in diesen Minuten starten BMBF und KMK eine Pressekonferenz. Dass Bund und Länder gemeinsame Sache machen, kommt derzeit selten vor. Doch die Ergebnisse der neuesten internationalen Grundschul-Studie sind schockierend. Viertklässler aus 57 Staaten ließen ihre Lesekompetenz testen. Fast alle Staaten schneiden schlechter ab als vor fünf Jahren – besonders auch Deutschland, das unter OECD- und EU-Durchschnitt fällt. Wir konnten vorab einen Blick in die Daten werfen.
Andreas Frey hat die Studie für Deutschland ausgewertet. Er sagt etwas anderes als die meisten Experten: Allein mit der Migration ins Schulsystem lässt sich der beharrliche Abwärtstrend der vergangenen zehn Jahre bei Viertklässlern kaum erklären. Was ist es dann? Ich habe den Psychologen interviewt.
Einer von drei Gewinnerstaaten ist England. Das Land konnte seinen Aufwärtstrend fortsetzen. Auf der Insel haben Hunderttausende Schüler Anspruch auf ein digital gestütztes Tutor-Programm. Christian Füller stellt Ihnen das Projekt vor, das auch an deutschen Schulen eingesetzt werden könnte.
Eine informative Lektüre wünscht,
Die Lesekompetenz von Grundschülern in Deutschland ist in den letzten 20 Jahren bedenklich gesunken. Die heute veröffentlichte Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigt, dass die durchschnittliche Lesekompetenz zwischen 2016 und 2021 besonders stark nachgelassen hat. In diesen Zeitraum fallen auch die durch die Pandemie bedingten Schulschließungen. Die mittlere Punktzahl sank um 13 Punkte auf 524. Deutschland liegt damit unter EU- und OECD-Durchschnitt (527 Punkte).
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Die IGLU-Studie vergleicht alle fünf Jahre die Lesekompetenz von Viertklässlern in etwa 60 Staaten. Während sich in vergangenen Testzyklen viele Länder verbessern konnten, fallen nun besonders viele zurück. Nur drei Staaten weisen einen positiven Trend auf: Frankreich, England und Singapur.
Besorgniserregend ist der hohe Anteil schwacher Leserinnen und Leser in Deutschland. Ein Viertel der Viertklässler erreicht nicht den internationalen Standard für eine erfolgreiche Lesekompetenz. Das heißt: Sie können basale Informationen erfassen, aber nicht so flüssig lesen, um sich Wissen selbstständig und lesend anzueignen. Ein Teil dieser Schüler kann, wie es in der Studie heißt, nur rudimentär lesen. Die Risikogruppe der schwachen Leser ist seit 2001 auf 25,4 Prozent gestiegen – was deutlich höher ist als 2016 (18,9 Prozent) oder 2001 (17,0 Prozent).
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Die IGLU-Daten bestätigen die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends. Dieser hatte im vergangenen Jahr die hohe Zahl an Risikoschülern aufgedeckt und eine breite Debatte ausgelöst. Laut IQB verfehlt in einigen Bundesländern die Hälfte der Viertklässler die Mindeststandards.
Der Unterschied zwischen Kindern aus ärmeren und reicheren Elternhäusern beträgt 91 Punkte. “Das entspricht, je nach Berechungsmethode, ein bis zwei Schuljahre“, erklärt Dirk Hastedt, der die Studie leitet und Direktor des IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) ist. Erstmals berechnet die IGLU-Studie den sozialen Hintergrund der weltweit 400.000 getesteten Schüler nach einer neuen Methode. Ein Vergleich zu Vorjahren ist daher schwierig.
Für die Forscherinnen und Forscher der TU Dortmund, die die deutsche Erhebung ausgewertet haben, ist klar: Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem ist seit 2001 unverändert geblieben. In Dortmund wertete man weitere Indikatoren aus. So benötigen Kinder, deren Eltern Akademiker und höhere Angestellte sind, lediglich 510 Punkte, um eine Gymnasial-Empfehlung zu erhalten. Kinder von Ungelernten und Arbeitslosen müssen mehr Überzeugungsarbeit leisten: Erst wenn der Schüler 575 Punkte erreicht, sieht der Lehrer ihn auf dem Gymnasium.
Die IGLU-Studie bietet weltweite Daten über Schulschließungen während der Pandemie – und damit auch zum Einfluss auf den Lernerfolg. In Deutschland, Polen oder Dänemark war der Schulbetrieb besonders lange eingeschränkt. Hier geben mehr als 90 Prozent der Schüler an, mehr als zwei Monate davon betroffen gewesen zu sein. In Frankreich sagt das nur jeder fünfte Befragte, weltweit jeder zweite.
