die China-Strategie der Bundesregierung sollte eigentlich hinter verschlossenen Türen ausgemacht werden. Beamte aller Ministerien feilen derzeit daran, die Interessen und Bedenken ihres Ressorts darin widergespiegelt zu sehen.
Doch eine Indiskretion hat diesen Prozess die Ruhe genommen. Der Entwurf des Papiers aus dem Außenministerium wurde dem Spiegel zugespielt. Finn Mayer-Kuckuk berichtet, was über die China-Strategie dadurch bekannt wurde – und wie das Leak und der Inhalt des Dokuments einzuordnen sind. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock macht die Einhaltung der Menschenrechte und Lieferkettensicherheit zur Grundlage der Politik.
Um eine Grünen-Politikerin geht es auch in unserem Text über das Chinageschäft von Volkswagen. Christian Domke Seidel schreibt über Julia Willie Hamburg. Sie ist im Hauptberuf Kultusministerin von Niedersachsen. Sie sitzt aber auch im Aufsichtsrat von VW. Ihre Berufung als Kontrolleurin des Autokonzerns sorgt in Wirtschaftskreisen für erhitzte Gemüter. Zu Unrecht, wie aus unserer Analyse hervorgeht.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
Die China-Strategie der Bundesregierung soll den Ankündigungen aus der Ampel-Koalition zufolge die Außenpolitik eindeutiger und schlagkräftiger machen. Während die Ideen zum Umgang mit der neuen Großmacht bisher in verschiedenen Ressorts über verschiedene Strategiepapiere verteilt lagen, soll es künftig eindeutige Handlungsanweisungen geben. Die Strategie soll einen Weg aus dem ganz großen Dilemma der Abhängigkeit von dem Partner und Rivalen bieten, ohne gleich alle Brücken abzubrechen.
Ein Entwurf der Strategie aus dem Auswärtigen Amt ist am Mittwoch vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangt, lange vor der formalen Fertigstellung des Papiers. Der Spiegel zitiert umfangreich aus dem Dokument, das ihm zugespielt wurde. In dieser Fassung ist es eindeutig von der grünen Außenministerin Annalena Baerbock geprägt. Diese Rohfassung wird sich allerdings auf dem Weg zur endgültigen Verabschiedung durch die Regierung noch erheblich wandeln.
Ein wichtiger Teil des Strategieentwurfs widmet sich den Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft. Er ist als Lehre aus den Ereignissen seit Februar zu lesen, als das autoritär regierte Russland anfing, die Westeuropäer mit Gaslieferungen zu erpressen. Wichtige Rohstoffe soll Deutschland künftig in großer Menge hamstern, zitiert der Spiegel die China-Strategie. Das könnte auch auf Seltene Erden und andere unentbehrliche Ausgangsmaterialien für die Elektronikindustrie und die Fahrzeugwirtschaft abzielen.
Generell sollen Lieferketten nicht von einzelnen Ländern abhängen, die zudem nicht die eigenen politischen Werte teilen. Wichtige Waren sollen aus verschiedenen Zulieferländern kommen.
Die Diversifizierung könnte schnell eine ominöse Bedeutung erlangen, wenn die Strategie genau so umgesetzt wird. Denn sie sieht auch vor, keine Produkte mehr aus Gegenden zu beziehen, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Viele Rohstoffe kommen jedoch aus der Region Xinjiang, in der China Zwangslager betreibt.
Wesentliche Teile dessen, was der Spiegel jetzt über den Strategieentwurf veröffentlicht, ist jedoch bekannt, oder es handelt sich um Maßnahme und Politikziele, die bereits an anderer Stelle in Arbeit sind.
Dennoch ist die Strategie durchaus ambitioniert. Deutschland dürfe keine “strategischen Lücken lassen”. Sie erkennt an, dass China zielgerichtet handelt. Peking bindet andere Schwellenländer in das eigene Handelssystem ein und schafft bewusst Abhängigkeiten. Solche eindeutig kritisch-konfrontativen Aussagen über China hätten frühere Regierungen kaum über den Partner China veröffentlicht, in der Ära Merkel war das eher Stoff für Kommentare der Medien.
Es gibt auch konkrete Handlungsempfehlungen, wie China zu begegnen sei. Der Westbalkan soll klar das Einflussgebiet der EU bleiben, die sich dort auch entsprechend engagieren und Beitrittsangebote machen soll. Auch in Afrika soll die EU präsenter werden. Zudem soll Europa seine Investitionen öffentlichkeitswirksamer verkaufen.
Im politischen Berlin sind auch kritische Stimmen zu dem Papier und seiner Entstehung zu hören. Sorge gilt der Frage, ob die Regierung Scholz ihre wohlklingenden Worte mit dem nötigen Budget unterfüttert. Die Ansiedlung von Chip- und Elektronikherstellern, staatliche Unterstützung für Forschung und Entwicklung, Förderung für unrentable Industrien in der Heimat, dicke Geschenke an Afrika und Lateinamerika – all das würde viel Geld kosten. Denn China selbst mobilisiert für Subventionen, seine Handelsinitiative und nicht zuletzt das Militär erhebliche Mittel. Wer dem etwas entgegensetzen will, muss mehr ausgeben als zuvor.
Anderen Stimmen ist das Papier zu konfrontativ. Zwar enthält es die Absichtserklärung, keine Blockbildung anzustreben. Doch diese Abschnitte werden von den Aussagen überschattet, in denen der Rivalitäts-Aspekt im Vordergrund steht. So ein Papier könne genau den Antagonismus verschärfen, dem es begegnen wolle.
Andererseits bleibt das Papier an entscheidenden Stellen offenbar unklar – und zwar gerade da, wo konkrete Handlungsanweisungen gefragt wären. Was, wenn China einen Angriff auf Taiwan startet? Laut den Spiegel-Zitaten aus dem Dokument sind zum Thema Taiwan “bilaterale Dialoge” vorgesehen, um China zur Einhaltung von Verträgen “zu bewegen”. Also nur Gespräche. Eine harte Konsequenz im Fall eines Übergriffs ist demnach nicht genannt. Hier haben sie die Diplomaten und ihre Ministerin nicht getraut, eben doch ein wenig die kalten Krieger zu geben.
Ein Diskussionsthema ist auch die Länge des Dokuments, das schon im Entwurf mit knapp sechzig Seiten nicht eben kurz ist. Für eine Grundsatzstrategie liegt die Kürze in der Würze. Ausführung und Umsetzung sind dann Sache der zuständigen Behörden, die ihrerseits kleinteiligere Pläne ableiten können. Die Länge deutet darauf hin, dass bereits Kompromisse angelegt sind. Wenn aber zu jedem Punkt bereits Einschränkungen oder gar gegenteilige Aussagen angelegt sind, dann nimmt das dem Dokument seine Stärke.
Die Offenlegung des Papiers durch den Spiegel betrifft jedoch nur einen Schnappschuss in dem Prozess, mit dem die Regierung zu einem Kompromiss kommt, mit dem sie leben kann. Alle Ministerien, weitere Behörden (wie möglicherweise der Bundesnachrichtendienst) und eventuell auch Interessengruppen reden mit. Genau deshalb könnte das Auswärtige Amt seinen eigenen Entwurf an den Spiegel durchgestochen haben: um zu dokumentieren, dass zumindest die ursprüngliche Version noch Biss hatte.
