler war. Vor allem gelang es Peking mit staatlichen Eingriffen, das Wachstum ausgerechnet im Krisenjahr nach absoluten Werten auf einen Rekord zu hieven. Das sollte die Überlegenheit des eigenen Wirtschaftsmodells zeigen. Eine Evergrande-Pleite mit weitreichenden Systemfolgen wird Staatschef Xi Jinping daher verhindern lassen – egal, was es kostet. Statt einer Rettung des Unternehmens in seiner bestehenden Form wäre beispielsweise eine Übernahme des Immobilienbestands samt Schulden durch staatliche Banken möglich.

    Die Kosten wären dabei jedoch höher als der reine Preis für die Lösung. Denn auch wenn zuletzt ab und zu eine Bankeninsolvenz möglich war, verlassen sich die Anleger weiterhin auf die staatliche Rettung. Ein glaubwürdiger Anleihe-Markt braucht jedoch Risiken. Wenn der Staat letztlich für alles haftet, dann erhalten Anleger immer nur Minimalzins, wenn sie Firmen Geld leihen. Denn der Zins ist auch eine Entschädigung für das Risiko. Ohne Risiken gibt es keine sonderlich hohen Zinschancen.

    Außerdem geben sich Anleger in einem Vollkasko-Finanzwesen keine Mühe, ihr Geld nur an vertrauenswürdige Unternehmen zu vergeben. Die Mühe zur Erkennung guter und schlechter Geschäftsmodelle lohnt sich für sie nicht. Ohne Ausfallrisiko schwindet also auch die Überwachungsfunktion des Marktes.

    Ein vitaler Anleihemarkt entlastet die Aufseher

    Die Vorteile eines funktionierenden Finanzmarktes möchte die kommunistische Regierung jedoch stärken, um nicht weiterhin alles per Hand überwachen zu müssen. Die Zentralbank und die Aufsichtsbehörden überwachen das Finanzwesen immer noch viel zu kleinteilig. In einer zur Hälfte privatisierten Volkswirtschaft mit einem Volumen von zehn Billionen Euro ist dieses Mikromanagement aber eigentlich unmöglich geworden. China hätte also ein Interesse daran, Marktkräfte walten zu lassen. Doch es gelingt der Führung bisher nicht, wirklich loszulassen.

    Tatsächlich haben Europa und die USA heute ähnliche Probleme, und Japan schlägt sich schon seit den 1990er-Jahren damit herum. Ökonomen sehen hier generell eine Krise des Kreditwesens. Der unabhängige Ökonom Richard Duncan diagnostiziert hier sogar eine Grundkrise des kapitalistischen Systems. Dieses sollte zumindest eins können: Kapital in die wirtschaftlich aussichtsreichsten Kanäle leiten. Die Zinsen sind jedoch schon seit über einem Jahrzehnt ultraniedrig.

    Duncan stellt fest, dass der Kapitalismus, in dem Geld im Regelfall knapp und kostbar sein sollte, durch einen “Kreditismus” ersetzt wurde, indem Wachstum durch immer höhere Kreditvergabe geschaffen wird. Es ist hier zu einem guten Teil egal, wo das Kapital hingeht. Am Anleihemarkt bringt es ohnehin kaum Zinsen. Der Aktienmarkt- und der Immobilienmarkt wiederum wird vom vielen Kapital derweil fast naturnotwendig aufgeschwemmt.

    Von letzterem Effekt hat auch  Evergrande profitiert. Der chinesische Kapitalismus ist eben auch eher ein Kreditismus mit chinesischen Charakteristiken. Geld gab es immer reichlich. Üppige Finanzierung ist die Grundlage des Wachstumsmodells. Die Regierung hat zwar versucht, die Mittel in sinnvolle Kanäle zu lenken und Dämme durch die Wirtschaft zu ziehen. Am Ende landet das Kapital in China aber eigentlich immer am Immobilienmarkt. Die Gewinne in diesem Segment waren traumhaft und erschienen sicher. Dementsprechend hat sich auch Evergrande präsentiert. Gespräche mit Anlegern bestätigen heute die ursprüngliche Erwartung, dass Peking so ein Unternehmen keinesfalls untergehen lassen werde (China.Table berichtete).