Doch wollen die Forscher keine voreiligen Schlüsse ziehen. Schweden, das die Schulen nur kurz geschlossen hielt, hat ebenfalls große Abstürze zu verzeichnen; England verbesserte sich sogar und hatte ebenfalls einen kurzen Schul-Lockdown. Die Zusammenhänge sind komplex. Hastedt fordert intensivere Forschung zum Einfluss der Covid-Maßnahmen auf die Lernleistungen.
Er möchte nicht generell von einer “Lost Generation” sprechen. Eher sehe Hastedt eine verlorene Generation der Jungen. Auf dieses Problem werde zu wenig geachtet. Jungen schneiden beim Lesen immer schlechter ab. In 51 von 57 Staaten ist das der Fall. Die Lücke beträgt weltweit 19 Punkte, auch in Deutschland erreichen Jungen im Schnitt 15 Punkte weniger als Mädchen.
Für die Bildungsrepublik Deutschland sind die Ergebnisse der aktuellen IGLU-Studie eine erneute Kränkung. Es ist die Dokumentation sozialpolitischen Versagens. Die Ampelregierung feilt mit dem Startchancen-Programm bereits an einer vielversprechenden Gegenmaßnahme. In KMK und BMBF scheint man die Signale zu hören. Zur Stunde präsentieren sie gemeinsam die Ergebnisse in der Bundespressekonferenz. Vor zwanzig Jahren, beim ersten Pisa-Schock, folgte eine Sondersitzung der Kultusminister. Diese Reaktion wäre auch 20 Jahre später angemessen.
Sie haben die Ergebnisse für Deutschland mit ausgewertet. Waren Sie überrascht?
Nein, ich habe solche Ergebnisse für Deutschland erwartet. Der Trend zeichnet sich seit längerem ab – das ist eine problematische Entwicklung. Deutschland gehört damit zusammen mit Schweden und den Niederlanden zu einer kleinen Gruppe an Staaten, in der die mittlere Lesekompetenz in den letzten 20 Jahren substanziell gesunken und die Heterogenität gleichzeitig zugenommen hat.
Das bedeutet, der Abstand zwischen den schwächsten und stärksten Schülern wächst.
Ja, die Spitzengruppe ist ähnlich gut geblieben. Der Anteil der schwachen und sehr schwachen Leserinnen und Leser hat aber zugenommen. Ein Viertel der Viertklässler kann nur sehr schlecht lesen. Das ist ein dramatisches Ergebnis.
Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Die IGLU-Daten können erstmal nur einen Ist-Zustand beschreiben. Alle daraus gefolgerten Erklärungen sind Vermutungen …
… dann vermuten Sie bitte.
Wir sehen, dass Schülerinnen und Schüler, die im internationalen Vergleich besser abschneiden, im Durchschnitt mehr lesen in der Schule. Im OECD-Vergleich lesen in Deutschland die Schülerinnen und Schüler in der Schule wöchentlich eine Stunde weniger. Das wäre eine sehr einfache Erklärung, die sich direkt aus der Datenlage herauslesen lässt.
Wir müssen sicher auch über die Folgen von Corona sprechen. Sie haben eine viel beachtete Studie geschrieben, die den Distanzunterricht während der Lockdowns für so gut wie wirkungslos erklärte. Frankreich und England, die ihre Schulen kürzer geschlossen hielten, haben weniger Verluste zu vermelden – oder vereinfache ich da zu sehr?
Ja, das ist auffällig. Aber es wäre zu kurz gegriffen zu sagen, dass ein restriktiver Umgang mit der Pandemie dazu geführt hat, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt schlechter im Lesen sind. Das sieht man schlichtweg nicht in den Daten. Beispiel Schweden: Das Land schneidet zum Beispiel schlechter ab – obwohl die Schulen sehr lang offengehalten wurden.
Welche Rolle spielt die in den vergangenen zehn Jahren zugenommene Migration und damit Heterogenität in den Klassenzimmern?
Das ist ein Ergebnis, das mich erstaunt hat. Auf den sozioökonomischen und den Migrationshintergrund sind die für Deutschland schwachen Ergebnisse nämlich nicht zurückzuführen. Die Schülerschaft ist seit 2001 heterogener geworden. Diese geänderte Zusammensetzung konnten wir statistisch herausrechnen und Klassenzimmer von 2001 und 2021 vergleichbar machen. Das ändert nichts an den Ergebnissen. Wir sehen immer noch ein recht düsteres Bild in den aktuellen Daten.