Die Regierung besteht zudem aus drei Parteien. Während die FDP ähnliche Gedanken im Hinblick auf China hegt wie die Grünen und zum Teil sogar radikaler auftritt, ist die nominal dominierende SPD merklich vorsichtiger. Das zeigt sich deutlich an den jüngsten Ereignissen. SPD-Kanzler Olaf Scholz trifft Xi Jinping mit einer Wirtschaftsdelegation, während Annalena Baerbock von der Seitenlinie auf Menschenrechte und Abhängigkeiten hinwies.
Die Strategie sollte nach Möglichkeit noch in diesem Jahr vorliegen, auf jeden Fall aber möglichst bald fertigwerden. Sie ist auch im Koalitionsvertrag angekündigt. Der Krieg in der Ukraine hat das Gefühl der Eile verstärkt. Dazu kommt die zunehmende Unsicherheit in der deutschen Gesellschaft. Zu Beginn der Pandemie waren Masken knapp, weil sie aus China kommen. Auch Antibiotika kommen dorther. Störungen in der Lieferkette, die in Chinas Häfen ihren Anfang nahmen, ließen in Deutschland die Bänder stillstehen. Xi Jinping bedroht immer offener Taiwan und kontrolliert seine Bevölkerung immer engmaschiger. In der Regierung hat sich das Gefühl breitgemacht, dass die Zeit zum Zögern und Diskutieren abläuft. Eine Richtlinie zum Umgang mit China ist überfällig.
Daher warten Behörden und Wirtschaft geradezu sehnsüchtig auf die Strategie, für die das Haus Baerbock die Feder führt. Doch die Strategie wird vermutlich in ihrer Wirkung enttäuschen. Kein PDF-Dokument einer Spitzenbehörde kann auf einen Schlag das Dilemma auflösen, in das Deutschland unmerklich geraten ist.
Einerseits wirkte der chinesische Wachstumsmarkt unwiderstehlich auf die Industrie, die dort – ökonomisch korrekt – investiert hat. Andererseits hat sich China in nur zehn Jahren erschreckend gewandelt. Eine wirtschaftliche Loslösung wirkt derzeit genauso teuer und illusorisch wie der Gedanke, dass die zerstrittene EU dem machtbewussten, reichen und hochgerüsteten China ernstlich etwas entgegensetzt.
Dem Land Niedersachsen gehören zwanzig Prozent von Volkswagen. Und damit Stimmrechte im Konzern. Deswegen entsendet die Regierung zwei Vertreter in den 20-köpfigen Aufsichtsrat. Bislang waren das Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusman (CDU). Doch bei der jüngsten Niedersachsen-Wahl hoben die Wähler eine Rot-Grüne-Regierung ins Amt, weswegen jetzt mit Julia Willie Hamburg (Grüne) die Kultusministerin und Vize-Landeschefin in den VW-Aufsichtsrat einzieht.
Dadurch entstand einiges an unsachlicher bis schlicht falscher Kritik. Richtig ist, dass Hamburg das China-Engagement des Konzerns äußerst kritisch sieht. Mitte des Jahres erklärte sie, damals noch in ihrer Rolle als Oppositionspolitikerin, dass das VW-Werk in Xinjiang der Kommunistischen Partei diene, um die Gewalt an den Uiguren zu verharmlosen. “Ein deutscher Konzern sollte dem keinen Vorschub leisten”, zitiert sie der Spiegel. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bis auf Die Linke und die AfD alle Parteien die Erklärung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu den Menschenrechtsverletzungen in der Region Xinjiang angenommen haben. Hamburg hat diese Meinung lediglich klar kommuniziert.
Dazu kommt, dass zuletzt auch das Mercator Institute for China Studies (Merics) vor den Risiken warnte, denen deutsche Automobilhersteller in der Volksrepublik ausgesetzt sind. Dazu gehörten unter anderem die politischen Unwägbarkeiten. Selbst Herbert Diess, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, äußerte sich in einem Podcast der FAZ zum Werk in Xinjiang. “Nach allem Ermessen, das ich dazu habe, ist es häufiger durch deutsche Mitarbeiter aus der Zentrale, aber auch von Expats, besucht worden. Da wird man sicherlich alles tun, was man tun kann.” Das Thema der Menschenrechte ist also zumindest auf der Agenda von Volkswagen. Und damit wohl auch im Aufsichtsrat.
Ulrich Hocker, Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, kritisierte die Berufung Hamburgs in den Aufsichtsrat scharf. Sie sei eine “offensichtliche Fehlbesetzung”. Und weiter: “Wir wissen ja, dass Fr. Hamburg und ihr Programm sagen, dass man viel früher aus dem Verbrenner aussteigen muss.” Auch hier gehört zur Vollständigkeit, dass sich die Bundesregierung – also SPD, Grüne und FDP – auf ein Verbrenner-Aus im Jahr 2035 geeinigt haben. Volkswagen selbst möchte das in Europa bereits 2033 umsetzen.
Gerade in diesem Punkt herrscht bei Volkswagen große Einigkeit. Auch bei den Vertretern der Arbeitnehmer. Schon vor der Landtagswahl ließ sich die IG Metall zusichern, dass in den kommenden zehn Jahren 50 Milliarden Euro für “die Gestaltung der Transformation der Industrie im Land” zur Verfügung gestellt werden. “Volkswagen selbst, als auch die Automobilbranche in Gänze, befinden sich vor großen Umbrüchen. Verkehr und Energie sind Kernbereiche des Wandels zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Gleichzeitig sind in den betroffenen Branchen Millionen von Menschen beschäftigt. Mobilitäts- und Energiewende sind daher Schlüsselprojekte, an denen sich entscheidet, ob die Transformation wirklich sozial, ökologisch und demokratisch gelingt”, äußerte sich ein Gewerkschaftssprecher gegenüber Table Media.
Nach der Besetzung des Aufsichtsratspostens bei VW mit Hamburg meldete eine Boulevardzeitung außerdem, dass der Posten mit 100.000 Euro dotiert sei. Eine Vergütung für Ausschüsse und Sitzungsgeld käme obendrauf. Das sei zwar grundsätzlich richtig, betont eine Sprecherin der Staatskanzlei gegenüber Table Media, jedoch müssten sowohl Stephan Weil als auch Julia Willie Hamburg das Geld an das Land Niedersachsen abführen. Behalten (und versteuern) dürfte beide lediglich jeweils 6.200 Euro. Festgelegt ist das in Paragraf fünf, Absatz drei, des Ministergesetzes. Die Boulevardzeitung ergänzte später einen entsprechenden Absatz.
Ebenfalls per Gesetz geregelt ist die Verschwiegenheit, zu der sowohl Hamburg als auch Weil verpflichtet sind, wenn es um ihre Arbeit im Aufsichtsrat geht. Da aufgrund der Regierungsneubildung derzeit andere Themen auf der Tagesordnung stehen, waren weder Hamburg noch Weil zu einem Interview bereit.