    Das Kartenhaus musste einstürzen

    Es war nun wichtig, das finanzielle Kartenhaus Evergrande zunächst einmal einstürzen zu lassen. Sonst hat der chinesische Anleihemarkt keine Chance, jemals glaubwürdig Risiken abzubilden. Zudem passt ein Zusammenbruch von Evergrande zum derzeitigen Kurs, schwerreiche Privatunternehmer in ihre Schranken zu verweisen.

    Die chinesischen Wirtschaftsplaner haben sich nun aber eine durchaus sinnvolle Strategie ausgedacht, um die Auswirkungen der Mega-Pleite einzugrenzen. Evergrande selbst darf demnach durchaus kollabieren. Doch um den Kern der Probleme herum will sie Mauern ziehen. Indem sie an den entscheidenden Punkten Kapital zuschießt, verhindert sie ein Übergreifen auf andere Unternehmen. Um einen Pandemie-Vergleich zu bemühen: Sie will den infizierten Evergrande-Konzern isolieren, um weitere Ansteckungen zu verhindern. Eine Reihe von großen Investoren wird Verluste tragen müssen, während die Wohnungskäufer vor den Folgeschäden geschützt sein sollen.

    Erste Effekte der Insolvenzen, die China erlaubt und sogar herbeiführt, zeigen sich bereits am Anleihemarkt. Mit der Rückkehr des Risikos steigen sowohl die Rendite und die Verzinsung. Die Rendite steigt, während die Kurse am Markt sinken – diese beiden Kennzahlen verhalten sich bei Anleihen gegenläufig. Die Zinsen steigen, weil sich Anleger die ganz offensichtlich größeren Risiken künftig mit höheren Aufschlägen bezahlen lassen. Das bedeutet aber auch, dass sich Geldanlagen in Anleihen künftig wieder mehr lohnen und sie als Option für Anleger zurückkehren. Auch wenn eine unkontrollierte Pleite von Evergrande katastrophal wäre und verhindert werden wird: Die Zulassung von moderaten Risiken könnte sich für Peking weiter auszahlen.

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    News

    Regierung aktualisiert Sperrliste für Investitionen

    Die Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) überarbeitet ihre Negativliste für Investitionen in China. Das Ministerium bittet derzeit die Öffentlichkeit um Stellungnahmen und Vorschläge für die Überarbeitung des Dokuments. Streichungen von oder Hinzufügungen zu dieser Sperrliste haben weitreichende Folgen. In Branchen und Produktklassen, die auf der Liste genannt sind, dürfen weder ausländische noch chinesische Akteure investieren. Bereiche, die darin nicht aufgeführt werden, sind ohne weitere Prüfung offen für Investitionen.

    Auf dem Entwurf der Neuauflage stehen 117 Positionen, sechs weniger als auf der Vorjahresversion. So sind beispielsweise Online-Versicherer weggefallen. Dafür ist ein eigener Abschnitt für Medienunternehmen hinzugekommen. Jede Sorte von Geschäftstätigkeit, die mit Recherche und Aufbereitung von Information zu tun hat, steht jetzt gebündelt auf der Liste. Das Magazin Caixin weist allerdings darauf hin, dass es sich hier eher um eine Neuordnung und Klärung vorhandener Einträge handele als um eine Hinzufügung. Zu den verbotenen Branchen könnte künftig auch alles gehören, was mit Krypto-Währungen wie Bitcoin zu tun hat. fin

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    Studie warnt vor Handelskonflikt mit China

    Eine Studie des “Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche” (wiiw) warnt die Europäische Union vor einem Handelskonflikt mit China. Im Vergleich zu den wirklich brisanten Szenarien seien die aktuellen Unregelmäßigkeiten noch vergleichsweise harmlos. “Wirklich gefährlich wäre ein Stopp von Exporten aus politischen Gründen im Rahmen eines Handelskonfliktes, wie er derzeit zwischen den USA und China tobt”, meint Robert Stehrer, wissenschaftlicher Leiter des wiiw und Co-Autor der Studie “Learning from tumultous times: An analysis of vulnerable sectors in international trade in the context of the Corona health crisis“.

    Aufgrund von US-Sanktionen haben chinesische Technologiefirmen den Zugang zu Chips und Software aus amerikanischer Herstellung verloren (China.Table berichtete). “Ähnliches könnte Europa eines Tages in umgekehrter Richtung drohen. Von den Auswirkungen eines bewaffneten Konflikts um Taiwan, das bei Halbleitern teilweise fast ein globales Produktionsmonopol hat, einmal ganz abgesehen”, sagt Stehrer.