Was würden Sie den Verantwortlichen in Ministerien und Verwaltungen nun raten?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass KMK und andere Entscheidungsträger die Ergebnisse wie üblich bei Large-Scale-Assessments beachten und darauf reagieren werden. Die Ansatzpunkte aus meiner Sicht sind bekannt: Vorschulische Sprachstandsdiagnostik, um frühzeitig fördern zu können, wenn ein Kind erhebliche Defizite hat. Im Elementar- und Primarbereich fällt das noch leicht. Das ist wichtig, denn: Deutschland hat im internationalen Vergleich viele Kinder im Elementarbereich, die über wenig Deutschkenntnisse verfügen.
Worauf kommt es noch an?
Zudem braucht es gezielte Sprachförderung, quantitativ wie qualitativ, und eine stärkere didaktische Differenzierung für schwächere und stärkere Schüler im Unterricht. Sowohl bei Diagnostik als auch der Förderung im Elementarbereich ist Deutschland nicht besonders weit, zumindest nicht flächendeckend. Ich hoffe, dass die Ergebnisse von IGLU 2021 einen Impuls geben, um in diesen Bereichen nun in der Breite weiterzukommen.
Die Fragen stellte Niklas Prenzel.
Andreas Frey ist Professor für pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Beratung, Diagnostik und Evaluation an der Goethe-Universität Frankfurt. Er gehört zum vierköpfigen wissenschaftlichen Konsortium der deutschen IGLU-Erhebung 2021.
Bisher stand England schulmäßig für Eton College, Westminster School oder Charterhouse. Doch nun ist es den Schulen auf der Insel gelungen, den radebrechenden Waisenjungen Oliver Twist in die Spitzengruppe der Leser der Welt zu katapultieren. England erreicht Platz 4 von 57 bei der Lese-Grundschul-Untersuchung (IGLU). Die Briten fördern insbesondere seit Corona Hunderttausende Schülerinnen und Schüler systematisch mit Tutor-Programmen und einer nationalen Strategie im Umfang von drei Milliarden Pfund. Vielleicht wäre das auch keine schlechte Idee für den notorischen Pisa-Verlierer Deutschland. Zur Überraschung: Einen Ableger des digital-analogen Programms “Tutoring for All” gibt es hierzulande.
England hat seit der letzten IGLU-Studie nur einen einzigen Punkt verloren. Deutschland hingegen ist um 13 Punkte abgestürzt. Selbst das Spitzenland Schweden, bei dem es praktisch keine Schulschließungen gab, hat seit 2016 um 17 Punkte nachgegeben. Die Viertklässler aus England verbessern ihre Leseleistungen seit 15 Jahren kontinuierlich – und haben inzwischen den ewigen Pisa-Sieger Finnland überholt. Das Geheimnis des britischen Erfolgs: Auf der Insel gilt die 100-Prozent-Maxime. Alle Kinder sollen einen Mindeststandard beim Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen. Alle, ohne Ausnahme. Erreicht wird dies unter anderem durch eine digital-analoge Leseförderung namens Tutoring for All.
“Das ist keine Leseförderung, wie sie heute viel zu häufig ist: Irgendjemand macht mit irgendwem irgendwas”, sagt Ekkehard Thümler, der deutsche Adoptivvater des britischen Vorbilds. “Tutoring for All ist ein systematischer, wissenschaftsbasierter digitaler Lese-Lernkurs, bei dem geschulte Tutoren besonders schwache Leser begleiten.” Thümler hat früher an der Universität Heidelberg die Wirksamkeit gemeinnütziger Organisationen erforscht. Sümeyye Balci und die renommierte Didaktikerin Ingrid Gogolin haben das Tutor-Programm in deutscher Sprache inhaltlich völlig neu aufbereitet.
Das Tutoring-Tool konnte bei einem Testlauf nahe Frankfurt große Erfolge erzielen. Bei dem Experiment in den Ferien erwies sich eine Gruppe von Schülern als Nutznießer, die auch bei der neuerlichen IGLU-Studie die Sorgenkinder waren: Jungen, insbesondere Jungen mit Zuwanderungsgeschichte.