Die IG Metall, die in Zukunft verstärkt mit Hamburg verhandeln müssen wird, äußert sich gegenüber Table Media allerdings nur lobend über die Grünen-Politikerin. “Frau Hamburg, damals noch in ihrer Rolle als Oppositionsfraktionsführerin, zeigte sich ebenfalls zuverlässige Politikerin, die die Interessen der Belegschaften ebenfalls nicht aus Fokus verliert.” Und weiter: “Die teilweise tendenziöse Berichterstattung zum zukünftigen Wirken Frau Hamburgs im VW-Aufsichtsrat befremdet sehr.”
Die Stadtverwaltung der Hauptstadt hat den gesamten Campus von Chinas prestigeträchtigster Bildungseinrichtung, der Peking Universität, am Mittwoch nach nur einer registrierten Corona-Infektion in einen Lockdown geschickt. Zehntausende Studierende und Lehrkräfte dürfen das Uni-Gelände nicht mehr verlassen. Zudem wurden Massentests angeordnet. Die strikten Maßnahmen wurden verhängt, nachdem ein Corona-Fall auf dem Gelände bekannt wurde.
Anders als im Frühjahr haben Restaurants und Schulen allerdings nach wie vor geöffnet – und das, obwohl Peking mit rund 400 Fällen pro Tag die höchsten Covid-Zahlen seit Beginn der Pandemie verzeichnet. Auch landesweit steigen die Infektionen: Am Mittwoch meldete die Nationale Gesundheitskommission erstmals seit Frühjahr mehr als 20.000 Ansteckungen. In Peking wurden rund 370 Infektionen gemeldet.
Offiziell betont die Führung in Peking, es gebe keinen Kurswechsel in der Null-Covid-Politik. Doch immer mehr Städte experimentieren mit Lockerungen. Shijiazhuang etwa, der Provinzhauptstadt von Hebei, hat ihre flächendeckenden Massentests eingestellt und die Nachweispflicht beim öffentlichen Nahverkehr aufgehoben. flee
In Guangzhou ist es inmitten eines deutlichen Anstiegs der Covid-Fallzahlen zu Protesten in der Bevölkerung gekommen. Menschenmengen durchbrachen am Montagabend Corona-Sperren in der Stadt und marschierten durch die Straßen, wie auf Twitter gepostete und vielfach geteilte Videos zeigten. Darauf sind teils chaotische Szenen vom späten Montagabend zu sehen, in denen Menschen durch die Straßen des Stadtteils Haizhou stürmten und mit in weißen Schutzanzügen gekleideten Arbeitern protestierten. Reuters konnte die Videos nicht unabhängig überprüfen.
Hintergrund der Ausschreitungen war nach einem Bericht des Wirtschaftsmagazins “Caixin” offenbar Verärgerung von Wanderarbeitern aus der Textilindustrie, die aus der Quarantäne entlassen worden waren, aber wegen des großen Covid-19-Ausbruchs in der Stadt nicht in ihre angemieteten Wohnungen durften.
Die Zahl der täglichen lokalen Neuinfektionen durchbrach diese Woche in Guangzhou erstmals die Marke von 5000. Das befeuerte Spekulationen auf eine Ausweitung örtlicher Lockdowns. Die Südmetropole ist derzeit der größte Corona-Hotspot des Landes. Mehrere Hashtags zum Thema “Unruhen” in der Gegend wurden am Dienstagmorgen von der Mikroblog-Plattform Weibo gelöscht. Weder die Stadtregierung von Guangzhou noch die Polizei der Provinz Guangdong waren zunächst für eine Stellungnahme erreichbar.
Die chinesischen Behörden hatten am Dienstag 17.772 Neuinfektionen für die vergangenen 24 Stunden gemeldet, 1700 mehr als am Vortag und so viele wie zuletzt im April, kurz vor dem Shanghaier Lockdown. Trotzdem fahren derzeit viele Städte die Covid-Maßnahmen eher zurück, so etwa die Routinetests ihrer Einwohner. Ende vergangener Woche hatte die Regierung leichte Lockerungen der strikten Corona-Maßnahmen bekanntgegeben, darunter kürzere Quarantänezeiten (China.Table berichtete). rtr/ck
An die neuen politischen Gepflogenheiten in Hongkong muss sich der eine oder andere asiatische Nachbar offenbar erst noch gewöhnen (China.Table berichtete). Beim Rugby-Turnier “Asia 7” im südkoreanischen Incheon kam es am Sonntag jedenfalls zu einer pikanten Verwechslung. Vor dem Finale zwischen den Gastgebern und der Vertretung Hongkongs schallte zu Ehren der Auswärtsmannschaft statt der chinesischen Nationalhymne das inzwischen offiziell geächtete “Glory to Hong Kong” aus den Lautsprechern. Das Lied war während der Proteste 2019 von Hongkonger Demonstranten als Zeichen ihrer eigenen Identität gesungen worden.
Hongkongs Regierung reagierte empört auf den Fauxpas und verlangt nun Aufklärung. “Die Nationalhymne ist ein Symbol für unser Land. Der Organisator des Turniers hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Nationalhymne den ihr gebührenden Respekt erfährt”, sagte ein Regierungssprecher. Auch ihren eigenen Rugby-Verband forderten die Hongkonger Behörden auf, einen detaillierten Bericht vorzulegen.
Der Verband hatte schon kurz nach dem Spiel mitgeteilt, dass der Fehler auf Seiten der südkoreanischen Veranstalter zu suchen sei. Vom Hongkonger Trainer sei demnach die chinesische Nationalhymne vorgelegt worden. Wie es zu der Verwechslung kam, soll nun untersucht werden. Tatsächlich wurde der Irrtum aber schnell korrigiert. Nachdem die Gäste das Finale für sich entschieden hatten, wurde bei der Siegerehrung die chinesische Hymne gespielt. grz
Was gerade in China passiert, wirft eine lang umstrittene Frage der wirtschaftlichen Entwicklung auf: Kann eine zentral und von oben herab gesteuerte Autokratie bei Innovationen und Wachstum besser abschneiden als die liberalen Marktwirtschaften?
Zwischen 1980 und 2019 wuchs das chinesische BIP durchschnittlich um mehr als acht Prozent im Jahr – schneller als alle westlichen Volkswirtschaften. In den Nullerjahren ging die wirtschaftliche Entwicklung des Landes (mithilfe westlicher Technologien) sogar über eine reine Aufholjagd hinaus: China investierte in seine eigenen Technologien, veröffentlichte Patente und wissenschaftliche Berichte, und schuf innovative Unternehmen wie Alibaba, Tencent, Baidu und Huawei.
Einige Skeptiker hatten dies für unwahrscheinlich gehalten. Zwar hatten sich schon viele Autokraten über ein schnelles Wirtschaftswachstum freuen können. Aber noch nie zuvor konnte ein nicht-demokratisches Regime ein derart anhaltendes, innovationsgetriebenes Wachstum erzielen. Einige Westler hatten die wissenschaftlichen Fähigkeiten der Sowjetunion der 1950er und 1960er bewundert, aber häufig war dies nur Ausdruck ihrer eigenen Voreingenommenheit: In den 1970ern fiel die Sowjetunion klar zurück und stagnierte, da sie nicht in der Lage war, sektorübergreifend innovativ zu sein.