    Ein Drittel aller Importe in die Europäische Union seien anfällig für Turbulenzen im Welthandel. Vor allem Deutschlands Industrie sei demnach stark betroffen. “Insbesondere bei Hochtechnologie und Medizinprodukten stellen wir eine große Abhängigkeit von asiatischen Produzenten fest, allen voran aus China”, sagt Stehrer. China ist immerhin der zweitwichtigste Handelspartner der EU. Sein Anteil an den EU-Importen beträgt 48,8 Prozent.

    Gemeinsam mit Oliver Reiter hat sich Stehrer angesehen, welche Produkte und Sektoren in der EU am anfälligsten für weltwirtschaftliche Schocks. Das Ergebnis: Von 4.700 untersuchten Gütern weisen knapp 10 Prozent ein erhebliches Verfügbarkeitsrisiko auf, da sie sehr konzentriert und oftmals außerhalb Europas hergestellt werden. Ein großer Teil davon entfällt auf Hightech-Produkte wie Elektronik oder Maschinen. Ihr Wertanteil am Warenhandel ist relativ hoch: In Deutschland sind es 35%, im EU-Schnitt immerhin 30%.

    Bei Erzeugnissen wie Medikamenten oder grundlegenden Zulieferteilen zukunftsweisender Technologien wie Computerchips müsse Europa deshalb ernsthaft über ein Zurückholen der Produktion nachdenken, empfiehlt die Studie. “Nur wenn wir Schlüsselindustrien wie Halbleiter wieder selbst in der Hand haben, bleiben wir langfristig wettbewerbsfähig”, erklärt Stehrer. rad

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    USA und China nehmen Handelsgespräche auf

    Chinas Vizepremier Liu He und die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai haben am Samstag Gespräche aufgenommen, um die Handelsstreitigkeiten zwischen den beiden Ländern zu schlichten. Beide Seiten haben “ihre Kernanliegen zum Ausdruck gebracht” und “sich bereit erklärt, die berechtigten Bedenken des jeweils anderen durch Konsultationen zu lösen”, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nach der Videoschalte der beiden. Es ist das zweite Mal, dass die Unterhändler miteinander sprachen. Zuletzt hatten sich Liu und Tai im Mai in einem Telefonat über Wirtschafts- und Handelsfragen ausgetauscht.

    Zu Beginn der vergangenen Woche hatte die amerikanische Handelsbeauftragte Katherine Tai die neue US-Handelsstrategie zu China vorgestellt (China.Table berichtete). Tai sagte in der Rede, dass die Biden-Regierung eine neue Runde von Handelsgesprächen mit China anstreben werde, schloss jedoch neue Zölle nicht aus. Sie sagte auch, dass die USA “weiterhin ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Staats-zentrierten und nicht marktorientierten Handelspraktiken Chinas” haben. niw

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    Frachtkosten zwischen China und USA fallen

    Die Frachtkosten für den Containerversand zwischen China und USA sind deutlich gefallen. Als Grund sehen Branchenexperten den Stromengpass in China, der sich auf die Produktion der Unternehmen auswirkt (China.Table berichtete). Auch die anstehende Nebensaison drückt auf die Preise.  

    Ein leitender Angestellter einer Shanghaier Spedition sagte Caixin, dass die Kosten für den Versand eines 40-Fuß-Containers von China an die US-Westküste Ende September um die Hälfte gefallen sind – von etwa 15.000 auf knapp 8.000 US-Dollar. Auch Richtung US-Ostküste sind die Preise zuletzt von über 20.000 US-Dollar um mehr als ein Viertel auf unter 15.000 US-Dollar zurückgegangen. Vor der Pandemie lagen die Kosten der Spediteure in der Regel bei etwa 1.500 US-Dollar.

    Geringe Kapazitäten, Staus an den Häfen weltweit und fehlende Container (China.Table berichtete) hatten die Frachtkosten erst Anfang September auf ein Rekordhoch steigen lassen. niw

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    CIA richtet China-Zentrum ein

    Der Auslandsgeheimdienst der USA (CIA) hat die Einrichtung eines neuen China-Zentrums angekündigt. Das China Mission Center “wird unsere gemeinsame Arbeit an der wichtigsten geopolitischen Bedrohung, die uns im 21. Jahrhundert entgegensteht, nämlich eine zunehmend feindlich gesinnte chinesische Regierung, stärken”, erklärte CIA-Direktor William Burns in einer Mitteilung, wie Reuters berichtete.