Die Fortschritte, die einige der teilnehmenden Schüler erzielten, waren so groß, dass Thümler selbst ins Grübeln geriet. Eigentlich war vorgesehen, dass das Programm eine halbe Stunde pro Tag läuft. Aber auch Jungen, die sonst keine Lust auf Lesen haben, spielten und lernten zwei Stunden täglich. Die Entwickler trauten ihren Augen nicht: Auf dem Dashboard des digitalen Lernprogramms sind Schüler eingetragen, die zwei Jahre Leseleistung aufgeholt haben sollen.
“Das muss erst noch wissenschaftlich validiert werden”, bremst Thümler. Allerdings: Dass Sommerschulen mit spielerischen Methoden Wirkung in wenigen Stunden Erfolge erzielen können, bewies die berühmte Jacobs-Summer-School für zugewanderte Kinder. Sie hatte 2005 nach dem ersten Leseschock Deutschlands unter Beobachtung von Petra Stanat große Leistungssprünge gezeigt. Stanat ist heute Chefevaluiererin der deutschen Schulen am Institut zur Qualitäts-Entwicklung im Bildungswesen.
“Tutoring for All” funktioniert ein bisschen wie die gute alte Lesepatin, auch sie bekannt aus der Zeit, als Pisa hierzulande funktionale Analphabeten berühmt machte. Nur gehen diesmal nicht pensionierte Grundschullehrerinnen in die Krisenschulen in Wedding oder Wilhelmsburg, im Hasenbergl oder in Hemshof, wo 40 von 132 Grundschülern versetzungsgefährdet sind. Diesmal kommt ein Leseprogramm in die Schule, das einen Mix aus Fibel und Game darstellt.
Die Nachhilfeschüler lernen die Buchstaben wie in der Fibel anhand von Geschichten – und kleinen Spielen. Zunächst lesen sie zum Beispiel die Story von dem Hasen, der rote Hosen liebt. Dann beantworten sie auf dem Computer dazu Fragen. Die klingen zwar ziemlich simpel, sind aber didaktisch genau auf die Geschichten abgestimmt. Im Dashboard des digitalen Turbo-Tutors können die Betreuer derweil wie durch ein Mikroskop verfolgen, wo der Schüler steht. Gleichzeitig spornt das digitale Tool die Lerner an: Wie bei echten Games können sie verschiedene Levels erreichen.
Die Game-Anmutung motiviert offensichtlich – genau wie die Tatsache, dass das Lernprogramm nicht auf papiernen Fibeln, sondern am Tablet läuft. Immer zwei Schüler spielen im Tandem. Das halbstündige Üben in Gruppen von vier Kindern betreuen echte Tutoren. Das bedeutet, dass ein Tutorenprogramm für die Benachteiligten in Grundschulen zugleich eine Praxis- und Verdienstmöglichkeit für Studierende sein könnte. Wollte Hamburg das Tutoring-Programm einsetzen, wären 100 Tutoren nötig. Im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen bräuchte man 1.500 Tutoren. Für ganz Deutschland wären es bei 15.000 Grundschulen 7.500 Nachhilfelehrer, die das digitale Tutor-Programm begleiten. “Wir hoffen, Studierende durch den niedrigschwelligen Einstieg als Tutor:in für ein Lehramtsstudium begeistern zu können”, sagt Thümler.
Englands Tutoring-Programm setzt darauf, Gruppen von maximal sechs Schülern gezielt zu fördern. Allein die Schulen haben dort Budgets in Höhe von 600 Millionen Pfund für eigene Tutoren bekommen. Zusätzlich gibt es mit Randstad einen Tutorienanbieter für ganz England. Diese beiden Schienen des Tutoring-Programms haben geholfen, die Zahl der Risikoschüler zu minimieren. Anders als beim ewigen Pisa-Vorbild Finnland könnte man mit dem Beispiel Englands ein definiertes Erfolgstool für Risikoschüler kopieren. Und es wäre kein Geschäftsmodell.
Das Start-up, das Thümler gegründet hat, ist nämlich non profit. Es soll nicht pekuniär skalieren, sondern alle benachteiligte Schülerinnen und Schüler erreichen. Ekkehard Thümler ist ein Fan von 100-Prozent-Schulen. Laut dem jüngsten Chancenmonitor gilt die Methode des systematischen Nachhilfe-Lernens durch Tutoren als verlässliches Mittel, kein Kind zurückzulassen. Alle anderen Versuche seit Pisa haben nicht gefruchtet. Und inzwischen sind die Lehrerzimmer viel zu leer, als dass Grundschulen allein ihre Risikoschüler gut fördern könnten.
in diesen Minuten starten BMBF und KMK eine Pressekonferenz. Dass Bund und Länder gemeinsame Sache machen, kommt derzeit selten vor. Doch die Ergebnisse der neuesten internationalen Grundschul-Studie sind schockierend. Viertklässler aus 57 Staaten ließen ihre Lesekompetenz testen. Fast alle Staaten schneiden schlechter ab als vor fünf Jahren – besonders auch Deutschland, das unter OECD- und EU-Durchschnitt fällt. Wir konnten vorab einen Blick in die Daten werfen.