Sicherlich haben einige kluge China-Beobachter darauf hingewiesen, dass der eiserne Griff der Kommunistischen Partei für die Aussichten des Landes kein gutes Zeichen sei. Aber mehrheitlich herrschte die Meinung vor, China werde sein erstaunliches Wachstum aufrechterhalten. Obwohl es umstritten war, ob China global zu einer guten oder bösen Kraft werden würde, waren sich fast alle einig, dass das Wachstum des Landes unaufhaltsam sei. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank machten es sich zur Gewohnheit, vergangene chinesische Wachstumsraten in die Zukunft zu projizieren, und Bücher mit Titeln wie “Wenn China die Welt regiert“ hatten Hochkonjunktur.
Jahrelang hörte man auch das Argument, China habe einen Zustand der “Vertrauenswürdigkeit ohne Demokratie” erreicht, oder dass die kommunistische Führung wenigstens durch Amtszeitbegrenzungen, Gewaltenteilung und andere sinnvolle Vorrichtungen eingeschränkt sei. Das Land wurde dafür gelobt, die Vorteile zentraler politischer Planung zu verdeutlichen und eine Alternative zum neoliberalen Washingtoner Konsens zu bieten. Sogar jene, die das chinesische Modell als eine Form von “Staatskapitalismus” – mit allen damit verbundenen Widersprüchen – erkannten, sagten voraus, sein Wachstum werde ziemlich ungehindert weitergehen.
Das stärkste Argument war vielleicht, China werde die Welt durch seine mögliche Führungsrolle bei der Künstlichen Intelligenz (KI) beherrschen. Da das Land massiv in KI investiert, auf so viele Daten seiner enormen Bevölkerung zugreifen kann und in ethischer und datenschutzrechtlicher Hinsicht weniger eingeschränkt ist, wurde China auf diesem Gebiet ein offensichtlicher Vorteil bescheinigt.
Aber dieses Argument war immer schon fragwürdig: Man kann nicht einfach annehmen, dass Fortschritte bei der KI zukünftig die Hauptquelle wirtschaftlicher Vorteile sein werden; dass die chinesische Regierung dauerhafte, hochrangige Forschungen in diesem Bereich ermöglicht; oder dass westliche Unternehmen durch Datenschutz und andere Regulierungen erheblich behindert werden.
Chinas Aussichten sind heute viel weniger rosig als früher. Staats- und Parteichef Xi Jinping hat bereits viele interne Kontrollmechanismen abschaffen können. Den 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei hat er dazu genutzt, sich eine beispiellose dritte Amtszeit (ohne absehbare künftige zeitliche Einschränkung) zu sichern und den allmächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros mit loyalen Unterstützern zu besetzen.
Diese Machtkonsolidierung findet statt, obwohl Xi erhebliche Fehler begangen hat, die die Wirtschaft belasten und Chinas Innovationspotenzial untergraben. Seine “Null-Covid-Politik” wäre größtenteils vermeidbar gewesen, hat jedoch erhebliche Kosten verursacht, ebenso wie seine Unterstützung für Russlands Krieg in der Ukraine. Und jetzt, wo Xi uneingeschränkte Macht hat und von Jasagern umgeben ist, werden wohl weitere und noch größere Fehler folgen, da ihm keiner mehr sagen wird, was er hören muss.
Aber daraus zu schließen, Chinas Wachstumsmodell sei nur gefährdet, weil die falsche Person an die Spitze gekommen ist, wäre ein Fehler. Die Tendenz hin zu stärkerer Kontrolle, die während Xis erster Amtszeit (nach 2012) begann, könnte unvermeidlich gewesen sein.
Chinas rapides Industriewachstum in den 1990ern und 2000ern beruhte auf enormen Investitionen, Technologietransfers aus dem Westen, hoher Exportproduktion sowie Finanz- und Lohnunterdrückung. Aber ein solches exportorientiertes Wachstum hat seine Grenzen: Wie Xis Vorgänger Hu Jintao 2012 erkannt hatte, musste Chinas Wachstum “viel ausgeglichener, koordinierter und nachhaltiger” werden – mit viel weniger Abhängigkeit von externer Nachfrage und stärker vom Inlandskonsum gestützt.
Zu dieser Zeit glaubten viele Experten, Xi werde auf diese Herausforderung mit einer “ehrgeizigen Reformagenda” zur Einführung marktwirtschaftlicher Anreize reagieren. Aber diese Interpretation übersah eine Frage, die für China entscheidend war: Wie konnte angesichts einer schnell wachsenden, wirtschaftlich erstarkten Mittelklasse das Monopol der KP beibehalten werden? Die offensichtlichste – und vielleicht die einzige – Antwort darauf war: durch größere Repression und Zensur. Und genau diesen Weg ist Xi gegangen.
Eine Weile glaubten Xi, sein Umfeld und vielleicht sogar viele ausländische Experten, die chinesische Wirtschaft werde auch unter den Bedingungen strengerer zentraler Kontrolle, Zensur, Indoktrinierung und Unterdrückung immer noch weiter wachsen. Erneut hielten viele die KI für ein beispiellos mächtiges Werkzeug zur Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft.
Aber es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Xi und seine Berater die Lage falsch eingeschätzt haben und dass China für die zunehmende Kontrolle einen heftigen wirtschaftlichen Preis zahlen muss. Nach den Regulierungsrazzien des letzten Jahres gegen Alibaba, Tencent und andere konzentrieren sich die chinesischen Konzerne weniger auf Innovationen, sondern zunehmend auf ihr gutes Verhältnis zu den politischen Behörden.
Nun häufen sich die Ineffizienzen und andere Probleme, die ein solcher politisch geprägter Schwerpunkt mit sich bringt, und die staatlich getriebenen Innovationen stoßen an ihre Grenzen. Obwohl die akademische Forschung in China seit 2013 immer stärker staatlich gefördert wurde, verbessert sich ihre Qualität nur langsam. Selbst bei der KI, die oberste wissenschaftliche Priorität genießt, hinken die Fortschritte hinter den weltweiten Technologieführern her – die sich meist in den Vereinigten Staaten befinden.
Meine eigenen aktuellen Untersuchungen gemeinsam mit Jie Zhou vom MIT und David Yang von der Harvard University zeigen, dass die zentrale akademische Kontrolle auch die Richtung der Forschung verzerrt. Viele Fakultätsmitglieder wählen ihre Forschungsgebiete aus, um ihren Vorgesetzten oder Dekanen, die erhebliche Macht über ihre Karriere haben, damit zu gefallen. Mit dieser neuen Prioritätensetzung, so scheint es, leidet die allgemeine Forschungsqualität.
Xis fester Griff um Wissenschaft und Wirtschaft bedeutet, dass sich diese Probleme vergrößern werden. Und wie in allen Autokratien wird es an unabhängigen Experten oder inländischen Medien mangeln, die auf diese Fehlentwicklung hinweisen könnten.
Daron Acemoglu, Professor für Ökonomie am MIT, ist (gemeinsam mit James A. Robinson) Verfasser von “Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty” (Profile, 2019) und “The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty” (Penguin, 2020). Übersetzung: Harald Eckhoff.
