Der Traum von 100-Prozent-Schulen

Thümler Regelstandard Grundschüler
Ekkehard Thümler: Wie viele Kinder sollten lesen, schreiben und rechnen lernen? Alle!

Von Ekkehard Thümler

Wie viele Kinder sollten am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: alle. Wie viele Kinder dürfen nach neun Jahren Unterricht die Schule verlassen, ohne lesen, schreiben und rechnen zu können? Auch hier ist die Antwort klar: keines. Wenn es um die Vermittlung grundlegender Kulturfähigkeiten geht, müssten alle Schulen 100-Prozent-Schulen sein.

Doch ist das nicht bloßes Wunschdenken und in der Praxis völlig unerreichbar? Absolut nicht. Schon heute gibt es Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen. Wenn wir uns an ihrem Vorbild orientieren, kann morgen für Grundschüler zum Standard werden, was heute nur in Ausnahmefällen gelingt.  

Die Applegarth Academy, in einem sozialen Brennpunkt im Süden Londons gelegen, war noch vor wenigen Jahren wegen ihrer schlechten Leistungen von der Schließung bedroht. Dann begann die Schule mit dem Schulentwicklungsprogramm Success for All (SFA) zu arbeiten. Es zielt darauf ab, dass wirklich alle Kinder lesen und schreiben lernen. Und tatsächlich erreichten bei nationalen Tests 90 Prozent der Applegarth-Schüler die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen, 30 Prozent sogar die höheren Standards. Schulen, die praktisch alle Kinder zum Erfolg führen, sind also kein Hirngespinst. Es gibt sie heute schon. 

40 Prozent der Grundschüler erreichen Regelstandards nicht

Die Wirklichkeit in den meisten deutschen Schulen sieht freilich anders aus. Die aktuelle Studie IQBBildungstrend stellt fest, dass mehr als 40 Prozent aller Kinder am Ende der Grundschulzeit die Regelstandards in Lesen verfehlen. In Mathematik sind es sogar 45 Prozent. Rund jedes fünfte Kind erreicht nicht einmal die Mindeststandards. Erfahrungsgemäß verschärfen sich diese Probleme im Lauf der Schulzeit. Wir bewegen wir uns also auf eine Situation zu, in der die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler nach 9 Jahren unzureichend lesen, schreiben und rechnen kann. 

Dieser Befund ist in Zeiten sinkenden gesellschaftlichen Zusammenhalts und wachsenden Fachkräftemangels so skandalös wie erschreckend. Eine größere gesellschaftliche und bildungspolitische Reaktionen löst er allerdings gar nicht mehr aus. Der Pisa-Schock wird gewissermaßen zur Routine. Zwar haben Staat und Behörden eine Vielzahl an Maßnahmen unternommen, um unsere Schulen besser und gerechter zu machen. Doch der gewünschte Erfolg blieb aus.

Dies hat eine fatale Wirkung: In Schulsystem und Gesellschaft ist der Eindruck entstanden, die Bemühungen seien an eine Decke des Möglichen gestoßen. Viel mehr als im Moment schon geschieht – so drückt sich die herrschende Ambitionslosigkeit aus -, sei eben nicht machbar. Ein derart erschöpftes Bildungssystem kann keinen neuen Aufbruch organisieren. 

90 Minuten täglich – damit alle Kinder lesen und schreiben können

Dabei haben Bildungs- und Innovationsforschung und viele erfolgreiche Schulen längst gezeigt, wie Bildungsinnovation gelingen kann. Es ist höchste Zeit, ausgestattet mit diesem Wissen eine Gegenoffensive mit einem ambitionierten Ziel zu starten: Dass möglichst alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit gut lesen, schreiben und rechnen können.

Träger einer solchen Initiative könnte ein Konsortium sein, das von einem Bundesland gemeinsam mit Partnern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft aufgebaut wird. So entstünde eine Koalition der Willigen, welche die für Innovation unverzichtbaren Freiräume, das Personal und die Finanzierung bereitstellen – und zwar nicht nur für eine begrenzte Projektphase, sondern dauerhaft. Ziel wäre es, ausgewählten Schulen die Mission aufzugeben, wirklich allen Kindern die Basiskompetenzen beizubringen. Sie sollten „100-Prozent-Schulen“ heißen. Das bedeutet, dass praktisch alle ihrer Schüler:innen die Regelstandards in Lesen, Schreiben und Rechnen erreichen müssen – zuverlässig und dauerhaft. 