Andreas Frey hat die Studie für Deutschland ausgewertet. Er sagt etwas anderes als die meisten Experten: Allein mit der Migration ins Schulsystem lässt sich der beharrliche Abwärtstrend der vergangenen zehn Jahre bei Viertklässlern kaum erklären. Was ist es dann? Ich habe den Psychologen interviewt.
Einer von drei Gewinnerstaaten ist England. Das Land konnte seinen Aufwärtstrend fortsetzen. Auf der Insel haben Hunderttausende Schüler Anspruch auf ein digital gestütztes Tutor-Programm. Christian Füller stellt Ihnen das Projekt vor, das auch an deutschen Schulen eingesetzt werden könnte.
Eine informative Lektüre wünscht,
Die Lesekompetenz von Grundschülern in Deutschland ist in den letzten 20 Jahren bedenklich gesunken. Die heute veröffentlichte Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigt, dass die durchschnittliche Lesekompetenz zwischen 2016 und 2021 besonders stark nachgelassen hat. In diesen Zeitraum fallen auch die durch die Pandemie bedingten Schulschließungen. Die mittlere Punktzahl sank um 13 Punkte auf 524. Deutschland liegt damit unter EU- und OECD-Durchschnitt (527 Punkte).
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Die IGLU-Studie vergleicht alle fünf Jahre die Lesekompetenz von Viertklässlern in etwa 60 Staaten. Während sich in vergangenen Testzyklen viele Länder verbessern konnten, fallen nun besonders viele zurück. Nur drei Staaten weisen einen positiven Trend auf: Frankreich, England und Singapur.
Besorgniserregend ist der hohe Anteil schwacher Leserinnen und Leser in Deutschland. Ein Viertel der Viertklässler erreicht nicht den internationalen Standard für eine erfolgreiche Lesekompetenz. Das heißt: Sie können basale Informationen erfassen, aber nicht so flüssig lesen, um sich Wissen selbstständig und lesend anzueignen. Ein Teil dieser Schüler kann, wie es in der Studie heißt, nur rudimentär lesen. Die Risikogruppe der schwachen Leser ist seit 2001 auf 25,4 Prozent gestiegen – was deutlich höher ist als 2016 (18,9 Prozent) oder 2001 (17,0 Prozent).
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Die IGLU-Daten bestätigen die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends. Dieser hatte im vergangenen Jahr die hohe Zahl an Risikoschülern aufgedeckt und eine breite Debatte ausgelöst. Laut IQB verfehlt in einigen Bundesländern die Hälfte der Viertklässler die Mindeststandards.
Der Unterschied zwischen Kindern aus ärmeren und reicheren Elternhäusern beträgt 91 Punkte. “Das entspricht, je nach Berechungsmethode, ein bis zwei Schuljahre“, erklärt Dirk Hastedt, der die Studie leitet und Direktor des IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) ist. Erstmals berechnet die IGLU-Studie den sozialen Hintergrund der weltweit 400.000 getesteten Schüler nach einer neuen Methode. Ein Vergleich zu Vorjahren ist daher schwierig.
Für die Forscherinnen und Forscher der TU Dortmund, die die deutsche Erhebung ausgewertet haben, ist klar: Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem ist seit 2001 unverändert geblieben. In Dortmund wertete man weitere Indikatoren aus. So benötigen Kinder, deren Eltern Akademiker und höhere Angestellte sind, lediglich 510 Punkte, um eine Gymnasial-Empfehlung zu erhalten. Kinder von Ungelernten und Arbeitslosen müssen mehr Überzeugungsarbeit leisten: Erst wenn der Schüler 575 Punkte erreicht, sieht der Lehrer ihn auf dem Gymnasium.
Die IGLU-Studie bietet weltweite Daten über Schulschließungen während der Pandemie – und damit auch zum Einfluss auf den Lernerfolg. In Deutschland, Polen oder Dänemark war der Schulbetrieb besonders lange eingeschränkt. Hier geben mehr als 90 Prozent der Schüler an, mehr als zwei Monate davon betroffen gewesen zu sein. In Frankreich sagt das nur jeder fünfte Befragte, weltweit jeder zweite.