    Die Einsatzzentren sind eigenständige Einheiten, die Ressourcen aus der gesamten CIA nutzen. Solche Einheiten gibt es bereits für Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung und den Nahen Osten. Burns sagte, das Missionszentrum werde dazu beitragen, die bisherige Arbeit des Geheimdienstes über China zusammenzuführen.

    Burns hatte bereits bei Bestätigungsanhörung im US-Senat im Februar China als eine seiner Prioritäten festgelegt. Der erfahrene Diplomat nannte Chinas “feindliche, räuberische Führung” die größte Bedrohung für die USA und sagte, Pekings Ziel sei es, “die Vereinigten Staaten als mächtigste und einflussreichste Nation der Welt abzulösen”. ari

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    Huawei eröffnet Innovationszentrum in Helsinki

    Der chinesische Telekommunikationsausrüster Huawei hat ein Innovationszentrum in Finnland eröffnet. Im Digital Finance and Security Innovation Lab (Fin²Sec) in Helsinki sollen Medienberichten zufolge Innovationen im Zusammenhang mit Partnern vor Ort entwickelt werden. Der Fokus liegt dabei auf der Digitalisierung von Bank-, Finanz- und Zahlungsdiensten in Europa, wie der Tech-Blog Gizmo China berichtete. Huawei kooperiert dazu demnach unter anderem mit der Aalto-Universität, der Universität Helsinki und weiteren Partnern wie Banken und Fintechs aus ganz Europa. In dem Lab sollen nicht nur neue Konzepte entwickelt, sondern auch Erfahrungen und Herausforderungen ausgetauscht werden, sagte Adam Rybusiewicz von Huawei dem Bericht zufolge.

    Für Huawei ist die Einrichtung des Zentrums ein seltener Erfolg im Baltikum. Die Länder dort sind dem chinesischen Konzern gegenüber eher skeptisch eingestellt. Das finnische Parlament hatte im Dezember ein Gesetz verabschiedet, das es Behörden ermöglichen würde, die Verwendung von Telekommunikationsnetzgeräten zu verbieten, wenn sie “schwerwiegende Gründe für den Verdacht haben, dass die Verwendung des Geräts die nationale Sicherheit oder Landesverteidigung gefährdet”.
    Im Gegensatz zu seinem Nachbarn Schweden hat Finnland bisher keinen Anbieter aufgrund seines Herkunftslandes verboten und nannte auch Huawei oder ZTE nicht namentlich. Finnland ist allerdings die Heimat von Nokia, einem der wichtigsten Mitwettbewerber. ari

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    Standpunkt

    Risiko für Chinas Wirtschaftswunder

    Von Stephen S. Roach
    Stephen S. Roach, US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler und Senior Fellow am Jackson Institute for Global Affairs der Yale University sowie Dozent an der Yale School of Management
    Stephen S. Roach ist Fakultätsmitglied der Yale Universität

    Alle Augen richten sich derzeit auf Chinas dunkle Seite. Das hatten wir schon mehrmals. Von der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre über die Dotcom-Rezession Anfang der 2000er Jahre bis hin zur globalen Finanzkrise der Jahre 2008/2009 wurde China stets als das nächste Land vor dem Fall dargestellt. Doch Chinas Wirtschaft trotzte den düsteren Prognosen immer wieder mit einer Widerstandskraft, die die meisten Beobachter überraschte.

    Ich gehöre zu den wenigen, die nicht überrascht waren, dass sich die Warnungen vergangener Tage als Fehlalarme herausstellten. Sehr wohl beschleicht mich jetzt allerdings das Gefühl, dass es dieses Mal anders ist.

    Im Gegensatz zu den meisten anderen bin ich jedoch nicht der Meinung, dass die Evergrande-Gruppe das Problem ist oder gar den entscheidenden Wendepunkt darstellt. Ja, Chinas zweitgrößter Immobilienentwickler steckt in potenziell fatalen Schwierigkeiten. Und ja, der Schuldenüberhang von etwa 300 Milliarden Dollar stellt durchaus ein Risiko für das chinesische Finanzsystem dar und könnte möglicherweise Auswirkungen auf die weltweiten Märkten haben. Doch das Ausmaß dieses Welleneffekts wird wohl weit geringer sein, als die Warnungen derjenigen, die lauthals verkünden, Evergrande sei das chinesische Lehman Brothers, womit sie auch andeuten, ein weiterer “Minsky-Moment” könnte bevorstehen.