Copyright: Project Syndicate, 2022.
www.project-syndicate.org
die China-Strategie der Bundesregierung sollte eigentlich hinter verschlossenen Türen ausgemacht werden. Beamte aller Ministerien feilen derzeit daran, die Interessen und Bedenken ihres Ressorts darin widergespiegelt zu sehen.
Doch eine Indiskretion hat diesen Prozess die Ruhe genommen. Der Entwurf des Papiers aus dem Außenministerium wurde dem Spiegel zugespielt. Finn Mayer-Kuckuk berichtet, was über die China-Strategie dadurch bekannt wurde – und wie das Leak und der Inhalt des Dokuments einzuordnen sind. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock macht die Einhaltung der Menschenrechte und Lieferkettensicherheit zur Grundlage der Politik.
Um eine Grünen-Politikerin geht es auch in unserem Text über das Chinageschäft von Volkswagen. Christian Domke Seidel schreibt über Julia Willie Hamburg. Sie ist im Hauptberuf Kultusministerin von Niedersachsen. Sie sitzt aber auch im Aufsichtsrat von VW. Ihre Berufung als Kontrolleurin des Autokonzerns sorgt in Wirtschaftskreisen für erhitzte Gemüter. Zu Unrecht, wie aus unserer Analyse hervorgeht.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
Die China-Strategie der Bundesregierung soll den Ankündigungen aus der Ampel-Koalition zufolge die Außenpolitik eindeutiger und schlagkräftiger machen. Während die Ideen zum Umgang mit der neuen Großmacht bisher in verschiedenen Ressorts über verschiedene Strategiepapiere verteilt lagen, soll es künftig eindeutige Handlungsanweisungen geben. Die Strategie soll einen Weg aus dem ganz großen Dilemma der Abhängigkeit von dem Partner und Rivalen bieten, ohne gleich alle Brücken abzubrechen.
Ein Entwurf der Strategie aus dem Auswärtigen Amt ist am Mittwoch vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangt, lange vor der formalen Fertigstellung des Papiers. Der Spiegel zitiert umfangreich aus dem Dokument, das ihm zugespielt wurde. In dieser Fassung ist es eindeutig von der grünen Außenministerin Annalena Baerbock geprägt. Diese Rohfassung wird sich allerdings auf dem Weg zur endgültigen Verabschiedung durch die Regierung noch erheblich wandeln.
Ein wichtiger Teil des Strategieentwurfs widmet sich den Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft. Er ist als Lehre aus den Ereignissen seit Februar zu lesen, als das autoritär regierte Russland anfing, die Westeuropäer mit Gaslieferungen zu erpressen. Wichtige Rohstoffe soll Deutschland künftig in großer Menge hamstern, zitiert der Spiegel die China-Strategie. Das könnte auch auf Seltene Erden und andere unentbehrliche Ausgangsmaterialien für die Elektronikindustrie und die Fahrzeugwirtschaft abzielen.
Generell sollen Lieferketten nicht von einzelnen Ländern abhängen, die zudem nicht die eigenen politischen Werte teilen. Wichtige Waren sollen aus verschiedenen Zulieferländern kommen.
Die Diversifizierung könnte schnell eine ominöse Bedeutung erlangen, wenn die Strategie genau so umgesetzt wird. Denn sie sieht auch vor, keine Produkte mehr aus Gegenden zu beziehen, in denen die Menschenrechte verletzt werden. Viele Rohstoffe kommen jedoch aus der Region Xinjiang, in der China Zwangslager betreibt.
Wesentliche Teile dessen, was der Spiegel jetzt über den Strategieentwurf veröffentlicht, ist jedoch bekannt, oder es handelt sich um Maßnahme und Politikziele, die bereits an anderer Stelle in Arbeit sind.
Dennoch ist die Strategie durchaus ambitioniert. Deutschland dürfe keine “strategischen Lücken lassen”. Sie erkennt an, dass China zielgerichtet handelt. Peking bindet andere Schwellenländer in das eigene Handelssystem ein und schafft bewusst Abhängigkeiten. Solche eindeutig kritisch-konfrontativen Aussagen über China hätten frühere Regierungen kaum über den Partner China veröffentlicht, in der Ära Merkel war das eher Stoff für Kommentare der Medien.
Es gibt auch konkrete Handlungsempfehlungen, wie China zu begegnen sei. Der Westbalkan soll klar das Einflussgebiet der EU bleiben, die sich dort auch entsprechend engagieren und Beitrittsangebote machen soll. Auch in Afrika soll die EU präsenter werden. Zudem soll Europa seine Investitionen öffentlichkeitswirksamer verkaufen.
Im politischen Berlin sind auch kritische Stimmen zu dem Papier und seiner Entstehung zu hören. Sorge gilt der Frage, ob die Regierung Scholz ihre wohlklingenden Worte mit dem nötigen Budget unterfüttert. Die Ansiedlung von Chip- und Elektronikherstellern, staatliche Unterstützung für Forschung und Entwicklung, Förderung für unrentable Industrien in der Heimat, dicke Geschenke an Afrika und Lateinamerika – all das würde viel Geld kosten. Denn China selbst mobilisiert für Subventionen, seine Handelsinitiative und nicht zuletzt das Militär erhebliche Mittel. Wer dem etwas entgegensetzen will, muss mehr ausgeben als zuvor.
Anderen Stimmen ist das Papier zu konfrontativ. Zwar enthält es die Absichtserklärung, keine Blockbildung anzustreben. Doch diese Abschnitte werden von den Aussagen überschattet, in denen der Rivalitäts-Aspekt im Vordergrund steht. So ein Papier könne genau den Antagonismus verschärfen, dem es begegnen wolle.
Andererseits bleibt das Papier an entscheidenden Stellen offenbar unklar – und zwar gerade da, wo konkrete Handlungsanweisungen gefragt wären. Was, wenn China einen Angriff auf Taiwan startet? Laut den Spiegel-Zitaten aus dem Dokument sind zum Thema Taiwan “bilaterale Dialoge” vorgesehen, um China zur Einhaltung von Verträgen “zu bewegen”. Also nur Gespräche. Eine harte Konsequenz im Fall eines Übergriffs ist demnach nicht genannt. Hier haben sie die Diplomaten und ihre Ministerin nicht getraut, eben doch ein wenig die kalten Krieger zu geben.
Ein Diskussionsthema ist auch die Länge des Dokuments, das schon im Entwurf mit knapp sechzig Seiten nicht eben kurz ist. Für eine Grundsatzstrategie liegt die Kürze in der Würze. Ausführung und Umsetzung sind dann Sache der zuständigen Behörden, die ihrerseits kleinteiligere Pläne ableiten können. Die Länge deutet darauf hin, dass bereits Kompromisse angelegt sind. Wenn aber zu jedem Punkt bereits Einschränkungen oder gar gegenteilige Aussagen angelegt sind, dann nimmt das dem Dokument seine Stärke.
Die Offenlegung des Papiers durch den Spiegel betrifft jedoch nur einen Schnappschuss in dem Prozess, mit dem die Regierung zu einem Kompromiss kommt, mit dem sie leben kann. Alle Ministerien, weitere Behörden (wie möglicherweise der Bundesnachrichtendienst) und eventuell auch Interessengruppen reden mit. Genau deshalb könnte das Auswärtige Amt seinen eigenen Entwurf an den Spiegel durchgestochen haben: um zu dokumentieren, dass zumindest die ursprüngliche Version noch Biss hatte.