Doch wollen die Forscher keine voreiligen Schlüsse ziehen. Schweden, das die Schulen nur kurz geschlossen hielt, hat ebenfalls große Abstürze zu verzeichnen; England verbesserte sich sogar und hatte ebenfalls einen kurzen Schul-Lockdown. Die Zusammenhänge sind komplex. Hastedt fordert intensivere Forschung zum Einfluss der Covid-Maßnahmen auf die Lernleistungen.
Er möchte nicht generell von einer “Lost Generation” sprechen. Eher sehe Hastedt eine verlorene Generation der Jungen. Auf dieses Problem werde zu wenig geachtet. Jungen schneiden beim Lesen immer schlechter ab. In 51 von 57 Staaten ist das der Fall. Die Lücke beträgt weltweit 19 Punkte, auch in Deutschland erreichen Jungen im Schnitt 15 Punkte weniger als Mädchen.
Für die Bildungsrepublik Deutschland sind die Ergebnisse der aktuellen IGLU-Studie eine erneute Kränkung. Es ist die Dokumentation sozialpolitischen Versagens. Die Ampelregierung feilt mit dem Startchancen-Programm bereits an einer vielversprechenden Gegenmaßnahme. In KMK und BMBF scheint man die Signale zu hören. Zur Stunde präsentieren sie gemeinsam die Ergebnisse in der Bundespressekonferenz. Vor zwanzig Jahren, beim ersten Pisa-Schock, folgte eine Sondersitzung der Kultusminister. Diese Reaktion wäre auch 20 Jahre später angemessen.
Sie haben die Ergebnisse für Deutschland mit ausgewertet. Waren Sie überrascht?
Nein, ich habe solche Ergebnisse für Deutschland erwartet. Der Trend zeichnet sich seit längerem ab – das ist eine problematische Entwicklung. Deutschland gehört damit zusammen mit Schweden und den Niederlanden zu einer kleinen Gruppe an Staaten, in der die mittlere Lesekompetenz in den letzten 20 Jahren substanziell gesunken und die Heterogenität gleichzeitig zugenommen hat.
Das bedeutet, der Abstand zwischen den schwächsten und stärksten Schülern wächst.
Ja, die Spitzengruppe ist ähnlich gut geblieben. Der Anteil der schwachen und sehr schwachen Leserinnen und Leser hat aber zugenommen. Ein Viertel der Viertklässler kann nur sehr schlecht lesen. Das ist ein dramatisches Ergebnis.
Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Die IGLU-Daten können erstmal nur einen Ist-Zustand beschreiben. Alle daraus gefolgerten Erklärungen sind Vermutungen …
… dann vermuten Sie bitte.
Wir sehen, dass Schülerinnen und Schüler, die im internationalen Vergleich besser abschneiden, im Durchschnitt mehr lesen in der Schule. Im OECD-Vergleich lesen in Deutschland die Schülerinnen und Schüler in der Schule wöchentlich eine Stunde weniger. Das wäre eine sehr einfache Erklärung, die sich direkt aus der Datenlage herauslesen lässt.
Wir müssen sicher auch über die Folgen von Corona sprechen. Sie haben eine viel beachtete Studie geschrieben, die den Distanzunterricht während der Lockdowns für so gut wie wirkungslos erklärte. Frankreich und England, die ihre Schulen kürzer geschlossen hielten, haben weniger Verluste zu vermelden – oder vereinfache ich da zu sehr?
Ja, das ist auffällig. Aber es wäre zu kurz gegriffen zu sagen, dass ein restriktiver Umgang mit der Pandemie dazu geführt hat, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt schlechter im Lesen sind. Das sieht man schlichtweg nicht in den Daten. Beispiel Schweden: Das Land schneidet zum Beispiel schlechter ab – obwohl die Schulen sehr lang offengehalten wurden.
Welche Rolle spielt die in den vergangenen zehn Jahren zugenommene Migration und damit Heterogenität in den Klassenzimmern?
Das ist ein Ergebnis, das mich erstaunt hat. Auf den sozioökonomischen und den Migrationshintergrund sind die für Deutschland schwachen Ergebnisse nämlich nicht zurückzuführen. Die Schülerschaft ist seit 2001 heterogener geworden. Diese geänderte Zusammensetzung konnten wir statistisch herausrechnen und Klassenzimmer von 2001 und 2021 vergleichbar machen. Das ändert nichts an den Ergebnissen. Wir sehen immer noch ein recht düsteres Bild in den aktuellen Daten.