    Peking war vorbereitet auf Evergrande

    Drei Überlegungen sprechen dagegen. Erstens verfügt die chinesische Regierung über ausreichende Mittel, um den Ausfall von Evergrande-Krediten aufzufangen und potenzielle Auswirkungen auf andere Vermögenswerte und Märkte abzuwehren. Mit etwa 7,5 Billionen Dollar an Ersparnissen im Inland und weiteren drei Billionen Dollar an Devisenreserven sind in China mehr als genug finanzielle Kapazitäten vorhanden, um eine Implosion Evergrandes im schlimmsten Fall aufzufangen. Untermauert wird dieser Punkt durch enorme Liquiditätsspritzen der People’s Bank of China in letzter Zeit.

    Zweitens handelt es sich bei Evergrande nicht um eine klassische “Black-Swan-Krise”, sondern vielmehr um eine bewusst herbeigeführte und gewollte Folge chinesischer Politik, die darauf abzielt, Schulden abzubauen, Risiken zu verringern und die Finanzstabilität zu erhalten. Gute Fortschritte machte China in den letzten Jahren insbesondere bei der Eindämmung von Aktivitäten im Schattenbankwesen, wodurch mögliche Ansteckungen anderer Segmente seiner Finanzmärkte begrenzt wurden. Anders als im Falle Lehman und der damit verbundenen verheerenden Kollateralschäden wurde die chinesische Politik vom Problem Evergrande nicht unvorbereitet getroffen.    

    Drittens sind die Risiken für die Realwirtschaft, die in eine vorübergehende Schwächephase eingetreten ist, begrenzt. Die Nachfrageseite des chinesischen Immobilienmarktes wird durch die anhaltende Abwanderung von Landarbeitern in die Städte durchaus gut unterstützt. Dies unterscheidet sich deutlich vom Zusammenbruch spekulativer Immobilienblasen in anderen Ländern wie Japan und den Vereinigten Staaten, wo einem Überangebot mangelnde Nachfrage gegenüberstand.

    Der Anteil der Stadtbewohner in der chinesischen Bevölkerung ist zwar mittlerweile auf 60 Prozent angestiegen, aber es ist noch viel Luft nach oben, bis die für fortgeschrittenere Volkswirtschaften typische Schwelle von 80 bis 85 Prozent erreicht ist. Ungeachtet der in jüngster Zeit erschienenen Berichte über schrumpfende Städte – die an die Fehlalarme über unzählige Geisterstädte erinnern – bleibt die grundlegende Nachfrage nach Immobilien in den Städten stabil. Das begrenzt auch im Falle einer Evergrande-Pleite die Abwärtsrisiken für die Gesamtwirtschaft.

    Umdenken beim Wachstumsmodell

    Chinas größte Probleme haben weniger mit Evergrande zu tun als vielmehr mit einem grundlegenden Umdenken hinsichtlich seines Wachstumsmodells. Zunächst befürchtete ich ein hartes Durchgreifen der Regulierungsbehörden als ich Ende Juli schrieb, dass man mit neuen Maßnahmen Chinas Internetplattformen zielgenau ins Visier nehmen wolle und so in einigen der dynamischsten Wirtschaftssektoren die “Animal Spirits” abzuwürgen drohe – wie etwa in den Bereichen Finanztechnologie, Videospiele, Online-Musik, Fahrdienste, private Nachhilfe sowie Abhol- und Zustelldienste in der Gastronomie und Lifestyle-Dienste.

    So war es im Juli. Mittlerweile hat die chinesische Regierung nachgelegt, wobei sich Präsident Xi Jinping mit voller Kraft für eine Kampagne unter dem Titel “gemeinsamer Wohlstand” einsetzt, die darauf abzielt, die Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen zu beseitigen. Darüber hinaus wurde auch der Umfang der Regulierungen erweitert und zwar nicht nur, um Kryptowährungen zu verbieten, sondern auch um diese Regulierungen zu einem Instrument des Social Engineerings zu machen. So fügte die Regierung nun etwa E-Zigaretten, Alkoholkonsum in Unternehmen und die Fankultur rund um Prominente zu ihrer stetig länger werdenden Liste schlechter sozialer Angewohnheiten hinzu.