Die Regierung besteht zudem aus drei Parteien. Während die FDP ähnliche Gedanken im Hinblick auf China hegt wie die Grünen und zum Teil sogar radikaler auftritt, ist die nominal dominierende SPD merklich vorsichtiger. Das zeigt sich deutlich an den jüngsten Ereignissen. SPD-Kanzler Olaf Scholz trifft Xi Jinping mit einer Wirtschaftsdelegation, während Annalena Baerbock von der Seitenlinie auf Menschenrechte und Abhängigkeiten hinwies.
Die Strategie sollte nach Möglichkeit noch in diesem Jahr vorliegen, auf jeden Fall aber möglichst bald fertigwerden. Sie ist auch im Koalitionsvertrag angekündigt. Der Krieg in der Ukraine hat das Gefühl der Eile verstärkt. Dazu kommt die zunehmende Unsicherheit in der deutschen Gesellschaft. Zu Beginn der Pandemie waren Masken knapp, weil sie aus China kommen. Auch Antibiotika kommen dorther. Störungen in der Lieferkette, die in Chinas Häfen ihren Anfang nahmen, ließen in Deutschland die Bänder stillstehen. Xi Jinping bedroht immer offener Taiwan und kontrolliert seine Bevölkerung immer engmaschiger. In der Regierung hat sich das Gefühl breitgemacht, dass die Zeit zum Zögern und Diskutieren abläuft. Eine Richtlinie zum Umgang mit China ist überfällig.
Daher warten Behörden und Wirtschaft geradezu sehnsüchtig auf die Strategie, für die das Haus Baerbock die Feder führt. Doch die Strategie wird vermutlich in ihrer Wirkung enttäuschen. Kein PDF-Dokument einer Spitzenbehörde kann auf einen Schlag das Dilemma auflösen, in das Deutschland unmerklich geraten ist.
Einerseits wirkte der chinesische Wachstumsmarkt unwiderstehlich auf die Industrie, die dort – ökonomisch korrekt – investiert hat. Andererseits hat sich China in nur zehn Jahren erschreckend gewandelt. Eine wirtschaftliche Loslösung wirkt derzeit genauso teuer und illusorisch wie der Gedanke, dass die zerstrittene EU dem machtbewussten, reichen und hochgerüsteten China ernstlich etwas entgegensetzt.
Dem Land Niedersachsen gehören zwanzig Prozent von Volkswagen. Und damit Stimmrechte im Konzern. Deswegen entsendet die Regierung zwei Vertreter in den 20-köpfigen Aufsichtsrat. Bislang waren das Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusman (CDU). Doch bei der jüngsten Niedersachsen-Wahl hoben die Wähler eine Rot-Grüne-Regierung ins Amt, weswegen jetzt mit Julia Willie Hamburg (Grüne) die Kultusministerin und Vize-Landeschefin in den VW-Aufsichtsrat einzieht.
Dadurch entstand einiges an unsachlicher bis schlicht falscher Kritik. Richtig ist, dass Hamburg das China-Engagement des Konzerns äußerst kritisch sieht. Mitte des Jahres erklärte sie, damals noch in ihrer Rolle als Oppositionspolitikerin, dass das VW-Werk in Xinjiang der Kommunistischen Partei diene, um die Gewalt an den Uiguren zu verharmlosen. “Ein deutscher Konzern sollte dem keinen Vorschub leisten”, zitiert sie der Spiegel. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bis auf Die Linke und die AfD alle Parteien die Erklärung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu den Menschenrechtsverletzungen in der Region Xinjiang angenommen haben. Hamburg hat diese Meinung lediglich klar kommuniziert.
Dazu kommt, dass zuletzt auch das Mercator Institute for China Studies (Merics) vor den Risiken warnte, denen deutsche Automobilhersteller in der Volksrepublik ausgesetzt sind. Dazu gehörten unter anderem die politischen Unwägbarkeiten. Selbst Herbert Diess, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, äußerte sich in einem Podcast der FAZ zum Werk in Xinjiang. “Nach allem Ermessen, das ich dazu habe, ist es häufiger durch deutsche Mitarbeiter aus der Zentrale, aber auch von Expats, besucht worden. Da wird man sicherlich alles tun, was man tun kann.” Das Thema der Menschenrechte ist also zumindest auf der Agenda von Volkswagen. Und damit wohl auch im Aufsichtsrat.
Ulrich Hocker, Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, kritisierte die Berufung Hamburgs in den Aufsichtsrat scharf. Sie sei eine “offensichtliche Fehlbesetzung”. Und weiter: “Wir wissen ja, dass Fr. Hamburg und ihr Programm sagen, dass man viel früher aus dem Verbrenner aussteigen muss.” Auch hier gehört zur Vollständigkeit, dass sich die Bundesregierung – also SPD, Grüne und FDP – auf ein Verbrenner-Aus im Jahr 2035 geeinigt haben. Volkswagen selbst möchte das in Europa bereits 2033 umsetzen.
Gerade in diesem Punkt herrscht bei Volkswagen große Einigkeit. Auch bei den Vertretern der Arbeitnehmer. Schon vor der Landtagswahl ließ sich die IG Metall zusichern, dass in den kommenden zehn Jahren 50 Milliarden Euro für “die Gestaltung der Transformation der Industrie im Land” zur Verfügung gestellt werden. “Volkswagen selbst, als auch die Automobilbranche in Gänze, befinden sich vor großen Umbrüchen. Verkehr und Energie sind Kernbereiche des Wandels zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Gleichzeitig sind in den betroffenen Branchen Millionen von Menschen beschäftigt. Mobilitäts- und Energiewende sind daher Schlüsselprojekte, an denen sich entscheidet, ob die Transformation wirklich sozial, ökologisch und demokratisch gelingt”, äußerte sich ein Gewerkschaftssprecher gegenüber Table Media.
Nach der Besetzung des Aufsichtsratspostens bei VW mit Hamburg meldete eine Boulevardzeitung außerdem, dass der Posten mit 100.000 Euro dotiert sei. Eine Vergütung für Ausschüsse und Sitzungsgeld käme obendrauf. Das sei zwar grundsätzlich richtig, betont eine Sprecherin der Staatskanzlei gegenüber Table Media, jedoch müssten sowohl Stephan Weil als auch Julia Willie Hamburg das Geld an das Land Niedersachsen abführen. Behalten (und versteuern) dürfte beide lediglich jeweils 6.200 Euro. Festgelegt ist das in Paragraf fünf, Absatz drei, des Ministergesetzes. Die Boulevardzeitung ergänzte später einen entsprechenden Absatz.
Ebenfalls per Gesetz geregelt ist die Verschwiegenheit, zu der sowohl Hamburg als auch Weil verpflichtet sind, wenn es um ihre Arbeit im Aufsichtsrat geht. Da aufgrund der Regierungsneubildung derzeit andere Themen auf der Tagesordnung stehen, waren weder Hamburg noch Weil zu einem Interview bereit.