Was würden Sie den Verantwortlichen in Ministerien und Verwaltungen nun raten?
Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass KMK und andere Entscheidungsträger die Ergebnisse wie üblich bei Large-Scale-Assessments beachten und darauf reagieren werden. Die Ansatzpunkte aus meiner Sicht sind bekannt: Vorschulische Sprachstandsdiagnostik, um frühzeitig fördern zu können, wenn ein Kind erhebliche Defizite hat. Im Elementar- und Primarbereich fällt das noch leicht. Das ist wichtig, denn: Deutschland hat im internationalen Vergleich viele Kinder im Elementarbereich, die über wenig Deutschkenntnisse verfügen.
Worauf kommt es noch an?
Zudem braucht es gezielte Sprachförderung, quantitativ wie qualitativ, und eine stärkere didaktische Differenzierung für schwächere und stärkere Schüler im Unterricht. Sowohl bei Diagnostik als auch der Förderung im Elementarbereich ist Deutschland nicht besonders weit, zumindest nicht flächendeckend. Ich hoffe, dass die Ergebnisse von IGLU 2021 einen Impuls geben, um in diesen Bereichen nun in der Breite weiterzukommen.
Die Fragen stellte Niklas Prenzel.
Andreas Frey ist Professor für pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Beratung, Diagnostik und Evaluation an der Goethe-Universität Frankfurt. Er gehört zum vierköpfigen wissenschaftlichen Konsortium der deutschen IGLU-Erhebung 2021.
Bisher stand England schulmäßig für Eton College, Westminster School oder Charterhouse. Doch nun ist es den Schulen auf der Insel gelungen, den radebrechenden Waisenjungen Oliver Twist in die Spitzengruppe der Leser der Welt zu katapultieren. England erreicht Platz 4 von 57 bei der Lese-Grundschul-Untersuchung (IGLU). Die Briten fördern insbesondere seit Corona Hunderttausende Schülerinnen und Schüler systematisch mit Tutor-Programmen und einer nationalen Strategie im Umfang von drei Milliarden Pfund. Vielleicht wäre das auch keine schlechte Idee für den notorischen Pisa-Verlierer Deutschland. Zur Überraschung: Einen Ableger des digital-analogen Programms “Tutoring for All” gibt es hierzulande.
England hat seit der letzten IGLU-Studie nur einen einzigen Punkt verloren. Deutschland hingegen ist um 13 Punkte abgestürzt. Selbst das Spitzenland Schweden, bei dem es praktisch keine Schulschließungen gab, hat seit 2016 um 17 Punkte nachgegeben. Die Viertklässler aus England verbessern ihre Leseleistungen seit 15 Jahren kontinuierlich – und haben inzwischen den ewigen Pisa-Sieger Finnland überholt. Das Geheimnis des britischen Erfolgs: Auf der Insel gilt die 100-Prozent-Maxime. Alle Kinder sollen einen Mindeststandard beim Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen. Alle, ohne Ausnahme. Erreicht wird dies unter anderem durch eine digital-analoge Leseförderung namens Tutoring for All.
“Das ist keine Leseförderung, wie sie heute viel zu häufig ist: Irgendjemand macht mit irgendwem irgendwas”, sagt Ekkehard Thümler, der deutsche Adoptivvater des britischen Vorbilds. “Tutoring for All ist ein systematischer, wissenschaftsbasierter digitaler Lese-Lernkurs, bei dem geschulte Tutoren besonders schwache Leser begleiten.” Thümler hat früher an der Universität Heidelberg die Wirksamkeit gemeinnütziger Organisationen erforscht. Sümeyye Balci und die renommierte Didaktikerin Ingrid Gogolin haben das Tutor-Programm in deutscher Sprache inhaltlich völlig neu aufbereitet.
Das Tutoring-Tool konnte bei einem Testlauf nahe Frankfurt große Erfolge erzielen. Bei dem Experiment in den Ferien erwies sich eine Gruppe von Schülern als Nutznießer, die auch bei der neuerlichen IGLU-Studie die Sorgenkinder waren: Jungen, insbesondere Jungen mit Zuwanderungsgeschichte.