Leicht zu bedienende digitale Diagnosetools

Die Umsetzung in den Schulen sollte die folgenden Bausteine beinhalten:

  1. Die neuen Prioritäten müssen sich im Stundenplan niederschlagen. Success for All etwa sieht für die Vermittlung von Lesen und Schreiben 90 Minuten Zeit vor – jeden Tag.
  2. Wirksame Förderung beruht auf einer gründlichen Diagnose des Lernstands der Kinder. Die Schulen müssen leicht zu bedienende, digitale Diagnoseinstrumente erhalten und lernen, sie regelmäßig anzuwenden.
  3. Der Unterricht muss zielgenau an den ermittelten Leistungsstand anknüpfen. Dafür ist die Bereitstellung von maßgeschneidertem Lernmaterial ebenso erforderlich, wie eine dauerhafte Schulung und Begleitung der Lehrkräfte.
  4. Weil auch der beste Unterricht niemals den Erfolg aller Kinder gewährleisten kann, muss ein zusätzliches Sicherheitsnetz geschaffen werden. Tutoring, also qualitativ hochwertige, individuelle Förderung in Kleingruppen, hat sich hierfür als besonders wirksam erwiesen.
  5. Die Schulen müssen auch alle sonstigen Barrieren erkennen und abbauen können, die Lernerfolg gefährden. Hierzu zählen etwa gesundheitliche Probleme oder Absentismus. Für diese Aufgabe ist die Unterstützung durch Sozialarbeiter und Psychologen erforderlich.   

100-Prozent-Schulen dürften keine isolierten Einzelschulen mehr sein. Sie wären in kleinen Schulverbünden organisiert und erhielten von Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft Unterstützung bei der Umsetzung einer gemeinsamen Mission. So könnten digitale Bildungsunternehmen dort ihr Knowhow einbringen und Angebote zur Diagnose und Förderung von Basiskompetenzen entwickeln. Auch die Zivilgesellschaft könnte helfen, etwa mit Lesepaten-Programmen, bei denen Freiwillige Kindern vorlesen, deren Eltern das nicht leisten können.

Es soll möglichst schnell besser werden

Dieses Programm hat eine Vision: Schulen sollen möglichst schnell und zugleich dauerhaft besser werden. Es will möglichst zügig ganz konkrete Verbesserungen der Schul- und Unterrichtspraxis erreichen. Wenn dieser Lernprozess erfolgreich ist, würden die Schulverbünde immer weitere Mitglieder aufnehmen und diese eng bei ihrem Transformationsprozess begleiten. So könnten Netzwerke aus 100-Prozent-Schulen zu Keimzellen für weitaus leistungsfähigere Schulen der Zukunft werden.

Wir haben heute eine Wahl. Bildungspolitik und Zivilgesellschaft müssen sich nicht länger mit den Grenzen des bisherigen Systems abfinden und auf kleinschrittige Verbesserungen setzen. Damit würden wir riskieren, dass auch in 20 Jahren noch die Hälfte der Kinder die Schule verlässt, ohne grundlegende Kulturtechniken zuverlässig zu beherrschen. Wäre es nicht besser, nein: notwendig, jede nur mögliche Anstrengung für die Zukunft der Kinder zu unternehmen? Und den Weg echter Transformation zu versuchen, um die Grenzen des Möglichen neu zu definieren? 

Der Weg zu 100-Prozent-Schulen ist kein leichter. Abkürzungen gibt es nicht. Dafür sind geduldige Anstrengungen erforderlich. Doch dieser Ansatz eröffnet eine echte Chance für die Entwicklung leistungsfähiger und gerechter Schulen für das 21. Jahrhundert. Die Weichen dafür sollten wir stellen. Heute. 

Ekkehard Thümler ist Senior Fellow des Centre for Social Investment der Universität Heidelberg und Gründer des Non-Profit-Bildungsunternehmens Tutoring for All. Er will das Success-for-All-Programm nach Deutschland holen. 

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