Die IG Metall, die in Zukunft verstärkt mit Hamburg verhandeln müssen wird, äußert sich gegenüber Table Media allerdings nur lobend über die Grünen-Politikerin. “Frau Hamburg, damals noch in ihrer Rolle als Oppositionsfraktionsführerin, zeigte sich ebenfalls zuverlässige Politikerin, die die Interessen der Belegschaften ebenfalls nicht aus Fokus verliert.” Und weiter: “Die teilweise tendenziöse Berichterstattung zum zukünftigen Wirken Frau Hamburgs im VW-Aufsichtsrat befremdet sehr.”
Die Stadtverwaltung der Hauptstadt hat den gesamten Campus von Chinas prestigeträchtigster Bildungseinrichtung, der Peking Universität, am Mittwoch nach nur einer registrierten Corona-Infektion in einen Lockdown geschickt. Zehntausende Studierende und Lehrkräfte dürfen das Uni-Gelände nicht mehr verlassen. Zudem wurden Massentests angeordnet. Die strikten Maßnahmen wurden verhängt, nachdem ein Corona-Fall auf dem Gelände bekannt wurde.
Anders als im Frühjahr haben Restaurants und Schulen allerdings nach wie vor geöffnet – und das, obwohl Peking mit rund 400 Fällen pro Tag die höchsten Covid-Zahlen seit Beginn der Pandemie verzeichnet. Auch landesweit steigen die Infektionen: Am Mittwoch meldete die Nationale Gesundheitskommission erstmals seit Frühjahr mehr als 20.000 Ansteckungen. In Peking wurden rund 370 Infektionen gemeldet.
Offiziell betont die Führung in Peking, es gebe keinen Kurswechsel in der Null-Covid-Politik. Doch immer mehr Städte experimentieren mit Lockerungen. Shijiazhuang etwa, der Provinzhauptstadt von Hebei, hat ihre flächendeckenden Massentests eingestellt und die Nachweispflicht beim öffentlichen Nahverkehr aufgehoben. flee
In Guangzhou ist es inmitten eines deutlichen Anstiegs der Covid-Fallzahlen zu Protesten in der Bevölkerung gekommen. Menschenmengen durchbrachen am Montagabend Corona-Sperren in der Stadt und marschierten durch die Straßen, wie auf Twitter gepostete und vielfach geteilte Videos zeigten. Darauf sind teils chaotische Szenen vom späten Montagabend zu sehen, in denen Menschen durch die Straßen des Stadtteils Haizhou stürmten und mit in weißen Schutzanzügen gekleideten Arbeitern protestierten. Reuters konnte die Videos nicht unabhängig überprüfen.
Hintergrund der Ausschreitungen war nach einem Bericht des Wirtschaftsmagazins “Caixin” offenbar Verärgerung von Wanderarbeitern aus der Textilindustrie, die aus der Quarantäne entlassen worden waren, aber wegen des großen Covid-19-Ausbruchs in der Stadt nicht in ihre angemieteten Wohnungen durften.
Die Zahl der täglichen lokalen Neuinfektionen durchbrach diese Woche in Guangzhou erstmals die Marke von 5000. Das befeuerte Spekulationen auf eine Ausweitung örtlicher Lockdowns. Die Südmetropole ist derzeit der größte Corona-Hotspot des Landes. Mehrere Hashtags zum Thema “Unruhen” in der Gegend wurden am Dienstagmorgen von der Mikroblog-Plattform Weibo gelöscht. Weder die Stadtregierung von Guangzhou noch die Polizei der Provinz Guangdong waren zunächst für eine Stellungnahme erreichbar.
Die chinesischen Behörden hatten am Dienstag 17.772 Neuinfektionen für die vergangenen 24 Stunden gemeldet, 1700 mehr als am Vortag und so viele wie zuletzt im April, kurz vor dem Shanghaier Lockdown. Trotzdem fahren derzeit viele Städte die Covid-Maßnahmen eher zurück, so etwa die Routinetests ihrer Einwohner. Ende vergangener Woche hatte die Regierung leichte Lockerungen der strikten Corona-Maßnahmen bekanntgegeben, darunter kürzere Quarantänezeiten (China.Table berichtete). rtr/ck
An die neuen politischen Gepflogenheiten in Hongkong muss sich der eine oder andere asiatische Nachbar offenbar erst noch gewöhnen (China.Table berichtete). Beim Rugby-Turnier “Asia 7” im südkoreanischen Incheon kam es am Sonntag jedenfalls zu einer pikanten Verwechslung. Vor dem Finale zwischen den Gastgebern und der Vertretung Hongkongs schallte zu Ehren der Auswärtsmannschaft statt der chinesischen Nationalhymne das inzwischen offiziell geächtete “Glory to Hong Kong” aus den Lautsprechern. Das Lied war während der Proteste 2019 von Hongkonger Demonstranten als Zeichen ihrer eigenen Identität gesungen worden.
Hongkongs Regierung reagierte empört auf den Fauxpas und verlangt nun Aufklärung. “Die Nationalhymne ist ein Symbol für unser Land. Der Organisator des Turniers hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Nationalhymne den ihr gebührenden Respekt erfährt”, sagte ein Regierungssprecher. Auch ihren eigenen Rugby-Verband forderten die Hongkonger Behörden auf, einen detaillierten Bericht vorzulegen.
Der Verband hatte schon kurz nach dem Spiel mitgeteilt, dass der Fehler auf Seiten der südkoreanischen Veranstalter zu suchen sei. Vom Hongkonger Trainer sei demnach die chinesische Nationalhymne vorgelegt worden. Wie es zu der Verwechslung kam, soll nun untersucht werden. Tatsächlich wurde der Irrtum aber schnell korrigiert. Nachdem die Gäste das Finale für sich entschieden hatten, wurde bei der Siegerehrung die chinesische Hymne gespielt. grz
Was gerade in China passiert, wirft eine lang umstrittene Frage der wirtschaftlichen Entwicklung auf: Kann eine zentral und von oben herab gesteuerte Autokratie bei Innovationen und Wachstum besser abschneiden als die liberalen Marktwirtschaften?
Zwischen 1980 und 2019 wuchs das chinesische BIP durchschnittlich um mehr als acht Prozent im Jahr – schneller als alle westlichen Volkswirtschaften. In den Nullerjahren ging die wirtschaftliche Entwicklung des Landes (mithilfe westlicher Technologien) sogar über eine reine Aufholjagd hinaus: China investierte in seine eigenen Technologien, veröffentlichte Patente und wissenschaftliche Berichte, und schuf innovative Unternehmen wie Alibaba, Tencent, Baidu und Huawei.
Einige Skeptiker hatten dies für unwahrscheinlich gehalten. Zwar hatten sich schon viele Autokraten über ein schnelles Wirtschaftswachstum freuen können. Aber noch nie zuvor konnte ein nicht-demokratisches Regime ein derart anhaltendes, innovationsgetriebenes Wachstum erzielen. Einige Westler hatten die wissenschaftlichen Fähigkeiten der Sowjetunion der 1950er und 1960er bewundert, aber häufig war dies nur Ausdruck ihrer eigenen Voreingenommenheit: In den 1970ern fiel die Sowjetunion klar zurück und stagnierte, da sie nicht in der Lage war, sektorübergreifend innovativ zu sein.