Die Fortschritte, die einige der teilnehmenden Schüler erzielten, waren so groß, dass Thümler selbst ins Grübeln geriet. Eigentlich war vorgesehen, dass das Programm eine halbe Stunde pro Tag läuft. Aber auch Jungen, die sonst keine Lust auf Lesen haben, spielten und lernten zwei Stunden täglich. Die Entwickler trauten ihren Augen nicht: Auf dem Dashboard des digitalen Lernprogramms sind Schüler eingetragen, die zwei Jahre Leseleistung aufgeholt haben sollen.
“Das muss erst noch wissenschaftlich validiert werden”, bremst Thümler. Allerdings: Dass Sommerschulen mit spielerischen Methoden Wirkung in wenigen Stunden Erfolge erzielen können, bewies die berühmte Jacobs-Summer-School für zugewanderte Kinder. Sie hatte 2005 nach dem ersten Leseschock Deutschlands unter Beobachtung von Petra Stanat große Leistungssprünge gezeigt. Stanat ist heute Chefevaluiererin der deutschen Schulen am Institut zur Qualitäts-Entwicklung im Bildungswesen.
“Tutoring for All” funktioniert ein bisschen wie die gute alte Lesepatin, auch sie bekannt aus der Zeit, als Pisa hierzulande funktionale Analphabeten berühmt machte. Nur gehen diesmal nicht pensionierte Grundschullehrerinnen in die Krisenschulen in Wedding oder Wilhelmsburg, im Hasenbergl oder in Hemshof, wo 40 von 132 Grundschülern versetzungsgefährdet sind. Diesmal kommt ein Leseprogramm in die Schule, das einen Mix aus Fibel und Game darstellt.
Die Nachhilfeschüler lernen die Buchstaben wie in der Fibel anhand von Geschichten – und kleinen Spielen. Zunächst lesen sie zum Beispiel die Story von dem Hasen, der rote Hosen liebt. Dann beantworten sie auf dem Computer dazu Fragen. Die klingen zwar ziemlich simpel, sind aber didaktisch genau auf die Geschichten abgestimmt. Im Dashboard des digitalen Turbo-Tutors können die Betreuer derweil wie durch ein Mikroskop verfolgen, wo der Schüler steht. Gleichzeitig spornt das digitale Tool die Lerner an: Wie bei echten Games können sie verschiedene Levels erreichen.
Die Game-Anmutung motiviert offensichtlich – genau wie die Tatsache, dass das Lernprogramm nicht auf papiernen Fibeln, sondern am Tablet läuft. Immer zwei Schüler spielen im Tandem. Das halbstündige Üben in Gruppen von vier Kindern betreuen echte Tutoren. Das bedeutet, dass ein Tutorenprogramm für die Benachteiligten in Grundschulen zugleich eine Praxis- und Verdienstmöglichkeit für Studierende sein könnte. Wollte Hamburg das Tutoring-Programm einsetzen, wären 100 Tutoren nötig. Im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen bräuchte man 1.500 Tutoren. Für ganz Deutschland wären es bei 15.000 Grundschulen 7.500 Nachhilfelehrer, die das digitale Tutor-Programm begleiten. “Wir hoffen, Studierende durch den niedrigschwelligen Einstieg als Tutor:in für ein Lehramtsstudium begeistern zu können”, sagt Thümler.
Englands Tutoring-Programm setzt darauf, Gruppen von maximal sechs Schülern gezielt zu fördern. Allein die Schulen haben dort Budgets in Höhe von 600 Millionen Pfund für eigene Tutoren bekommen. Zusätzlich gibt es mit Randstad einen Tutorienanbieter für ganz England. Diese beiden Schienen des Tutoring-Programms haben geholfen, die Zahl der Risikoschüler zu minimieren. Anders als beim ewigen Pisa-Vorbild Finnland könnte man mit dem Beispiel Englands ein definiertes Erfolgstool für Risikoschüler kopieren. Und es wäre kein Geschäftsmodell.
Das Start-up, das Thümler gegründet hat, ist nämlich non profit. Es soll nicht pekuniär skalieren, sondern alle benachteiligte Schülerinnen und Schüler erreichen. Ekkehard Thümler ist ein Fan von 100-Prozent-Schulen. Laut dem jüngsten Chancenmonitor gilt die Methode des systematischen Nachhilfe-Lernens durch Tutoren als verlässliches Mittel, kein Kind zurückzulassen. Alle anderen Versuche seit Pisa haben nicht gefruchtet. Und inzwischen sind die Lehrerzimmer viel zu leer, als dass Grundschulen allein ihre Risikoschüler gut fördern könnten.