    Finanzmarktreformen werden von den Behörden bekräftigt

    All das verstärkt meine bereits vor zwei Monaten geäußerten Bedenken. Die neue Doppelausrichtung der chinesischen Politik – nämlich Umverteilung und Neuregulierung – trifft genau das Zentrum der marktwirtschaftlichen “Reform und Öffnung”-Strategie, die das Fundament des chinesischen Wachstumswunders seit den Tagen Deng Xiaopings in den 1980er Jahren bildete. Die neue Politik wird die für die Dynamik des chinesischen Privatsektors so wichtigen unternehmerischen Aktivitäten dämpfen und das wiederum wird nachhaltige Folgen für die nächste, innovationsgetriebene Phase der chinesischen Wirtschaftsentwicklung haben. Ohne Animal Spirits ist das Thema einheimische Innovation erledigt.

    Da Evergrande nach dieser Zeitenwende in der chinesischen Politik in Schwierigkeiten geriet, haben die Finanzmärkte verständlicherweise heftig reagiert. Die Regierung hat sich beeilt, dem entgegenzutreten. Vizepremier Liu He, führender Architekt der chinesischen Wirtschaftsstrategie und ein wahrhaft herausragender makroökonomischer Denker, bekräftigte umgehend die unerschütterliche Unterstützung der Privatwirtschaft durch die Regierung. Auch die Kapitalmarktaufsichtsbehörden haben eine weitere “Öffnung” durch neue Konnektivitätsinitiativen zwischen Onshore- und Offshore-Märkten betont. Andere Regulierungsbehörden bekräftigten wiederum Chinas felsenfeste Entschlossenheit, auf Kurs zu bleiben. Vielleicht gelobt man doch etwas zu viel?

    Doch wer könnte schon etwas gegen gemeinsamen Wohlstand haben? Die 3,5 Billionen Dollar schwere Wiederaufbau-Agenda “Build Back Better” von US-Präsident Joe Biden verfolgt viele der gleichen Ziele. Ungleichheit zu bekämpfen und gleichzeitig eine soziale Agenda zu konzipieren, ist für jedes Land eine riesige Herausforderung. Das ist nicht nur in Washington Gegenstand intensiver Debatten, sondern hat auch entscheidenden Einfluss auf die Aussichten Chinas.

    Risiko einer Rückwärtsentwicklung des Wirtschaftswunders

    Das Problem in China besteht darin, dass sein neuer Ansatz den stärksten wirtschaftlichen Trends der letzten vier Jahrzehnte zuwiderläuft: nämlich der unternehmerischen Aktivität, der blühenden Start-up-Kultur, der Dynamik des Privatsektors und der Innovation. Derzeit vernehme ich aus China Verweigerung – isolierte Argumente, in denen jedes Thema separat behandelt wird. Über Umverteilung wird getrennt von den Auswirkungen der neuen Regulierungen diskutiert.

    Und auch bei der Verteidigung der Regulierungsmaßnahmen selbst verfolgt man einen isolierten Ansatz – fallspezifisch werden Argumente für eine stärkere Aufsicht der Internetplattformen, den Abbau sozialer Ängste unter gestressten jungen Menschen und die Gewährleistung der Datensicherheit angeführt.

    Als Makroökonom wurde mir beigebracht, stets die kombinierten Auswirkungen wichtiger Entwicklungen zu berücksichtigen. Evergrande wird vorübergehen. Der gemeinsame Wohlstand bleibt. Rigorose Regulierungen in Verbindung mit einem Vorstoß zur Umverteilung von Einkommen und Wohlstand führen zu einer Rückwärtsentwicklung des chinesischen Wirtschaftswunders. Gelingt es der chinesischen Führung nicht, einen großen Zusammenhang herzustellen, riskiert man eine gefährliche Fehlkalkulation.  

    Stephen S. Roach ist Fakultätsmitglied der Yale University, ehemaliger Vorsitzender von Morgan Stanley Asia und Verfasser von Unbalanced: The Codependency of America and China. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier.

    Copyright: Project Syndicate, 2021.
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