Sicherlich haben einige kluge China-Beobachter darauf hingewiesen, dass der eiserne Griff der Kommunistischen Partei für die Aussichten des Landes kein gutes Zeichen sei. Aber mehrheitlich herrschte die Meinung vor, China werde sein erstaunliches Wachstum aufrechterhalten. Obwohl es umstritten war, ob China global zu einer guten oder bösen Kraft werden würde, waren sich fast alle einig, dass das Wachstum des Landes unaufhaltsam sei. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank machten es sich zur Gewohnheit, vergangene chinesische Wachstumsraten in die Zukunft zu projizieren, und Bücher mit Titeln wie “Wenn China die Welt regiert“ hatten Hochkonjunktur.
Jahrelang hörte man auch das Argument, China habe einen Zustand der “Vertrauenswürdigkeit ohne Demokratie” erreicht, oder dass die kommunistische Führung wenigstens durch Amtszeitbegrenzungen, Gewaltenteilung und andere sinnvolle Vorrichtungen eingeschränkt sei. Das Land wurde dafür gelobt, die Vorteile zentraler politischer Planung zu verdeutlichen und eine Alternative zum neoliberalen Washingtoner Konsens zu bieten. Sogar jene, die das chinesische Modell als eine Form von “Staatskapitalismus” – mit allen damit verbundenen Widersprüchen – erkannten, sagten voraus, sein Wachstum werde ziemlich ungehindert weitergehen.
Das stärkste Argument war vielleicht, China werde die Welt durch seine mögliche Führungsrolle bei der Künstlichen Intelligenz (KI) beherrschen. Da das Land massiv in KI investiert, auf so viele Daten seiner enormen Bevölkerung zugreifen kann und in ethischer und datenschutzrechtlicher Hinsicht weniger eingeschränkt ist, wurde China auf diesem Gebiet ein offensichtlicher Vorteil bescheinigt.
Aber dieses Argument war immer schon fragwürdig: Man kann nicht einfach annehmen, dass Fortschritte bei der KI zukünftig die Hauptquelle wirtschaftlicher Vorteile sein werden; dass die chinesische Regierung dauerhafte, hochrangige Forschungen in diesem Bereich ermöglicht; oder dass westliche Unternehmen durch Datenschutz und andere Regulierungen erheblich behindert werden.
Chinas Aussichten sind heute viel weniger rosig als früher. Staats- und Parteichef Xi Jinping hat bereits viele interne Kontrollmechanismen abschaffen können. Den 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei hat er dazu genutzt, sich eine beispiellose dritte Amtszeit (ohne absehbare künftige zeitliche Einschränkung) zu sichern und den allmächtigen Ständigen Ausschuss des Politbüros mit loyalen Unterstützern zu besetzen.
Diese Machtkonsolidierung findet statt, obwohl Xi erhebliche Fehler begangen hat, die die Wirtschaft belasten und Chinas Innovationspotenzial untergraben. Seine “Null-Covid-Politik” wäre größtenteils vermeidbar gewesen, hat jedoch erhebliche Kosten verursacht, ebenso wie seine Unterstützung für Russlands Krieg in der Ukraine. Und jetzt, wo Xi uneingeschränkte Macht hat und von Jasagern umgeben ist, werden wohl weitere und noch größere Fehler folgen, da ihm keiner mehr sagen wird, was er hören muss.
Aber daraus zu schließen, Chinas Wachstumsmodell sei nur gefährdet, weil die falsche Person an die Spitze gekommen ist, wäre ein Fehler. Die Tendenz hin zu stärkerer Kontrolle, die während Xis erster Amtszeit (nach 2012) begann, könnte unvermeidlich gewesen sein.
Chinas rapides Industriewachstum in den 1990ern und 2000ern beruhte auf enormen Investitionen, Technologietransfers aus dem Westen, hoher Exportproduktion sowie Finanz- und Lohnunterdrückung. Aber ein solches exportorientiertes Wachstum hat seine Grenzen: Wie Xis Vorgänger Hu Jintao 2012 erkannt hatte, musste Chinas Wachstum “viel ausgeglichener, koordinierter und nachhaltiger” werden – mit viel weniger Abhängigkeit von externer Nachfrage und stärker vom Inlandskonsum gestützt.
Zu dieser Zeit glaubten viele Experten, Xi werde auf diese Herausforderung mit einer “ehrgeizigen Reformagenda” zur Einführung marktwirtschaftlicher Anreize reagieren. Aber diese Interpretation übersah eine Frage, die für China entscheidend war: Wie konnte angesichts einer schnell wachsenden, wirtschaftlich erstarkten Mittelklasse das Monopol der KP beibehalten werden? Die offensichtlichste – und vielleicht die einzige – Antwort darauf war: durch größere Repression und Zensur. Und genau diesen Weg ist Xi gegangen.
Eine Weile glaubten Xi, sein Umfeld und vielleicht sogar viele ausländische Experten, die chinesische Wirtschaft werde auch unter den Bedingungen strengerer zentraler Kontrolle, Zensur, Indoktrinierung und Unterdrückung immer noch weiter wachsen. Erneut hielten viele die KI für ein beispiellos mächtiges Werkzeug zur Überwachung und Kontrolle der Gesellschaft.
Aber es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Xi und seine Berater die Lage falsch eingeschätzt haben und dass China für die zunehmende Kontrolle einen heftigen wirtschaftlichen Preis zahlen muss. Nach den Regulierungsrazzien des letzten Jahres gegen Alibaba, Tencent und andere konzentrieren sich die chinesischen Konzerne weniger auf Innovationen, sondern zunehmend auf ihr gutes Verhältnis zu den politischen Behörden.
Nun häufen sich die Ineffizienzen und andere Probleme, die ein solcher politisch geprägter Schwerpunkt mit sich bringt, und die staatlich getriebenen Innovationen stoßen an ihre Grenzen. Obwohl die akademische Forschung in China seit 2013 immer stärker staatlich gefördert wurde, verbessert sich ihre Qualität nur langsam. Selbst bei der KI, die oberste wissenschaftliche Priorität genießt, hinken die Fortschritte hinter den weltweiten Technologieführern her – die sich meist in den Vereinigten Staaten befinden.
Meine eigenen aktuellen Untersuchungen gemeinsam mit Jie Zhou vom MIT und David Yang von der Harvard University zeigen, dass die zentrale akademische Kontrolle auch die Richtung der Forschung verzerrt. Viele Fakultätsmitglieder wählen ihre Forschungsgebiete aus, um ihren Vorgesetzten oder Dekanen, die erhebliche Macht über ihre Karriere haben, damit zu gefallen. Mit dieser neuen Prioritätensetzung, so scheint es, leidet die allgemeine Forschungsqualität.
Xis fester Griff um Wissenschaft und Wirtschaft bedeutet, dass sich diese Probleme vergrößern werden. Und wie in allen Autokratien wird es an unabhängigen Experten oder inländischen Medien mangeln, die auf diese Fehlentwicklung hinweisen könnten.
Daron Acemoglu, Professor für Ökonomie am MIT, ist (gemeinsam mit James A. Robinson) Verfasser von “Why Nations Fail: The Origins of Power, Prosperity and Poverty” (Profile, 2019) und “The Narrow Corridor: States, Societies, and the Fate of Liberty” (Penguin, 2020). Übersetzung: Harald Eckhoff.
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