Die Bundesrepublik hatte in den 1980er-Jahren den Ruf als Apotheke der Welt. Deutsche Medikamente waren ein Exportschlager. Heute hinkt Deutschland vor allem im Vergleich mit den USA hinterher. Warum ist diese Spitzenposition in Produktion und Forschung verloren gegangen?
Matthias Wernicke: Die Einstellung zur Branche hatte sich verändert. Die Pharmaindustrie ist in Wirtschaftswunderzeiten immer als eine Säule und ein Wachstumsmotor in Deutschland betrachtet worden. Mit Debatten wie um die genetische Forschung, bei der mehr Risiken als Chancen in den Mittelpunkt gerückt wurden, ist auch das öffentliche Klima forschungsfeindlicher geworden. Und das hat sich wiederum negativ auf den Standort und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen ausgewirkt. Hinzu kam ein permanent wachsender Kostendruck, der über Jahre einen Preisverfall für Medikamente zur Folge hatte und die Produktion im Inland unattraktiver machte. Dieses Zusammenspiel hat der deutschen Pharmaindustrie zugesetzt und ist sicher ein wesentlicher Grund, warum die Branche im Vergleich zu den 1980er-Jahren international an Bedeutung verloren hat. Aber inzwischen hat sich einiges geändert. Der Pharmastandort Deutschland gewinnt wieder an Boden.
Sie verdienen also wieder gutes Geld mit den Medikamenten, auch in Deutschland?
Meine Aussage bezieht sich hauptsächlich auf das Forschungsumfeld. Das ist inzwischen wieder wesentlich freundlicher geworden. Die Politik zählt die Pharmaindustrie zu den Schüsselbranchen in Deutschland. Es wird anerkannt, dass unsere Branche zum Wachstum und zum Wohlstand des Landes einen wesentlichen Beitrag leistet. Das belegt übrigens auch eine aktuelle Studie, die wir als Merck Healthcare Germany zusammen mit Roche Pharma in Auftrag gegeben haben. Sie identifiziert die Schlüsselindustrien und analysiert deren Bedeutung für Wachstum und Wohlstand.
Frage: Wenn sich Ihre Aussage nur auf das Forschungsumfeld bezieht, bedeutet das, dass der von Ihnen beschriebene Kostendruck noch besteht?
Es ist noch gar nicht lange her, dass ein Bundesgesundheitsminister eine übermäßig kritische Haltung gegenüber der Pharmaindustrie eingenommen hat. Die Krankenkassen schieben ihre strukturellen Probleme und schlechte finanzielle Lage gerne auf angeblich teure Arzneien, obwohl Rabatte ausgehandelt worden sind und heute in Deutschland hochwertige Medikamente – bildlich gesprochen – manchmal weniger als eine Packung Kaugummi kosten. Medikamente sind keine Kostentreiber und nicht für den Anstieg der Defizite in der gesetzlichen Krankenversicherung verantwortlich. Aber hier hat mit der Corona-Pandemie bereits ein Umdenken stattgefunden. Die Erforschung und Entwicklung hochwirksamer Impfstoffe haben dazu beigetragen, dass die Bedeutung innovativer Medikamente stärker in das Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger gerückt ist.
In Deutschland fehlen Medikamente. Es gibt Lieferengpässe für Fiebersäfte, Asthma- und sogar Krebsmedikamente. Sind Sie als Merck auch davon betroffen – und wenn ja, wie kann es überhaupt dazu kommen?
Bei manchen Medikamenten – vor allem im Generika-Bereich – gibt es mittlerweile nur noch zwei oder drei Hersteller des relevanten Wirkstoffs. Fällt einer aus oder wird die Lieferkette bei der Einfuhr aus anderen Ländern unterbrochen, kann es zu Lieferengpässen kommen. Wir hatten bei Merck einen Fall, bei dem wir für mehrere andere Hersteller für einen Blutdrucksenker eingesprungen sind und die Ausfälle kurzfristig kompensiert haben. Nach drei Wochen waren auch wir ausverkauft. Die Produktion dann für einen kurzen Zeitraum hochzufahren, ist rein technisch nicht möglich und macht zudem auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht keinen Sinn. Aber dies sind Einzelfälle. In Deutschland gibt es in Summe keine Unterversorgung mit Medikamenten.
Ist das wirklich so? Der Fiebersaft ist doch ein gutes Gegenbeispiel.
Es gibt Ersatzmedikamente, die die gleiche Wirkung haben. Der Fiebersaft ist nicht nur als Saft, sondern auch als Lutschtablette verfügbar. In der Medikation macht das keinen Unterschied. Eine Behandlung ist also möglich. Es gibt keinen Notstand.
Gilt das auch für Vorprodukte? Was wäre, wenn sie – wie in der Anfangsphase des Ukraine-Kriegs oder während der Corona-Pandemie – ausfallen würden?
Das ist für die gesamte Pharmabranche ein signifikantes Problem, zumal die Mengen, die aus Indien und China importiert werden, nicht einfach ersetzt werden können. Deshalb sollte die Politik Vorkehrungen treffen, dass die Grundversorgung mit Medikamenten beziehungsweise den wirkstoffrelevanten Vorprodukten aus europäischer Produktion gesichert ist. Dafür müssten aber auch Preisstrukturen angepasst werden, damit sich die Herstellung in Europa rechnet.
Wenn Sie von Rechnen sprechen, was bedeutet das für den Standort und für Merck? Ist Deutschland noch wettbewerbsfähig?
Wir als Merck stehen zum Standort Deutschland. An unserem Hauptsitz in Darmstadt haben wir über die letzten zehn Jahre zweieinhalb Milliarden Euro investiert. Mit dem Medizin-Forschungsgesetz ist auch der Pharmastandort Deutschland gestärkt worden. Aber uns macht genau wie anderen Branchen der enorme Bürokratieaufwand zu schaffen. Ein Beispiel: Wir haben in Deutschland Dutzende Datenschutz- und Ethik-Kommissionen, was an unserer föderalen Struktur liegt. Hier macht es Sinn, dies zu bündeln. Wer heute in Deutschland Pharmaforschung betreibt, muss einen unglaublichen Hürdenlauf machen, bevor das Medikament überhaupt erst in die Zulassung klinischer Studien kommt.
Gilt das auch für das europäische Zulassungsverfahren? Die US-Amerikaner sind schneller. Oder?
Zulassungsbehörden sind notwendig. Es geht um die Gesundheit des Menschen und wie ich Krankheiten heilen kann. Das bedarf einer gründlichen Überprüfung. In den USA ist dafür die FDA, bei uns in Europa die EMA, in der Schweiz die Swissmedic, oder in Großbritannien die MHRA zuständig. Die Verfahrensweisen sind ähnlich. Aber bei vielen bürokratischen Extra-Anforderungen – übrigens nicht nur im Pharmabereich – sollte Deutschland als hoffentlich zukünftig wieder führender Pharmastandort mit Augenmaß vorgehen. Wir sollten nicht regelmäßig noch höhere Hürden haben als zum Beispiel von der EU vorgegeben.
Vor seinem Wechsel als CEO von Merck Healthcare Germany verantwortete Matthias Wernicke das Russland-Geschäft des Pharmakonzerns. Seine berufliche Laufbahn startete der Merck-Deutschland-Chef bei McKinsey, Berlin. Wernicke studierte Wirtschaft und Politik an der Oxford University.